Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die (großen) Themen unserer Zeit.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, wie lange uns der Wohlstand, an den wir uns so gewöhnt haben, erhalten bleibt.
Lars Haider: Zwei Hörer unseres Podcasts haben vorgeschlagen, ob wir nicht einmal darüber sprechen können, was von unserem Wohlstand übrig bleibt angesichts der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine und den Bedrohungen des Klimawandels. Das ist eine wichtige und berechtigte Frage, ich glaube, dass zum ersten Mal, seit ich es überblicken kann, der Spruch nicht mehr gilt, dass es die Kinder in Deutschland einmal besser haben werden als ihre Eltern. Zumindest, wenn man Wohlstand so definiert, wie wir es in den vergangenen Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Ende des Zweiten Weltkriegs, getan haben.
Dieter Lenzen: Wir sollten den Anspruch, dass es unsere Kinder einmal besser haben als wir, nicht vorschnell aufgeben, aber wir sollten uns Gedanken machen, was wir eigentlich mit Wohlstand meinen. Es kann doch nicht sein, dass es nur auf das Einkommen ankommt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Wohlstand hatte gar nichts mit Geld zu tun, sondern mit dem Umstand, „dass es mir wohl ergeht“. Das hatte sicher auch eine ökonomische Komponente, aber im Kern ging es um etwas anderes, nämlich um eine Welt, in der es sich zu leben lohnt. Dabei spielen auch die Familie, Freunde und Kollegen am Arbeitsplatz, Natur, Kultur und Bildung eine Rolle. Es geht zum Beispiel darum, dass unsere Kinder mehr wissen und lernen als wir Eltern. Insofern haben wir viele Möglichkeiten, durch eine neue Definition von Wohlstand den Umstand zu kompensieren, dass der Wohlstand im ökonomischen Sinne seinen Höhepunkt erreicht und überschritten hat. Was das betrifft, sollten wir uns keine Illusionen machen.
Zumal wir einen Wohlstand erreicht haben, von dem man in den meisten Teilen der Welt nicht einmal träumen kann, den aber eben diese Teile nicht erreichen dürfen, wenn wir alle zusammen den Klimawandel noch aufhalten wollen. Soll heißen: Wir haben eine besondere Verantwortung, weil wir lange besser als und auf Kosten anderer Menschen gelebt haben.
Es gibt Berechnungen, die sehr klar sagen, dass der Planet Erde um das Jahr 2100 herum kollabiert, wenn nicht sofort die Massenproduktion von Gütern aller Art und die damit verbundenen Transporte reduziert werden. Wir müssen uns umstellen, aber das zu vermitteln, ist eine unglaublich schwierige Aufgabe.
Wie schwierig, zeigt sich, wenn man die nach dem vermeintlichen Ende der Corona-Pandemie stark steigende Zahl an Flügen und Flugreisen beobachtet. Das sieht danach aus, als würden die Menschen an die Zeiten vor der Corona-Pandemie anknüpfen wollen, obwohl alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, dass das eigentlich nicht geht. Die Bereitschaft, auf den Wohlstand und die damit verbundenen Errungenschaften zu verzichten, scheint mir geringer als vermutet.
Wir haben in Deutschland und vielen anderen westlichen Demokratien die Einstellung, dass aufkommende Probleme an Politikerinnen und Politiker delegiert werden können. Die sollen das bitte schön lösen, ich als Bürger komme darin nicht vor, meine Aufgabe ist allein, alle vier Jahre zu wählen. Das ist falsch, heute muss jeder Einzelne und jede Einzelne sich überlegen, was er oder sie dazu beitragen kann, unsere bedrohte Lebenswelt vor dem Untergang zu bewahren. Ich glaube wie Sie, dass das bei vielen Menschen nicht angekommen ist und dass es dabei bleibt: Wenn eine Dienstleistung wie Fliegen angeboten wird, dann wird sie auch gekauft, und das ist ein Problem.
Ich würde sogar noch weitergehen. Wir delegieren Probleme nicht nur an Politiker, wir haben auch das Gefühl, dass wir am Ende jedes Problem mit unserem Geld, von dem wir nach wie vor reichlich haben, lösen können. Ein einfaches Beispiel: Tanken wird teurer, also senkt der Staat die Steuern, und alle können weiter tanken. Aber damit ist das Problem ja nicht gelöst. Es kann nicht immer der Staat einspringen, wenn unser vermeintlicher Wohlstand in Gefahr ist.
Im Gegenteil, das ist eine sehr gefährliche Praxis, weil die Bürgerinnen und Bürger lernen: Es kann passieren, was will, am Ende kompensiert der Staat das alles, und wir müssen uns keine Sorgen machen und keinen Beitrag leisten. Das wird nicht funktionieren. Die heikle Frage ist, ob der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, wird fortbestehen können. Denn er ist auf Wachstum angewiesen, ein Wachstum, das wir uns in der bisherigen Form nicht mehr leisten können und dürfen.
Ich glaube, Sie haben den entscheidenden Punkt erwischt: Uns allen wurde vonseiten der Politik mindestens in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten das Gefühl vermittelt, dass wir uns nicht groß kümmern müssen, dass all das, was wichtig ist, schon für uns erledigt wird. Das ist vielleicht auch der Anspruch der Politik, dass sie den Menschen ihre Sorgen abnimmt und sich für sie um sie kümmert und den Wohlstand, so gut es geht, bewahrt. Aber spätestens jetzt wissen wir, dass wir so nicht weiterkommen.
Vielleicht brauchen wir, wie in den 70er-Jahren, wieder eine konzertierte Aktion, in der wir gemeinsam zum Beispiel über die Nutzung unserer Ressourcen und über notwendige Einschränkungen sprechen müssen.
Und wenn wir über unseren Wohlstand und dessen Zukunft sprechen, müssen wir auch die demografische Entwicklung im Blick haben. Um all die Dienstleistungen, an die wir uns gewöhnt haben, sei es im gastronomischen, sei es im medizinischen Bereich oder wo auch immer, in dem Umfang wie heute aufrechterhalten zu können, werden uns in den kommenden Jahren schlicht die Menschen fehlen. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den Ruhestand, und von unten kommend deutlich weniger Personen nach, allein für Hamburg wird mittelfristig eine Lücke von 176.000 Fachkräften vorhergesagt. Das ist eine unvorstellbare Zahl.
Deswegen werden wir uns auch daran gewöhnen müssen, wieder mehr zu arbeiten. Es wird nicht mehr gehen mit einer 38,5-Stunden-Woche, es sei denn, wir sind bereit, zwei, drei oder mehr Tage die Woche auf geöffnete Restaurants oder Arztpraxen oder Supermärkte zu verzichten, teilweise kann man so etwas ja schon jetzt erleben, dabei steht die große Welle der Pensionierungen erst noch bevor. Weil das so ist, darf es in der Diskussion um Arbeitszeiten keine Tabus mehr geben.
Zumindest nicht, wenn wir so weiterleben wollen wie bisher. Wir werden in der Woche länger arbeiten müssen, und wahrscheinlich wird es auch neue Debatten um den Beginn der Rente geben. Denn wir werden es uns schlicht nicht mehr leisten können, erfahrene Menschen mit knapp über 60 in den Ruhestand gehen zu lassen.
Auf jeden Fall wird sich vieles verändern. Nehmen wir das Beispiel Schulen. In dem Moment, in dem die Lehrer knapp werden, wird man die Klassen wieder größer machen müssen, was übrigens gar kein Problem wäre, weil es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, dass kleinere Klassen den Lernerfolg der einzelnen Schülerinnen und Schüler signifikant vergrößern.
Trotzdem werden viele Eltern nicht begeistert sein, wenn ihre Kinder plötzlich wieder mit 30 oder mehr Mitschülerinnen und Mitschülern in einer Klasse sind und die Lehrerinnen und Lehrer auch nicht.
Sie werden sich daran gewöhnen müssen, so wie wir uns alle an die Realität gewöhnen müssen. Das betrifft auch die sogenannte Work-Life-Balance, eine künstliche Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit in dem Sinne, dass das eine gut und das andere schlecht ist. Wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass Arbeit nicht nur ein materieller, sondern auch ein immaterieller Gewinn für unser Leben ist.
Das ist das, was ältere Menschen damit meinen, wenn sie sich darüber freuen, dass sie „noch gebraucht werden“. Und die Wahrheit ist: Sie werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gebraucht werden, und wie.
Das bedeutet auch, dass wir das bekämpfen müssen, was ich gern als Altersrassismus bezeichne. Die Disqualifizierung der Älteren muss endlich ein Ende haben, zumal wir wissen, dass es so etwas wie kristalline Intelligenz gibt, also eine Intelligenz, die sich erst über Jahre herausbildet, die unglaublich wichtig für Unternehmen und Gesellschaften ist. Dass wir auf die in der Vergangenheit bewusst verzichtet haben, war ein Skandal.