Der Weg zur Macht – die Serie zur Kanzlerschaft des Hamburgers Olaf Scholz. Letzter Teil: „Noch zehn gute Jahre in der Politik.“

Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...

Um seinen 60. Geburtstag im Jahr 2018 herum sagte Olaf Scholz einen Satz, der wenig Beachtung fand: „Ich habe noch zehn gute Jahre in der Politik.“ Obwohl Scholz damals schon von Hamburg nach Berlin gewechselt und Bundesfinanzminister sowie Vizekanzler in der Großen Koalition war und begonnen hatte, seine Scholz-Story zu erzählen, bezog ich die Äußerung schlicht auf sein Lebensalter.

Bundeskanzler: An Olaf Scholz' Erfolgsgeschichte wird man sich noch lange erinnern

Es klang, als würde Scholz sich zutrauen, bis zu seinem 70. Lebensjahr Politik machen zu können, um seine Karriere dann auslaufen zu lassen. Aus heutiger Sicht, nach der Bundestagswahl 2021, ist der Satz auf jeden Fall falsch und meine Interpretation war es sowieso. Denn Olaf Scholz hat nicht noch ein paar gute Jahre in der Politik vor sich, es könnten die besten seines Lebens werden, auf jeden Fall werden es die wichtigsten.

Scholz war 63, als er Kanzler wurde, er wird 67 Jahre alt sein, wenn er sich zur Wiederwahl stellt, wovon ich fest ausgehe. Was danach passiert, ob er im Fall einer erneuten Legislaturperiode mit 71 aus der Politik ausscheidet, ob es bis dahin vielleicht eine Begrenzung der Amtszeit eines Kanzlers geben wird, man weiß es nicht. Interessant ist, dass Olaf Scholz inzwischen gesagt hat, dass man Politik mit Herz und tiefer Überzeugung machen müsse, weil man nur dann bis 60, 70 oder, Achtung!, 80 arbeiten könne …

Kein Blick zurück: Olaf Scholz interessiert nur das, was noch kommt

Olaf Scholz werkelt bereits an seiner Geschichte für die kommenden Jahre seiner Amtszeit. Damit hat er am Abend der Bundestagswahl begonnen. Als in der „Elefantenrunde“ der Parteichefs und Spitzenkandidaten bei ARD und ZDF die anderen noch über das Ergebnis und die Folgen debattierten, war Scholz schon viel weiter. Er sagte, angesprochen auf eine mögliche Ampel-Koalition und deren Zukunft: „Es geht um eine Regierung, die vernünftige Zielsetzungen hat und sich auch miteinander vornimmt, gut zu regieren. Durchaus mit einer Perspektive, dass man sagt: Wenn wir antreten zusammen, wollen wir auch gemeinsam wiedergewählt werden.“

Der Blick nach vorn ist der wichtigste, den Olaf Scholz kennt, da hält er es ganz mit Helmut Schmidt. Das Bemerkenswerteste an Schmidt, hat Scholz einmal gesagt, sei gewesen, dass er „praktisch bis zu seinem letzten Tag über die Zukunft nachgedacht hat. Das hat, denke ich, einen Teil seiner physischen Kraft ausgemacht bis ins hohe Alter.“ Für Scholz gilt das genauso. Was geschehen ist, ist geschehen, was ihn interessiert, ist das, was kommt. Er freut sich auch deshalb nicht besonders über Siege und hakt Niederlagen schnell ab, weil er daran nichts mehr ändern kann. Scholz fasziniert das, was er beeinflussen und gestalten kann, darüber denkt er nach. Wer sich als Bundeskanzler eine Strategie für eine Regierung mit anderen Parteien überlegt, wer Ziele festsetzt und diese erreichen will, muss zwangsläufig vom Ende her denken.

Die richtige Mischung aus Erfahrung und frischem Wind

Und das Ende ist die nächste Bundestagswahl, die voraussichtlich wieder eher so sein wird wie all die anderen vor 2021. Dann dürfte der amtierende Bundeskanzler wieder antreten, dann wird Olaf Scholz kein Politiker mehr sein, mit dem die Menschen nichts anfangen können. Im für ihn günstigsten Fall läuft es so wie einst in Hamburg, als die Menschen erst begannen, den Politiker Scholz zu verstehen, und daraus so etwas wie Wertschätzung ableiteten. Die Voraussetzungen für ihn werden auf jeden Fall gänzlich andere sein als 2021. Das gilt nicht nur für die Rolle als Außenseiter, die Scholz bereits zum Amtsantritt überwunden hatte, sondern auch für seine Stellung in der SPD.

Buchcover: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“ von Abendblatt-Chefredakeur Lars Haider.
Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“, 20 Euro, erhältlich in der Abendblatt- Geschäftsstelle (Großer Burstah 18– 32), im Buchhandel und auf abendblatt.de/shop. © Klartext Verlag | Unbekannt

Vergleicht man Olaf Scholz, Jahrgang 1958, mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, ist er alt. Vergleicht man ihn mit US-Präsident Joe Biden, Jahrgang 1942, ist er jung. Die Wahrheit liegt in diesem Fall nicht in der Mitte, sondern in der neuen Bundesregierung. Die hat, was das Alter angeht, die richtige Mischung: Christian Lindner (Jahrgang 1979) und Annalena Baerbock (Jahrgang 1980) waren noch nicht einmal geboren, als Olaf Scholz in die SPD eintrat. Scholz braucht die jungen Politikerinnen und Politiker in seinem Kabinett, um die Geschichte von der Erneuerung des Landes nicht nur inhaltlich, sondern auch personell unterfüttern zu können.

Die Chancen und Risiken der neuen Regierung unter Olaf Scholz

Die FDP und die Grünen brauchen Scholz, weil er das im Übermaß mitbringt, was die Vertreter der beiden kleinen Parteien nicht haben: Regierungserfahrung. Christian Lindner gilt seit Jahren als einer der profiliertesten politischen Köpfe des Landes, er hat oft und klug erklärt, wie man etwas besser machen sollte und könnte. Ein Staatsamt, das heißt echte Verantwortung, hat er bisher nicht gehabt. Der Beweis, dass er es kann, steht, wie bei den meisten Liberalen und Grünen, aus. Das ist Chance und Risiko zugleich.

Chance, weil neue, junge Ministerinnen und Minister anders führen, anders denken und handeln als die, die das teilweise schon gewohnheitsmäßig getan haben. Risiko, weil Ämter wie die des Finanzministers, des Außenministers oder des Verteidigungsministers keine Fehler verzeihen. Soll heißen: Es wird genügend Momente geben, in denen die neuen Regierungsmitglieder froh sein werden, einen „alten“ Kanzler mit dessen Erfahrung im Hintergrund zu haben.

SPD, Grüne und FDP könnten über nächste Bundestagswahl hinaus erfolgreich sein

Theoretisch ist die personelle Aufstellung an der Spitze der Bundesregierung eine, die einen Neuanfang mit Seriosität und Gelassenheit verspricht. Dass Olaf Scholz schon kurz nach der Bundestagswahl von einer Fortsetzung der Ampel-Koalition, die es zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in Ansätzen gab, über die kommende Legislaturperiode hinaus sprach, hat auch mit den Zielen zu tun, die die drei Parteien im Wahlkampf verfolgten. Das waren nämlich Ziele, vor allem wenn es um die Bekämpfung des Klimawandels ging, denen Vierjahrespläne nicht gerecht werden.

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Vieles, was die Ampel-Koalition sich vorgenommen hat, reicht weit in die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts hinein, die persönlichen Karrierepläne der Beteiligten tun das in der Regel ebenfalls. Der Anspruch von SPD, Grünen und FDP geht über die nächste Bundestagswahl hinaus. Das ist eine Chance für das Land, aber auch für die drei Parteien. Wenn sie es gut machen, wenn die Menschen in den kommenden Jahren das Gefühl haben, dass sie auf dem richtigen Weg sind, dann ist die Möglichkeit wirklich groß, dass es auf diesem Weg weitergeht. Das ist ein Erzählstrang der neuen Scholz-Story, ein anderer wird die Entwicklung der CDU/CSU sein, die nach der Bundestagswahl das vor sich hat, was die SPD nach dem Wahldebakel mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz 2017 erlebt hat.

Wie lange braucht die CDU, um die Ära Merkel hinter sich zu lassen?

Mit dem Unterschied, dass die Union sich in der Opposition erneuern muss. Was wie ein Vorteil klingt, weil man als Partei dort keine Rücksicht auf die Regierung nehmen muss, wäre für die SPD vor 2021 ein Nachteil gewesen. Wäre man nicht Partei in einer Großen Koalition gewesen, hätte Olaf Scholz sich nicht als Vizekanzler und Bundes­finanzminister als Merkel-Nachfolger etablieren können. Scholz wäre heute nicht Kanzler, sondern wahrscheinlich noch Bürgermeister und die SPD in der Opposition.

Wie es der CDU/CSU dort ergeht, wie lange sie braucht, um die Ära Merkel hinter sich zu lassen und einen Neufang zu beginnen, und was das für die politische Ausrichtung der Partei heißt, weiß heute niemand. Erholt sich die Union, die in ihrem Verständnis vor der Bundestagswahl die letzte verbliebene Volkspartei gewesen ist? Kommt sie, wenn man den richtigen Kanzlerkandidaten oder die richtige Kandidatin findet, wieder regelmäßig auf Ergebnisse von 30 Prozent plus x? Oder muss sich Deutschland wie andere europäische Länder an Dreier-bündnisse gewöhnen, in denen die bisher kleineren Parteien wie die Grünen und die FDP eine andere Rolle spielen, weil die größeren Parteien, wie die CDU und die SPD, geschrumpft sind?

Die Scholz-Story wird in die Geschichte eingehen

Olaf Scholz stellt sich auf dieses Szenario ein, und es macht ihm aus zwei Gründen keine Angst. Zum einen, weil er der erste Kanzler ist, der auf Bundesebene eine solche Konstellation zusammengebracht hat. Zum anderen, weil, wie er sagt, „die Große Koalition in Wahrheit auch eine Drei-Parteien-Koalition war“. Der 26. September war das Ende einer Legende, der Erzählung von einem Außenseiter, der beschloss, Kanzler zu werden, auch wenn es allen anderen unwahrscheinlich erscheinen mochte.

Die Scholz-Story wird in die Geschichte eingehen, auch und gerade weil sie sich so zugetragen hat, wie der Hauptdarsteller es angekündigt hat. Und weil man es immer noch kaum glauben kann. Der 26. September war auch der Beginn eines neuen Kapitels, in unserem Land genauso wie im Leben von Olaf Scholz. Was heißt hier: Kapitel. Wenn es gut läuft, wird daraus ein weiteres Buch.