Der Islam gehört zu Deutschland, sagt die Kanzlerin. Und er gehört zu Hamburg. 130.000 Muslime leben hier. Das Abendblatt stellt vier von ihnen vor.

Ferhat Ahmadi, 35, Polizist

Eigentlich geht es nur um eine Kippe und 15 Euro. Seit 20 Minuten steht Ferhat Ahmadi (Name geändert) gemeinsam mit seiner Kollegin auf dem Bahnsteig unter dem Jungfernstieg. Ahmadi trägt seine Polizeijacke aus Leder, am Gürtel die Dienstwaffe und die Handschellen. Vor ihm steht dieser große Mann, der immer wütender wird. Die Wachen der Hochbahn haben ihn angehalten, weil er am Gleis geraucht haben soll.

Die nächste U-Bahn fährt ein. „Jetzt sehen die Kinder hier wieder den großen Mann mit dunkler Hautfarbe, umkreist von der Polizei. Jetzt sehen sie wieder den bösen Schwarzen“, schnaubt der Mann. Ferhat Ahmadi hört zu, fasst den Mann ruhig am Arm und antwortet: „Und dann sehen die Kinder mich in der Uniform daneben und schon ist das wieder lustig.“ Sie sehen ihn, den Afghanen in der Polizeijacke und mit Dienstmütze, mit schwarzem Vollbart und dunklen Augen. Ferhat Ahmadi bricht gerne mit Klischees.

Ahmadi ist 35 Jahre alt, er spricht Hamburger Schnack. Er sagt „Pordugiesenvüddel“ und „Moin“. Als er fünf war, floh seine Familie aus Afghanistan. In Mümmelmannsberg wuchs Ahmadi auf – als einer unter vielen Muslimen in dem Viertel im Osten Hamburgs. Mit 16 Jahren bekam Ahmadi die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Familie lebt nach den Regeln des Islam. Sie fasten an Ramadan, sie beten, besuchen die Moschee. Irgendwann aber wuchs Ahmadi aus den Traditionen seiner Familie heraus. Für ihn sei die Freiheit als junger Mensch wichtiger gewesen als die Pflicht zum Gebet, sagt er heute. Und irgendwann auch die Partys und die Freundin.

Zurück aus der Bahnstation sitzt Ahmadi wieder im Streifenwagen. An diesem Vormittag ist in der Hamburger Innenstadt nicht viel los. Kriminalität ist ein Geschäft der Nacht. Plötzlich aber knistert das Funkgerät. Eine Schlägerei auf der Reeperbahn, angeblich 15 Personen verwickelt. „Vierzehndrei, bitte übernehmen!“ Ahmadis Kollegin schaltet Sirene und Blaulicht an, vorbei an Ampeln und Autos rasen sie dem Kiez entgegen.

Ahmadi zieht seine Handschuhe an. Die Sirene ist im Polizeiwagen nur dumpf zu hören. Vorhin hat Ahmadi noch erzählt von seinen ersten Tagen bei der Polizei. Dass er die Uniform mit Stolz trage. Es ist nur ein Kleidungsstück, aber für ihn bedeutet es auch ein Ankommen in Deutschland. Es ist ein Zeichen des Respekts. Der Anerkennung. Nicht nur seiner Geschichte als Flüchtling aus Afghanistan, sondern auch für seine Leistung: Fitnesstests, Intelligenztests, Auswahlgespräch. Alles bestanden.

Für seine Kollegen auf der Wache hält er eine Vortragsreihe über den Islam

Nach der Schule hatte Ahmadi eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht. Irgendwann wollte er nur noch raus aus dem Büroalltag. Jetzt ist Ahmadi Polizeikommissar und unterwegs auf Streife in Richtung Reeperbahn.

In der Kiez-Kneipe Zum Goldenen Handschuh aber prügelt sich niemand. Männer am Tresen trinken ihr Vormittags-Pils. Draußen ruft ein Mann vom Balkon: „Ihr seid zu spät.“ Ahmadi und die Kollegen brechen auf. „Keine Feststellung“, gibt Ahmadi über Funk an. Der Blutdruck sinkt.

Es ist einer dieser vielen Einsätze, bei denen egal ist, dass Ferhat Ahmadi einen Bart trägt und Muslim ist. Er könnte auch Herr Meyer aus Lübeck sein oder Herr Schmidt aus Bielefeld. Prügeln sich wilde Kerle auf dem Kiez, interessiert seine Geschichte nicht.

Auf der Wache nennen sie Ahmadi nur „Katze“. Den Spitznamen gab ihm sein erster Chef, als er noch in der Ausbildung in Wilhelmsburg war. Erster Einsatz, gleich der Klassiker: Katze auf Baum. Und Ahmadis Chef sagte: So, nun lass dir mal was einfallen. Also überlegte Ahmadi, dann kletterte er los. Und der Chef lachte sich ins Fäustchen.

Aber es gibt Einsätze, da öffnet seine Geschichte Türen. Allein schon durch die Sprache. Nicht selten spricht Ahmadi mit Afghanen im Einsatz auf Farsi, wenn sie die Fragen der Beamten nur brüchig auf Deutsch beantworten können. „In Einsätzen bei muslimischen Familien kenne ich ihre Kultur, aber auch ihre Ängste vor der Polizei.“ Ahmadi ist dann Vermittler in Uniform.

Als er noch bei der Bank gearbeitet hat, interessierte niemanden, woher er kam und was sein Glaube bedeutet. Die Polizei aber, sagt Ahmadi, habe nach Leuten wie ihm gesucht. Und wenn Kids auf dem Kiez Stress machen, spricht Ahmadi die Sprache der Straße, die er aus Mümmelmannsberg kennt. Er sagt oft „Du“ zu den Jugendlichen oder „Ey, Digger“, wenn ihm etwas nicht passt. Es ist seine Einsatzstrategie. „Die müssen das Gefühl haben, wir reden auf Augenhöhe. Nur dann respektieren sie dich.“ Wirkt das nicht, wird Ahmadi ernster. Das „Digger“ verschwindet dann aus seiner Sprache.

Und da ist der Terror, der nichts mit Ahmadis Geschichte zu tun hat und doch immer eine Nebenrolle spielt. Manchmal sogar die Hauptrolle. Wenn die Medien über islamistische Attentate berichten, fragen die Kollegen auf der Wache: Was hat das mit dem Koran zu tun? Und warum bekämpfen sich Sunniten und Schiiten? „Nach den Attentaten von Paris fing alles wieder von vorne an“, sagt Ahmadi. Die Vorurteile, das Rechtfertigen, das Erklären.

Als im Winter die Wutbürger in Dresden gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes demonstrierten, wuchs die Wut auch bei Ahmadi. Wieder schieben die Demonstranten mit ihren Parolen alle Muslime in die Terroristen-Ecke. Seine Familie, sagt Ahmadi, habe schon Angst gehabt. Also entschloss er sich, einen Vortrag für seine Kollegen vorzubereiten, ein paar Folien, mehr nicht. Er beantwortete Fragen zum Islam und erklärte, dass die Salafisten vor allem eine Jugendbewegung seien. So wie die Punks. „Die wollen mit ihrem extremen Auftreten provozieren.“ Mittlerweile ist eine kleine Vortragsreihe auf der Wache daraus geworden.

Als Polizist setzt Ahmadi den Rechtsstaat durch, den manche radikale Muslime gerne durch die Scharia ersetzen möchten. Als Vorzeige-Muslim möchte Ahmadi aber nicht gelten. Nur weil er einen Beamtenjob hat, und weil er nicht mehr fünfmal am Tag betet. „Ich habe großen Respekt vor Menschen, die ihre Religion in Einklang mit dem Leben in Deutschland bringen.“

Ein Vorbild möchte Ahmadi sein. Dafür, dass man es auch mit dunklem Bart in dieser Stadt zu etwas bringen kann. Dafür, dass man es mit einem fremdklingenden Namen durch harte Auswahlgespräche schafft. Und dass ihm die Geschichte seiner Familie im deutschen Alltag manchmal sogar einen Vorteil verschafft.

Die Nachteile kommen, wenn die Uniform weg ist. Die skeptischen Blicke der anderen in der Bahn kehren zurück, die Sprüche gegen sein Aussehen, seine Herkunft. Als Ahmadi mit seiner Freundin eine Wohnung in Bergedorf besichtigte, dachte der Vermieter: „Oh nein, jetzt kommen die Islamisten.“ Das hat er Ahmadi später erzählt. Irgendwann auf diesem Termin sagte Ahmadis Freundin dann: „Mein Freund ist Polizist.“ „Wie? Der?“ Für seine Vorurteile habe sich der Vermieter entschuldigt. Sie bekamen die Wohnung.

Und so möchte Ferhat Ahmadi auch zeigen, dass man sich behaupten kann gegen Beschimpfungen und Ausgrenzung. Einmal war er nachts auf Streife unterwegs in der Innenstadt. Ein Mann habe einen Blumentopf vor der Europa-Passage kaputt getreten, hieß es über Funk. Vor Ort fauchte der Mann ihn an: „Von Dir Kanaken lasse ich mir nichts sagen.“ Ahmadi stellte eine Anzeige wegen Beleidigung. Der Mann zahlte 500 Euro Strafe.

Asma Sakouhi, 29, Sozialarbeiterin

Sozialarbeiterin Asma Sakouhi im Schanzenviertel Foto: Marcelo Hernandez
Sozialarbeiterin Asma Sakouhi im Schanzenviertel Foto: Marcelo Hernandez © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Mahmut kniet auf dem Holzboden. „Ich bin Mahmut. Ich komme aus Afghanistan.“ Dann stößt ihn der Mann vor ihm zur Seite. Mahmut taumelt, Menschen laufen an ihm vorbei, bekleben seine Brust und seinen Rücken mit weißen und gelben Zetteln. Ausländer. Kanake. Bombenleger. Terrorist. Muslim. Das alles klebt an seinem Körper. Die Passanten schlagen ihn mit Vorurteilen. Mahmut strauchelt.

„Drei, zwei, eins, freeze!“, ruft Asma Sakouhi in Richtung Bühne. „Das war schon super. Vielleicht noch etwas schneller.“ Hier, im Dachgeschoss eines Altonaer Jugendvereins, proben die jungen Männer aus Afghanistan ihr Theaterstück, das sie bald im Thalia Theater aufführen wollen. Durch das Fenster zum Innenhof schimmert die Sonne. Sakouhi und ihre Freundin Neriman Kuştul organisieren die Übungsräume, bringen Brötchen und Saft mit, leiten die Proben. In ein paar Wochen ist der große Auftritt, der Stress nimmt zu. Aber in ruhigen Momenten sagt Asma Sakouhi: „Manche dieser Vorurteile habe ich auch erlebt.“

Zwei junge Frauen führen Regie unter Männern. Schon viele Jahre setzen sich Sakouhi und Kuştul für Flüchtlinge ein. Sie haben sogar einen Verein gegründet. „Imani“ heißt er. Es ist eine Abkürzung aus fünf Worten aus fünf Sprachen, und es heißt übersetzt: unbegrenzte Unterstützung aller bedürftigen Menschen. Es steckt viel Idealismus in dem Namen. Und die zwei Frauen meinen das auch so. „Wir wollen aufbrechen. Wir wollen etwas verändern“, sagt Sakouhi. Für die Flüchtlinge, aber auch gemeinsam mit den Flüchtlingen. „Der Glaube ist dabei unser Fundament.“ Von ihrer Kulturarbeit möchten sie irgendwann leben können.

Flüchtlinge? Asma Sakouhi findet das Wort nicht schön. Es klingt nach Frischlingen oder Setzlingen. Jedenfalls nach Dingen. Sie sagt lieber: geflohene Menschen. Begriffe sind Schubladen. Die Flüchtlinge. Die Deutschen. Die Muslime. Und die Menschen mit Migrationshintergrund. Wieder so ein Begriff, den Sakouhi nicht mag. „Was ist das eigentlich, dieser Migrationshintergrund? Oder Migrationsvordergrund? Oder Nebengrund?“

Noch verdient Sakouhi ihr Geld mit Nachhilfeunterricht. Oft spricht sie mit der Klarheit einer Grundschullehrerin. Manchmal malt sie mit ihren Sätzen schöne Bilder in die Luft. „Eine Rose riecht ja immer gleich, egal ob rot oder weiß.“ Auf die Oberfläche kommt es nicht an.

Begriffe sind Schubladen. Aber Menschen haben ihre Kleidung im Schrank verteilt. Die Socken sind im Fach unten, die Hemden oben, die Hosen in einer anderen Schublade. Asma Sakouhi sagt: „Ich bin Muslimin. Ich bin aber auch Frau, ich bin Hamburgerin.“ Ein Jahr hat sie auch schon in Tansania gelebt und Menschen unterrichtet, die nie eine Schule besucht haben.

Sakouhi sitzt auf einem Hocker in ihrem Zimmer. An der Wand hängt ein Bild der Kaaba in Mekka, die Pilgerstätte der Muslime, im Schrank stehen Bücher über Kulturwissenschaften neben Büchern über den Koran. Sakouhi hat Frühstück in ihrem Zimmer aufgedeckt. In der Wohnung mitten in der Sternschanze lebt sie gemeinsam mit ihrer Mutter, ihr Vater starb vor ein paar Jahren. Schon als Kind hat sie mit ihren beiden Schwestern und den Eltern in der Schanze gelebt. Sie kamen vor vielen Jahren aus Tunesien nach Deutschland. Asma Sakouhi ist in Hamburg geboren. „Das ist meine Heimat“, sagt sie.

Als sie 20 Jahre alt war, wurde der Glaube in ihrem Leben wichtiger. Und sie wollte das auch zeigen. Also zog sie sich eines Tages ein Kopftuch über. Als Einzige in ihrer Familie. Und morgens sagte die große Schwester zu ihr: „Ist das dein Ernst?“ „Ja“, sagte Sakouhi. „Ok. Alles klar.“ Thema durch, zumindest in der Familie.

Nicht auf der Straße, nicht an der Uni, nicht in der Bahn. Begriffe wie Muslim oder Migrationshintergrund sind Schubladen. Das Kopftuch aber öffnet einen einzigen, unverrückbaren Schrank voller Vorurteile. Unterdrückt. Rückständig. Ungebildet. Als Sakouhi noch Sozialpädagogik in Lüneburg studierte, saß sie in der Bahn auf dem Weg nach Hause. Sie las ein Buch für das Seminar, als eine ältere Frau zu ihr sagte: Wissen Sie, ich finde es ganz toll, dass Sie lesen. „Ja, finde ich auch“, hat Sakouhi geantwortet.

Eine App auf dem Handy zeigt ihr an, wann sie beten muss

Früher hat sie sich ab und zu die Frauen-Zeitschrift „Emma“ gekauft. Sie wollte wissen, wie die Kopftuch-Gegner um Alice Schwarzer argumentieren. Heute sagt Sakouhi: „Die größte Unterdrückung ist, dass man als Frau immer beweisen muss, dass mich das Kopftuch nicht unterdrückt.“ Und auch andere Muslime sagen ihr manchmal: „Du übertreibst mit dem Kopftuch.“ Ob das denn sein müsse? „Ja, das muss“, sagt Sakouhi. Weil das zu ihrem Glauben dazugehöre. Für sie ist das Kopftuch Alltag. Wie die Hose oder die Socken im Schrank.

Muslimischer Alltag – nur was soll das eigentlich sein? Vor dem Interview hat sie mit ihrer Mutter darüber gesprochen. „Was ich esse? Was ich trage? Wie ich wohne?“ Sie haben keine Antwort gefunden.

Asma Sakouhi sitzt in einem kleinen Raum in der Zentralbibliothek am Hauptbahnhof. Draußen vor der Glastür büffeln Studenten in ihren Büchern, und Sakouhi wartet gemeinsam mit ihrer Freundin auf eine junge Frau aus Afghanistan, der sie bei der Suche nach einer Ausbildung in Hamburg helfen. Danach werden sie gleich weiter zum nächsten Termin laufen, ein Treffen mit Kulturvereinen an der Uni. Und am Wochenende wieder Probe mit den Flüchtlingen. Manchmal spurtet Sakouhi durch den Tag wie die Projektmanagerin einer Werbeagentur.

Jetzt aber zieht sie leise ihre hellbraunen Stiefel aus. Sie geht ein paar Schritte zur Seite, in die Ecke neben den Mülleimer, kniet sich vor die weiße Wand in dem kleinen Raum und betet. Fünfmal bekommt ein Tag in Asma Sakouhis Leben Routine. „Wenn ich Stress habe, gibt mir das Gebet Ruhe.“ Eine App auf ihrem Smartphone sagt ihr, wann die Gebetszeiten sind, ein Kompass weist Richtung Mekka. Früher habe sie Mekka mit dem Herzen gesucht, sagt sie. „Heute hilft das Handy.“

Fazal Ahmad, 37, Anwalt

Rechtsanwalt Fazal Ahmad vor Hamburgs ältester Moschee an der Wieckstraße in Stellingen Foto: Marcelo Hernandez
Rechtsanwalt Fazal Ahmad vor Hamburgs ältester Moschee an der Wieckstraße in Stellingen Foto: Marcelo Hernandez © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Fazal Ahmad verlässt das Zimmer und geht nach nebenan in den Gebetsraum der Fazl-e-Omar-Moschee. Es ist 17 Uhr, und der Hamburger zieht sich zum Gebet zurück. Wenn es sein Job zulässt, betet der Rechtsanwalt fünfmal am Tag. Manchmal um fünf Uhr morgens das erste Mal und um 22 Uhr zuletzt. „An sehr arbeitsreichen Tagen können wir mehrere Gebete aber auch zusammenlegen“, sagt er. Sein Glaube erlaubt ganz pragmatische Rücksichtnahme auf volle Terminkalender.

Hier in der Wieckstraße in Stellingen steht Hamburgs älteste Moschee. Sie ist die Heimat der Ahmadiyya Muslim Jammat (AMJ) Gemeinde und wurde vor 57 Jahren eröffnet. Hamburgs Wahrzeichen, der Michel, ist fast 300 Jahre älter.

Die Moschee ist auch die Heimat von Fazal Ahmad. „Hier bin ich aufgewachsen und fühle mich geborgen. Ich war in Jugendgruppen aktiv und habe später viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen. Unter den Ahmadis herrscht ein großer Zusammenhalt.“

Fazal Ahmad wurde 1977 in Pakistan geboren, in Gujrat, einer Stadt mit 250.000 Einwohnern im Nordosten. Sein Vater ist Fabrikarbeiter, die Mutter Hausfrau. 1986 musste die Familie das Land verlassen, weil sie als Ahmadis in Pakistan verfolgt wurden. Fazal war neun Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Er hat an die Flucht keine Erinnerung mehr. „Ich weiß nur noch, dass wir plötzlich im Flugzeug saßen.“

In Einbeck bestand seine Grundschullehrerin darauf, dass er sofort in die zweite Klasse kommt. „Sie hat gesagt, sie sorge persönlich dafür, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lerne.“ Sie hielt Wort. Drei Jahre später zog die Familie nach Hamburg. Fazal besuchte die Realschule in Hinschenfelde, ging aufs Aufbaugymnasium, machte an der Stadtteilschule in Barmbek sein Abitur und studiert Jura. Er hat es in Deutschland zu etwas gebracht. Vor acht Jahren hat sich Fazal, der ein breites Hamburgisch spricht, als Anwalt in Wandsbek selbstständig gemacht.

„Seit fünf Jahren ist die Situation für uns Ahmadis in Pakistan noch schlimmer geworden“, sagt er. Es gibt immer wieder Anschläge gegen AMJ-Mitglieder. Nun hilft Fazal Ahmad seinen Glaubensbrüdern vor Gericht. Es sind viele, die in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten. Seine Mandanten müssen vor deutschen Gerichten nachweisen, wie stark sie mit der Glaubensrichtung verbunden sind. „Wir Ahmadis glauben im Gegensatz zu Sunniten oder Schiiten, dass der Messias bereits gekommen ist.“ Hazrat Mirza Ghulam Ahmad, 1835 in Indien geboren, nahm für sich das Amt des Verheißenen Messias in Anspruch. 1889 wurde AMJ in Indien gegründet, zählt heute mehrere zehn Millionen Mitglieder in 200 Ländern. In Deutschland sind es 35.000, sie unterhalten 47 Moscheen.

„Uns vom Terror zu distanzieren reicht nicht, wir müssen Frieden schaffen“

Fazal Ahmad begleitet seine Mandanten zu den Anhörungen vor Gericht. „Manchmal dauern sie nur fünf Minuten, manchmal bis zu drei Stunden.“ Eine zentrale Frage lautet immer wieder: Was ist mit der Religionsfreiheit alles geschützt? Reicht es nicht auch, dass man seine Religion fünfmal am Tag zu Hause ausüben kann? Sozusagen unbemerkt von den islamischen Machthabern, womit dann ein Grund für die Gewährung von Asyl wegfallen würde? „Nein“, sagt Fazal Ahmad, „ein zentrales Anliegen von Ahmadis ist es, unseren Glauben nach außen zu tragen.“ Einen Glauben, der die Botschaft des Friedens hervorhebt und den Dialog zwischen den Religionen sucht.

Vor ein paar Wochen hat Fazal Ahmad, der verheiratet ist und in Wandsbek wohnt, mit seiner muslimischen Reformgemeinde einen Infoabend in Schnelsen veranstaltet. 80 Deutsche sind gekommen. In die Bait-ur-Rasheed Moschee, ein Gebetszentrum in der Pinneberger Straße. Eine große Halle, 15 Tische mit Papierdecken, Flaschen mit Selter und Cola. An der Seite Info-Tafeln. Sie informieren über die Kalifen, den Dschihad, die Stellung der Frau im Islam. An den Wänden hängen große Transparente: „Allah sieht auf die Herzen“, „Kein Zwang im Glauben“, „Islam heißt Frieden.“

Ein junger deutscher Lehrer steht auf, bedankt sich für die Einladung und sagt, dass er verschiedene Koran-Fassungen gelesen habe. Viel mehr als in der Bibel sei dort an vielen Stellen von Töten, Hass und Gewalt die Rede. Und wenn er sich in der Welt umschaue, fallen ihm wenige islamische Länder ein, in denen es derzeit friedlich zugehe.

Vorn auf dem Podium sitzt auch Fazal Ahmad. Neben ihm haben vier weitere Vertreter von AMJ Platz genommen. Im Saal wird über die Auslegung der Heiligen Schrift diskutiert. Über die Interpretation von Textstellen. Auch im Alten Testament stehe doch „Auge um Auge“, sagt ein Imam und fügt hinzu, dass es aber heute bei den meisten Christen darum gehe, die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen worden ist. Am Ende ist der gemeinsame Nenner die Liebe zu Gott und die Ablehnung von religiösem Extremismus.

„Es ist schon eine komische Situation derzeit“, sagt Fazal Ahmad, „wir als Muslime können nichts für den Terror der IS-Verbrecher, aber wir müssen uns trotzdem immer wieder für unseren Glauben rechtfertigen.“ Sie gehen zunehmend offensiv mit der tobenden Islam-Debatte um. Weil die Zeit drängt.

„Viele Experten sind sich einig, dass wir am Rande einer noch nie dagewesen Katastrophe innerhalb der muslimischen Welt stehen“, sagt Fazal Ahmad. Es reiche nicht mehr, sich als Muslim vom Terror zu distanzieren. „Es ist unsere Pflicht, den Frieden herbeizuführen.“ Denn der Islam lehre, dass der Mensch geboren wurde, um Gott und seinen Menschen zu dienen. „Wir friedlichen Muslime stehen in der Pflicht, uns die Deutungshoheit zurückzuerobern.“

Etwas Gutes aber habe die momentane Debatte. „Die Entwicklung ist zwar bedrohlich, aber es zeigen jetzt auch viele Menschen ein großes Interesse für den Islam“, sagt Fazal Ahmad. „Und das ist doch etwas sehr Schönes.“

Esra, Helin, Cagdas Yavuz – die Familie

Architekt Cagdas Yavuz , seine Frau Esra, eine Lehrerin, und Tochter Helin in ihrer Wohnung in Blankenese Foto: Marcelo Hernandez
Architekt Cagdas Yavuz , seine Frau Esra, eine Lehrerin, und Tochter Helin in ihrer Wohnung in Blankenese Foto: Marcelo Hernandez © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Esra Yavuz, 33, kennt das schon, wenn sie vor ihrer Klasse steht. „Ja, ja, Frau Yavuz, wir wissen, dass der Mensch im Vordergrund steht. Ganz egal, welche Hautfarbe, Religion oder Nationalität er hat“, sagen die Schüler dann zu ihrer Lehrerin. Esra war eine der ersten Schülerinnen in Hamburg, die an der Max-Brauer-Schule in Altona Türkisch als Abiturfach wählen konnten. 15 Jahre später behandelt sie in der 9. Klasse der Stadtteilschule Mümmelmannsberg im Wahlfach Türkisch mit ihren Schülern das Thema „Migration, Identität, Kultur“. Es ist, wenn man so will, ihr ureigenes Thema.

Esra sitzt mit ihrem Mann Cagdas in der gemütlichen Küche in ihrer Wohnung in Blankenese. Es gibt türkischen Mokka, danach Tee und süßes Gebäck. Immer wieder kommt ihre Tochter Helin, 5, aus ihrem Zimmer und hüpft bei den Eltern auf den Schoß. Helin wächst mit deutschen Weihnachtsliedern und dem islamischen Zuckerfest auf, das bei Familie Yavuz nach dem Fastenmonat Ramadan vier Tage lang gefeiert wird. Ein Leben zwischen zwei Kulturen.

Esra ist in Hamburg geboren. „Ich war 14 Jahre alt, als ich erfahren habe, dass ich Alevitin bin.“ Die Geschichte der Aleviten handelt von Verfolgung und Ausgrenzung. Ihre liberale Auslegung des Glaubens, der stark vom Humanismus geprägt ist, führt dazu, dass viele Muslime Vorbehalte gegen die Aleviten haben. Für manche gehören sie nicht einmal zur islamischen Gemeinschaft.

Vom türkischen Staat sind die Aleviten bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt. „Vor 25 Jahren war es gefährlich, in der Türkei laut zu sagen, man sei Kurde oder Alevit“, sagt Cagdas. Er erfuhr mit 13 Jahren, dass er Alevit ist. „Wir beten nicht in der Moschee, sondern treffen uns zur Cem in einem Gebetshaus.“ Sie lesen Gedichte und tanzen. Geleitet wird das Treffen von dem Dede, übersetzt: Großvater. „Er ist gleichzusetzen mit dem Imam in der Moschee“, sagt Cagdas.

Der 38-Jährige wurde in der türkischen Millionenstadt Adana geboren. Sein Vater war Beamter. Damit die Kinder studieren konnten, sind sie nach Ankara gezogen. Cagdas studierte Architektur und kam 2002 nach Deutschland. Er hat als Projektleiter bei ECE gearbeitet, den Bau von Einkaufszentren in Bulgarien betreut und sich dann selbstständig gemacht. Jetzt betreibt er eine Firma, in der Schweißer ausgebildet werden. Die Lehrgänge dauern drei bis neun Monate. „Die Vermittlungsquote beträgt anschließend knapp 90 Prozent.“ Cagdas ist auch noch als Projektentwickler tätig und betreibt außerdem mit Partnern das Restaurant Mr. Kebab auf St. Pauli.

Identitätssuche zwischen Hamburg und der Türkei, Weihnachten und Ramadan

„Meine Wurzeln liegen in der Türkei, aber ich bin mein Leben lang nach Westen gezogen“, sagt er. Damit verbindet er Modernität und Weltoffenheit. Er sagt, er habe Deutschland und Hamburg viel zu verdanken. „Als ich kam, konnte ich kaum Deutsch sprechen, aber alle Professoren haben mich unterstützt.“ Der deutsche Staat versuche, jedem die gleichen Chancen zu geben, sagt er. Und die Leute, die mit Hamburg nicht klarkommen, sollten sich einen anderen Planeten suchen.

Für Cagdas ist die Frage nach einem Leben nach dem Tod nebensächlich. Er glaubt an eine höhere Energie und daran, dass der Mensch heilig ist. „Ihn darf man nicht verletzen. Wenn du das schaffst, kannst du Gott erreichen.“ Seine Frau sei in Glaubensfragen noch etwas traditioneller. Die beiden haben sich auf einem türkischen Musikabend an der Uni kennengelernt und sind seit sieben Jahren verheiratet. Esras Vater ist Syrer, ihre Mutter kommt aus der Türkei, beide sind Lehrer. 1979 kamen ihre Eltern nach Hamburg und unterrichteten hier. Zwei Jahre später wurde Esra geboren. „Es gab verschiedene Phasen in meinem Leben.“ Ein Leben ohne den Islam, bis sie 15 war. Und eines danach, als sie alles hinterfragt hat. „Plötzlich habe ich mich für die Religion interessiert.“

Sie suchte nach ihren Wurzeln. Sie hat den Koran gelesen und sich zu bestimmten Anlässen die entsprechenden Suren herausgesucht. Sie hat über die Stellung der Frau im Islam gelesen. „Es mag für Frauen Zeiten gegeben haben, in denen es richtig war, eine Kopfbedeckung zu tragen.“ In Deutschland im 21. Jahrhundert, findet sie, müsse man sich als Frau nicht mehr „vor den bösen Blicken der Männer verstecken“. In ihrer 9. Klasse sitzen vier Mädchen mit Kopftüchern. Esra findet, dass jede Frau die Frage für sich entscheiden müsse.

Vor einem Jahr geriet die Stadtteilschule Mümmelmannsberg in die Schlagzeilen. 1300 Schüler, zwei Drittel mit ausländischen Wurzeln, werden dort von 130 Lehrern unterrichtet. Kaum ein Schüler in der 5. Klasse kommt mit einer Gymnasialempfehlung von der Grundschule, am Ende machen 25 Prozent ihr Abitur. Nach einem internen Bericht der Schulbehörde gab es damals Probleme mit Islamisten. Es ging um angebliche islamfeindliche Zitate von Lehrern und die Forderung von muslimischen Schülern und Eltern nach einem Gebetsraum.

Und heute? Gibt es einen neuen Trend unter den Schülern zu mehr Religion? „Nein und ja“, sagt Esra. „Nein, weil die Auseinandersetzung mit der Weltanschauung und die Frage nach der eigenen Identität in einem bestimmten Alter immer vorhanden ist. Und ja, weil in dieser Phase bei den Jugendlichen auch immer die aktuellen Konfliktsituationen in Deutschland und der Welt eine Rolle spielen.“

Bei ihren Schülern spiele das Umfeld eine große Rolle. Die Familie. Die Freunde. Oft hätten sie keine Perspektive. Esra sagt, sie lasse sich nicht auf politische Diskussionen ein. Und sie benutzt im Unterricht einen Identitätsbaum, um den jungen Menschen zu helfen, sich mit ihrer interkulturellen Identität auseinanderzusetzen.

„Was seid ihr?“, fragt sie die Schüler. „Ich bin Türke.“ Und wo bist du geboren? „In Deutschland.“ Wo bist du aufgewachsen? „In Deutschland.“ Welche Sprache sprichst du? „Deutsch.“ Es ist selbst für Kinder, die manchmal schon in vierter Generation hier leben, nicht leicht, sich auf Spurensuche zu begeben. Auf die Suche nach der eigenen Identität. Irgendwo zwischen Hamburg und der Türkei, zwischen Ramadan und Weihnachten.

Im April erwarten Esra und Cagdas ihr zweites Kind. In welchem Glauben werden sie ihre Kinder erziehen? Esra hofft, dass Helin in der Schule über sämtliche Weltreligionen etwas erfährt. An was soll sie glauben? „An die Liebe“, sagt Cagdas.