Itzehoe. Im Prozess gegen eine ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof hat ein Historiker von den Verbrechen der SS berichtet. Doch die Verteidigung moniert, dass die Mordtaten gar nicht Teil der Anklage seien.
Nach achtwöchiger Unterbrechung ist der Prozess gegen eine ehemalige KZ-Sekretärin vor dem Landgericht Itzehoe mit einer weiteren Anhörung des historischen Sachverständigen fortgesetzt worden. Der Historiker Stefan Hördler zeigte am Dienstag anhand von Aussagen, die SS-Männer und Zivilbeschäftigte nach dem Krieg gemacht hatten, dass das Wissen über die Verbrechen im KZ Stutthof bei den Bediensteten weit verbreitet war.
Die angeklagte Irmgard F. soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur des deutschen Konzentrationslagers bei Danzig gearbeitet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft der 96-Jährigen vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an über 11.000 Gefangenen geleistet zu haben.
Die Angeklagte wurde am Dienstag wie zu den früheren Verhandlungsterminen im Rollstuhl in den Saal geschoben. Nach Angaben des Gerichts war sie mehrere Wochen erkrankt gewesen. Dennoch wirkte sie nicht geschwächt und verfolgte die Verhandlung aufmerksam.
Hördler wurde zum siebten Mal vom Gericht angehört. Unter den Nachkriegsaussagen, die er vorstellte, war die eines ehemaligen Wachmanns. Dieser Zeuge hatte 1976 berichtet, er habe gesehen, wie Häftlinge von SS-Männern in einen Raum getrieben wurden und nicht wieder herauskamen. Sie könnten vergast worden sein. "Im Kameradenkreis war bekannt, dass Vergasungen stattfanden", sagte ein anderer SS-Mann 1967 aus. Mehrere Zeugen berichteten, dass der Gestank aus dem Krematorium kaum zu ertragen gewesen sei und sich über das gesamte Dorf Stutthof ausgebreitet habe.
Verteidiger Wolf Molkentin warf dem Sachverständigen Parteilichkeit vor. Die Exekutionen und Erhängungen in Stutthof bekämen in Hördlers mündlichem Vortrag eine unangemessene Prominenz. "Die Haupttaten sind furchtbar, und da gibt es kein bisschen davon abzustreiten", betonte Molkentin. Sie seien aber nicht Gegenstand der Anklage. Damit bezog sich der Verteidiger auf den Beihilfevorwurf, der den Kern der Anklage gegen Irmgard F. darstellt. Schon zu Prozessbeginn hatte Molkentin erklärt, dass seiner Mandantin nachgewiesen werden müsse, dass sie einen maßgeblichen Beitrag zu den Mordtaten leistete und diesen auch leisten wollte.
Der Verteidiger bemängelte, dass der Historiker die Uhrzeit einer Schießerei, bei der zahlreiche Häftlinge in Sichtweite der Lagerkommandantur getötet worden waren, nicht genannt hatte, obwohl sie in dem Dokument stehe. Der Zeuge habe nämlich 22.00 Uhr angegeben. Zu dieser Uhrzeit habe seine Mandantin das Verbrechen nicht mehr mitbekommen können. Der Gutachter dürfe nicht nur belastende Indizien vortragen, sagte der Verteidiger.
Der Vorsitzende Richter Dominik Groß nahm den Historiker in Schutz. Dessen Aufgabe sei es, den Prozessbeteiligten Wissen über das Konzentrationslager zu vermitteln. Die Richter müssten entscheiden, was davon juristisch relevant sei. Er werde aber darüber nachdenken, ob er - wie vom Verteidiger gefordert - eine "Anleitung" des Sachverständigen vornehmen sollte. Es war nicht das erste Mal, dass die Verteidigung den Gutachter kritisierte.
Nach einer Verhandlungspause skizzierte der Historiker den Lebenslauf der Angeklagten vor ihrem Dienst im KZ. Demnach wuchs sie in einem Dorf bei Marienburg (Malbork) auf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitete sie in der örtlichen Filiale der Dresdner Bank, bei der die SS-eigenen Deutschen Ausrüstungswerke ihre Konten hatten. Nach ihrem Dienstantritt im Konzentrationslager habe die Angeklagte wahrscheinlich in einer Unterkunft in der Lagerkommandantur gewohnt. Die Strecke von Marienburg nach Stutthof wäre damals zum Pendeln zu weit gewesen.
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