Hamburg. Der Architekt und Bürogründer Caspar Schmitz-Morkramer hat ein Buch über Nachhaltigkeit des Bauens geschrieben und tadelt die Branche.
Seit Jahrzehnten diskutiert die Welt, wie dem Treibhauseffekt beizukommen ist und der CO2-Ausstoß verringert werden kann. Stets geht es in den Debatten um den Autoverkehr als Verursacher, die Industrie oder Kraftwerke. Der größte Kohlendioxid-Sünder hingegen spielt kaum eine Rolle. Rund 40 Prozent der Emissionen, manche sagen sogar 50 Prozent , verursachen Gebäude. Und rund die Hälfte dieses CO2-Fußabdrucks entsteht schon, bevor die ersten Bewohner einziehen. Allein eine Tonne Beton schlägt bei Produktion und Verarbeitung mit einem Ausstoß von 350 Kilogramm CO2 zu Buche.
Dieses Thema treibt den Architekten und Vordenker Caspar Schmitz-Morkramer schon lange um und hat ihn motiviert, ein Buch zu schreiben. „Der Nachhalt“ heißt das frisch erschienene Werk und enthüllt unbequeme Wahrheiten: Bis 2020 etwa hat die Industrienation Deutschland so viel Kohlendioxid ausgestoßen wie ganz Südamerika und Afrika zusammen. Während nun hierzulande der Ausstoß heruntergefahren wird, holen andere Länder in beängstigender Weise auf: China allein hat zwischen 2011 und 2013 so viel Zement verbraucht wie die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Schmitz-Morkramer sammelt Daten und Zahlen, die nachdenklich machen.
Wohnungsbau: Bislang geschieht in Büros und beim Gesetzgeber zu wenig
„Nachhaltiges Bauen hat mich schon im Studium beschäftigt“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter des Büros caspar., das in Köln, Hamburg und in einem firmeneigenen Thinktank außerhalb von Düsseldorf insgesamt 115 Mitarbeiter beschäftigt. Im Abendblatt-Podcast „Was wird aus Hamburg?“ gibt er sich selbstkritisch. „Ich habe in der beruflichen Praxis oft erlebt, dass wir als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet sind – also die großen Ziele kaum umsetzen konnten.“ In den vergangenen Jahren ist ihm deutlich geworden, dass das Thema immer dringlicher und wichtiger geworden sei. „Wir dachten, wir haben viel getan“, sagt der Vater von vier Kindern. „In Wahrheit aber haben wir viel zu wenig gemacht.“
Das gelte nicht nur für ihn als Bürogründer, sondern für die gesamte Branche. „Dabei haben wir Architekten eine große Verantwortung und große Möglichkeiten. Wenn bis zu 50 Prozent der CO2-Emissionen aus der Baubranche stammen, sitzen wir an der Steuerungseinheit und haben die Hebel in der Hand.“ Jeder müsse seinen Beitrag leisten. Bislang geschehe in den Büros, bei den Bauherren, aber auch beim Gesetzgeber viel zu wenig. „Wenn wir beispielsweise über die Energieeinsparverordnung sprechen, blicken wir nur auf den Verbrauch fertiger Gebäude, aber nicht, woher die Energie für ihren Bau stammt.“ Diese graue Energie mit einem Anteil von rund 50 Prozent komme in den Debatten zu kurz. „Wir haben wesentliche Aspekte außen vorgelassen und in der Gesetzgebung weder berücksichtigt noch Anreize für einen Kurswechsel geschaffen.“ Der 49-Jährige ist sich sicher: „Wir hätten erhebliche Kosten sparen können, wenn wir energieeffizienter und vorausschauender gebaut hätten.“
Schmitz-Morkramer warnt vor Überregulierung
Stattdessen wachsen die Ansprüche und Standards bis heute weiter. Seit Jahren beispielsweise nimmt die Grundfläche zu, die jeder Deutsche für sich beansprucht – von rund 30 Quadratmetern vor 30 Jahren auf nunmehr bald 45 Quadratmeter. „Auch unsere Komfortwünsche steigen. Als ich anfing, war beispielsweise die Kühlung bei Bürogebäuden das technologische Maximum, heute ist auch die Lüftung Standard. Die Frage aber, ob diese Vollausstattung wirklich notwendig ist, stellen wir kaum. Wir statten unsere Häuser aus, dass sie im Extremfall von minus 20 oder plus 35 Grad optimal funktionieren. Wenn wir etwas kompromissbereiter wären, könnten wir viel graue Energie sparen“, sagt Schmitz-Morkramer. „Wir müssen wieder abspecken.“ Er will den technischen Fortschritt keineswegs verdammen, fordert aber verstärkt einfachere Lösungen. „Unsere Bauherren haben den Wandel der Zeit verstanden und verlangen danach“, sagt er. In Hamburg hat sein Büro beispielsweise das neue Geschäftshaus am Ballindamm errichtet und den Neuen Wall 69 und das Alte Klöpperhaus am Rödingsmarkt revitalisiert.
Im Gespräch warnt Schmitz-Morkramer vor Überregulierung – auch im Wohnungsbau. „Manchmal können wir selbst an Orten, an denen schon seit 150 Jahren Menschen leben, keine neuen Wohnungen bauen – mit der eigenartigen Begründung, dort seien die Emissionen zu hoch. Wir müssen mehr Freiheit und mehr Experimentierlust wagen.“ Im Ausland sei man häufig mutiger. „Oft lassen unsere Gesetze Experimente gar nicht zu.“ Der österreichische Architekt Dietmar Eberle etwa hat schon vor einem Jahrzehnt in Vorarlberg das „Haus 2226“ gebaut – ohne Kühlung, Heizung und Lüftung. „Seit 2013 wird das Gebäude genau analysiert, an wie vielen Tagen das Büro kälter als 22 Grad oder wärmer als 26 Grad ist. Das Ergebnis: Es ist nur an ganz wenigen Sommertagen etwas heißer – aber nie zu kalt.“
Ambitionierte Ziele sieht der 49-Jährige kritisch
Der 49-Jährige fügt noch ein weiteres Beispiel an: Ein Schweizer Untersuchung hat gezeigt, dass bei einem Vergleich zweier parallel errichteter Wohnungsbauprojekte ein Passivhaus nur marginal weniger Energie verbraucht als der Standardbau – aber ungleich aufwendiger im Betrieb und energieintensiver im Bau ist. „Passivhäuser funktionieren nur, wenn sich alle Bewohner an die Regeln halten, etwa auf das manuelle Lüften verzichten. Der Faktor Mensch ist das zentrale Thema. Aber das vergessen wir manchmal.“
Deshalb sieht er die ambitionierten Ziele beim Wohnungsbau kritisch. Die Berliner Koalition will jährlich 400.000 Wohnungen bauen. „Hast, Aktionismus und kurzfristiges Denken waren schon immer der Feind des Nachhaltigen“, warnt der Architekt. „Wir gucken uns zu viele Themen rein quantitativ an – aber nicht mehr qualitativ auch im Sinne der Stadtgestaltung.“
Nachhaltigkeit erfordert alle Lebenszyklen im Blick zu haben
400.000 Wohnungen verlangten geradezu eine Qualitätsdebatte, nämlich wie und wo Menschen in Zukunft leben wollen. „Es gibt große Gebiete in Deutschland, in denen wir massiven Leerstand beklagen. Warum fragen wir nicht, warum dort keine Menschen leben wollen, wie man diese Regionen etwa über die Infrastruktur wieder aufwerten kann?“, fragt der Architekt, der seit 2004 selbstständig ist. „Benötigen wir wirklich noch neue Wohnungen in Düsseldorf, oder sollten wir nicht eher schauen, warum in Krefeld so viel Leerstand herrscht?“ Auch dabei gehe es um Nachhaltigkeit. „Es kann nicht sein, dass wir in Deutschland nur noch wenige Zentren haben, in denen alle leben wollen.“
Nachhaltigkeit erfordere zudem, die gesamten Lebenszyklen in den Blick zu nehmen. Schmitz-Morkramer wünscht sich unkompliziertere Bauten und mehr Wiederverwertung im Falle eines Rückbaus. „Heute bauen wir so, dass alles zu Abfall wird. Dabei stecken viele wertvolle Materialien in einem Bau.“ Sein Büro arbeite an einem Kataster mit, das zukünftig genau erfasst, welche Stoffe verbaut werden, welche Emissionen anfallen und welchen Wert sie bergen. Neue Chancen sieht er in neuen Materialien. So könnten Algen am Gebäude CO2 binden. Holz sei ein interessanter und faszinierender Baustoff, aber nicht der Königsweg – auch aufgrund seiner begrenzen Verfügbarkeit und der statischen Fähigkeiten. Deshalb werde Beton aufgrund seiner Langlebigkeit und Vielseitigkeit noch benötigt.
Zentraler Schlüssel ist Energiewende
Der Autor des „Nachhalt“ macht sich keine Illusionen – der Weg zum klimaneutralen Bauen wird ein weiter sein. „Wir haben schon einiges erreicht, aber noch viel mehr vor uns. Wäre das Ziel Klimaneutralität ein Marathonlauf, haben wir erst 500 Meter geschafft.“ Ein zentraler Schlüssel ist für Schmitz-Morkramer die Energiewende. „Wenn es uns nicht gelingt, die Versorgung konsequent umzustellen, wird es schwierig.“ Es ärgert ihn, dass Deutschland seinen Vorsprung bei der Solar- und Windenergie verspielt hat. „Allein mit diesen Techniken werden wir unser dicht besiedeltes Land aber nicht versorgen können. Wir brauchen neue Technologien.“
Schmitz-Morkramer befasst sich als Autor nicht nur mit Nachhaltigkeit, sondern auch mit der Zukunft der Innenstädte. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Retail in Transition“. „Das ist für uns ein wichtiges Thema, weil die Digitalisierung des Handels für unsere Innenstädte große Veränderungen bedeutet. Als Architekten sollten wir diese Veränderung mitgestalten.“ In seinem Buch fordert er: „Der Code der Städte muss gehackt – und umprogrammiert werden.“ Bislang habe es vor allem Monokulturen in den Citys gegeben, die Straßen waren rein auf Handel ausgerichtet. „Viele Städte sind nach Geschäftsschluss menschenleer. Sonnabend drängeln sich dort die Passanten – und sonntags sind sie verwaist. Sind das die Städte, in denen wir leben wollen?“
Was wird aus Hamburg? Große Chance durch Verkehrsberuhigung
Die Krise birgt die Chance, die City wieder attraktiver zu machen, sie für die Menschen zurückzugewinnen. „Gerade Hamburg hat großes Potenzial, weil die Stadt wunderbar angelegt ist und die Binnenalster hat. Noch ist die Nutzungsvielfalt leider viel zu gering.“ Es gelte, die lange Zeit gültige städtebauliche Charta von Athen mit ihrer Trennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit endlich zu überwinden. „Gerade der Mix macht Urbanität aus. Deshalb benötigt Hamburg viel mehr Wohnungen.“ Und fügt hinzu: „Das Mittelalter brauchte keine Pendlerpauschale.“
Auch die Verkehrsberuhigung ganzer Straßenzüge birgt große Chancen für das Stadtbild. Elektromobilität, Carsharing und autonomes Fahren senken die Geräuschbelastung, die Luftverschmutzung und die Zahl der Autos, große Parkflächen können entfallen. „Der öffentliche Raum muss in den Fokus rücken: Da ist viel Platz für breitere Bürgersteige, mehr Außengastronomie, mehr Grün, auch Spielplätze, um Innenstädte attraktiv für Familien zu machen. Das alles schafft Lebendigkeit. Wir müssen uns daran gewöhnen, nicht mehr überall mit dem Auto vorzufahren“, sagt Schmitz-Morkramer. Und definiert ein Ziel, das ähnlich verlockend und ambitioniert klingt wie Nachhaltigkeit: „Wir müssen es schaffen, aus unseren Städten wieder Sehnsuchtsorte zu machen.“