Abschied: Rund 3000 Kinder werden jährlich bundesweit tot geboren. Ihr Leben dauerte so lang wie das Aufblitzen eines Sternes, sagen die Eltern. Ein Hamburger Verein hilft den Müttern und Vätern, damit fertig zu werden.
Stille. Als Lucy geboren wurde, lag die Lautlosigkeit wie ein dunkles Tuch über dem Kreißsaal. Für den Bruchteil einer Sekunde war es vollkommen still, dann drangen die Geräusche langsam zurück in das Bewußtsein von Marion Walsh (31). Die Anweisungen der Ärzte, die Stimme der Hebamme, das Piepen der Monitore. Nur Lucy, die hörte sie nicht. Das Kind war still. Es hatte Abschied von der Welt genommen, noch bevor es sie kennenlernen konnte. Ihr Leben hatte mit dem Tod begonnen.
"Lucy Feddersen, weiblichen Geschlechts, ist am 17. April 2006 in Hamburg tot geboren", steht auf der Geburtsurkunde. Sie ist im Familienbuch abgeheftet, eine Seite vor Lucys Totenschein.
"Tot geboren" nennen es Mediziner, wenn ein Baby im Mutterleib oder während der Geburt stirbt und mehr als 500 Gramm gewogen hat (siehe Winkel), "still geboren" nennen es die Betroffenen. "Still geboren" oder auch "Sternenkind". Weil das Leben des Kindes so kurz war wie das Aufblitzen eines Sternes.
Rund 3000 Kinder werden jährlich bundesweit "still geboren", tot geboren. 3000mal bleiben Kinderwagen nach der Geburt leer, Wiegen verwaist, Sehnsüchte unerfüllt. 3000mal werden Hoffnungen zerstört, drohen Eltern an der Trauer zu zerbrechen. "Ich dachte, daß ich sterbe", sagt Marion Walsh aus Iserbrook. Zwölf Wochen ist es her, daß ihre Tochter Lucy in ihrem Bauch gestorben ist, in der 37. Schwangerschaftswoche. Irgendwann in der Osternacht hatten ihre Bewegungen einfach aufgehört, ihre Tritte gegen die Bauchdecke, ihr Herzschlag. Ihr Leben. "Als ich Lucy eine Zeit lang nicht mehr spürte und sie auch nicht ,aufwecken' konnte, wußte ich, daß etwas nicht stimmt", sagt Marion Walsh und erzählt, wie sie mit ihrem Mann Jan Feddersen (32) ins Krankenhaus gefahren ist und gehofft hat. Gebangt, gebetet. Bis zuletzt. Bis ihr die Ärzte gesagt haben, daß Lucy nicht mehr lebt. "Da hatte ich nur noch einen Wunsch: einen Priester zu sehen." Sie sei katholisch und habe die Bestätigung gebraucht. Die Bestätigung? "Das Lucy in den Himmel kommt", sagt sie leise, dann kommen die Tränen. Über die Geburt kann sie nicht sprechen. Jan Feddersen ist es, der erzählt. Wie die Wehen eingeleitet wurden und Lucy zwölf Stunden später zur Welt kam. In aller Stille.
"Mami, warum weinst du?" fragt Yana, die dreijährige Tochter von Marion Walsh und Jan Feddersen. Sie hat die ganze Zeit über zugehört, als ihre Eltern von Lucy erzählt haben, jetzt wird sie unruhig. "Nicht traurig sein. Lucy ist doch im Himmel", sagt sie und klingt erwachsen - zu erwachsen für eine Dreijährige. Sie weiß, daß ihre kleine Schwester krank war und in Mamis Bauch gestorben ist. Warum sie krank geworden ist, weiß Yana nicht, wissen ihre Eltern nicht. "Nabelschnurthrombose", steht in dem Obduktionsbericht. Ein Stück Papier, das die Erlösung brachte. "Daß Lucy ganz plötzlich gestorben ist und nicht leiden mußte", sagt Marion Walsh. Und: "Daß ich hoffentlich keine Schuld an ihrem Tod habe, nichts falsch gemacht habe."
Die Selbstvorwürfe sind das Schlimmste. "Daran droht man zu zerbrechen", sagt Kerstin Gosch (37) aus Niendorf. Sie hat im sechsten Monat ihr Kind verloren - Louise. Der Name steht auf einer Kerze im Wohnzimmer. Zur Erinnerung. Daß es jemanden in der Familie gibt, der fehlt. "Besonders schlimm ist es, wenn ich andere Kinder in Louises Alter sehe. Dann denke ich immer, das könnte mein Kind sein . . ." Und dann kommt die Erinnerung. An jenen heißen Sommertag vor drei Jahren, als plötzlich die Wehen einsetzten, in der 23. Woche. Viel zu früh. "Wenn das Kind jetzt kommt, hat es keine Chance", hat der Arzt gesagt. Ein paar Stunden später wurde Louise geboren. Still. Geburt und Tod, Tod und Geburt waren verschmolzen.
Obwohl es in dieser Situation für die meisten Eltern unvorstellbar ist, das Kind zu sehen, sei das für den Trauerprozeß unverzichtbar, sagt der evangelische Pastor Andreas Hausberg (49). Der Krankenhausseelsorger leitet zusammen mit zwei Hebammen die Initiative "still geboren" im Albertinen-Krankenhaus und betreut betroffene Eltern. "Die Erfahrung hat gezeigt, daß es für ein heilsames Abschiednehmen wichtig ist, eine Bindung zu dem Kind aufzubauen - es anzusehen, zu berühren." Das haben auch Kerstin und Rainer Gosch gemacht, Marion Walsh und Jan Feddersen. "Ich wollte mir alles ganz genau einprägen, damit ich es nie vergesse", sagt Rainer Gosch. Es sei ein bittersüßer Moment gewesen, ein Moment des Kennenlernens und des Abschieds. "Diese Stunden werde ich nie vergessen", sagt Marion Walsh. Und dann erzählt sie, wie sie mit Lucy geredet hat. Damit es nicht so still war.
Lucy und Louise haben Spuren hinterlassen. In den Herzen, auf der Erde. Im Krankenhaus wurden Fotos gemacht, Abdrücke ihrer Füße und Hände genommen. Für die Zeit, wenn die Bilder im Kopf verblassen, die Erinnerung schwindet. "Viele Eltern brauchen einen Beweis, daß das Kind wirklich existierte - für sich selbst, aber auch für die Umwelt", sagt Anja Wiese vom Verein Verwaiste Eltern.
Alle drei Monate veranstaltet der Verein eine Abschiedsfeier für Eltern von totgeborenen Kindern. Dann werden auf dem Friedhof Öjendorf all die Kinder beigesetzt, die nicht individuell bestattet werden. Allein seit Jahresbeginn hat die Verstorbenenannahme des Hamburger Krematoriums auf dem Öjendorfer Friedhof 150 Föten zur Beisetzung erhalten. Noch bis vor ein paar Jahren hätte sich die Spur vieler dieser Kinder verloren, wurden "still geborene" Kinder unter 1000 Gramm Körpergewicht oftmals als "ethischer Abfall" entsorgt, zusammen mit Blutkonserven, Organen und menschlichen Geweberesten. Erst seit 1999, seit der Änderung des entsprechenden Bestattungsgesetzes, können auch Fehl- und Totgeburten unter 1000 Gramm zusammen eingeäschert und bestattet werden.
Trauer braucht Raum. In der Halle 3 auf dem Öjendorfer Friedhof haben sich rund 30 Menschen eingefunden, um Abschied zu nehmen. Gemeinsam. "Lange saßen sie dort und hatten es schwer, doch sie hatten es gemeinsam schwer, und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht. (Astrid Lindgren)", steht auf den gelben Faltzetteln, in denen der Ablauf der Abschiedsfeier steht: Stille, Musik, Gebet, Musik, Sammeln in der Stille, Erinnerung, Segen, Lied, Gang zum Grab, Worte der Hoffnung, Bestattung, Abschiednehmen mit Briefen und Gaben.
Einige haben Blumen mitgebracht, andere Kuscheltiere, einen Kinderschuh. Liebesbeweise auf dem letzten Weg. Ein paar Hundert Meter sind es von der Halle 3 bis zur Kinderbegräbnisstätte. Abwechselnd tragen die Eltern den Korb mit der Urne. Auf einem Stein am Grab ist das Jahr der Bestattung eingemeißelt: 2006. Daneben liegen 2005, 2004. Auf kleinen Steinchen haben einige Eltern die Namen ihrer Kinder geschrieben.
Lucy und Louise sind nicht dabei. Sie sind alleine bestattet worden. "Wir wollten keinen anonymen Platz, sondern eine persönliche Stelle nur für uns, für Louise", sagt Kerstin Gosch. Am Wochenende gehen sie und ihr Mann oft zum Friedhof Niendorf, zu Louise. In einem Kinderwagen sitzt Theo (1), ihr Sohn. Irgendwann, in ein paar Jahren, werden sie ihm erzählen, daß er eine große Schwester hat. Ihr Name steht auf einer Granitplatte an der Lichtersäule, einer Grab- und Gedenkstätte für still geborene Kinder. In kleinen Einbuchtungen in der Säule stehen Gedenkkerzen. Von der Straße dringt Verkehrslärm herüber. Und durchbricht die Stille.
- Verwaiste Eltern Hamburg e.V., Telefon 040/45 00 09 15.
- Initiative "still geboren" Albertinen Krankenhaus, Telefon 040/55 88 24 09 (Pastor Hausberg).