Am 29. Oktober 1970 hat Werner Grassmann nahe der Uni erstmals Filme gezeigt. Das Abaton setzt seither auf ein Cineasten-Programm.
Vor 50 Jahren veränderte sich die Kinolandschaft in Hamburg nachhaltig. Das erste Programmkino der Hansestadt eröffnete am 29. Oktober 1970, es war zugleich eines der ersten in Deutschland. Das Abaton hatte seine Räumlichkeiten in einer ehemaligen Garage in unmittelbarer Nähe zum Uni-Campus am Von-Melle-Park bezogen, später wurde ein Teil davon in Allende-Platz umbenannt. Gründungsväter waren der Autor, Produzent und Filmemacher Werner Grassmann sowie sein Kompagnon Winfried Fedder. Bis heute ist das Abaton eines der besten Programmkinos Deutschlands geblieben. Zahlreiche Preise hat es gehamstert. 2011 war es sogar das „European Cinema of the Year“.
Am Anfang stand die Suche nach einem Namen. Grassmann wünschte sich natürlich die größtmögliche Aufmerksamkeit und wollte in der alphabetischen Liste der Hamburger Kinos ganz nach vorn. So kam er auf das Abaton, das eigentlich ein heiliger Ort in der griechischen Mythologie ist. Während der aber für die meisten Menschen unbetretbar bleibt, ist das Kino oft gut besucht – wenn nicht gerade eine Pandemie ausgebrochen ist.
Abaton in Hamburg: Kult-Filmer D. A. Pennebaker zur Premiere
Zur Kino-Eröffnung gab es eine Doppelpremiere: mit D. A. Pennebakers Musikdokumentation „Monterey Pop“ und Hans-Jürgen Syberbergs „San Domingo“. Aus diesem Anlass kam unter anderem auch die Andy-Warhol-Muse Brigid Polk vorbei. Sie sah sich das spartanisch ausgestattete Büro an und sagte: „How sad“ („Wie traurig“). Dann sorgte sie umgehend für Abhilfe, zog ihren Pullover hoch, färbte ihren Busen mit einem Stempelkissen ein und „stempelte“ mit den Brustbildern die kargen Wände. „Wir waren begeistert. Das war echter Underground aus New York“, erinnert sich Grassmann. Bei einer Renovierung wurde das Kunstwerk im Jahr 1977 versehentlich übermalt.
Das Abaton sah sich als ein Gegenentwurf zum Ufa-Palast
Die Sache sollte ein Nachspiel haben. Für den Dokumentarfilm „Die Abaton-Saga“ des Hamburger Regisseurs Christian Bau sollte die Szene nachgestellt werden. Grassmann suchte nach einer Frau, die bereit war, die Aktion zu wiederholen. Die Suche gestaltete sich schwierig. Schließlich fand der Abaton-Chef jemanden, aber die Frau wollte dafür ein Honorar von 500 D-Mark haben. Das war Grassmann zu teuer. Der Hinweis, dass es um die Ehre ginge, verfing bei der Kandidatin nicht. „Dann mache ich es eben selbst“, sagte er, krempelte sein Hemd hoch, färbte seine Brust ein und drückte sie gegen die Wand. „Meine Mitarbeiter fanden das nicht gut“, erinnert sich der 94-Jährige.
Heute wird das Kino von seinen Söhnen Felix und Philip geleitet. Felix‘ früheste Erinnerung ans Abaton ist eher spielerischer Art. Zusammen mit seinen Brüdern Philip und Florian baute er im zarten Alter von vier Jahren ein Modell des Kinos nach – aus Lego. „Das Abaton war für unseren Vater immer so etwas, wie das vierte Kind“, erinnert sich Felix Grassmann.
Als im Grindelviertel der Strom ausfiel...
Das Programmspektrum des Kinos ist breit und anspruchsvoll. „Neue Filmkunst aus aller Welt“ lautet das Motto. Das Kino war der Gegenentwurf zu dem von Heinz Riech. Der Betreiber des Ufa-Palasts am Gänsemarkt unterteilte die Räumlichkeiten immer weiter, bis er aus einem Kino eins mit 16 Sälen im Schuhkastenformat gemacht hatte.
Gern werden im Abaton Filme in Originalfassung mit Untertiteln gezeigt, aber auch Klassiker und Dokumentarfilme. Natürlich lief nicht immer alles glatt. Manchmal wurden die Filme falsch zusammengebaut, Menschen standen auf dem Kopf, Balletttänzern fehlten ausgerechnet die Füße, oder die Zuschauer mussten nach Hause geschickt werden, weil im Grindelviertel der Strom ausfiel. Mehr als 25 Jahre lang hat Matthias Elwardt das Programm des Abaton zusammengestellt. „Er hat die Tradition, Filmemacher ins Kino zu holen, enorm ausgebaut. Matthias hat mit seiner Arbeit Maßstäbe gesetzt“, lobt Grassmann den jetzigen Chef des Zeise-Kinos.
Kino für Kinder: Zwei blieben übrig...
Einen besonderen Wert hat man im Abaton von Anfang an auf Filme für Kinder und Jugendliche gelegt. Dass so etwas auch mal nach hinten losgehen kann, erfuhr Werner Grassmann an einem Heiligabend, als nach der traditionellen Vorführung für Kinder zwei übrig blieben. Niemand kam, um die Geschwister abzuholen. Handys gab es noch nicht, und welches kleine Kind kennt schon die Telefonnummer der Eltern?
Schließlich fiel dem Mädchen neben seinem Nachnamen auch noch ein, dass es in Schnelsen wohnte. Grassmann griff sich das Telefonbuch. Er fand 20 Einträge mit dem Nachnamen in dem Stadtteil. Aber gleich bei der ersten Nummer hatte er Erfolg. „Ach ja, die Kinder“, rief ihre Mutter entsetzt. Sie hatte sie über das Tannenbaumschmücken vergessen.
Etwa 450 Filme zeigt das Abaton pro Jahr. Felix Grassmann hat ausgerechnet, dass es in den vergangenen 50 Jahren etwa 10.000 gewesen sein müssen. Das Abaton war übrigens nicht das erste Kino seines Vaters. Von 1953 bis 1956 hatte er schon das Studio 1 an der Schmilinskystraße in der Nähe des Hauptbahnhofs betrieben. Es war oft ausverkauft, aber das war auch nicht besonders schwer. Das Platzangebot bestand lediglich aus 18 Kinosesseln und sieben Gartenstühlen.
Abaton: Die Regisseure kamen persönlich
Im Abaton sitzt man heute weich und bequem. Vor zwei Jahren bekam das Lichtspieltheater neue Sitze, eine neue Lüftung, Bar, Tonanlage – und Toiletten wurden auch den letzten Stand gebracht. Nur das rote Sofa im Foyer blieb an seinem Platz. Zahlreiche Filmemacher haben hier schon gesessen. Zu den Gästen des Kinos zählten Vanessa Redgrave, Michel Piccoli, Wim Wenders, Sir Richard Attenborough, Werner Herzog, Hark Bohm, Costa-Gavras, Clint Eastwood, Volker Schlöndorff, Mike Leigh, Spike Lee und Fatih Akin.
Einer hat auf dem Sofa gelegen: Dennis Hopper. Bei den Dreharbeiten zu Wim Wenders’ „Der amerikanische Freund“ in Hamburg hatte der US-Schauspieler wieder zu viel von allem genommen. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel kifft“, erinnert sich Dieter Pille, langjähriger Filmpromoter, an die Begegnung mit Hopper. Der schaffte es nicht mehr bis ins Hotel und schlief auf dem Sofa. „Vielleicht liegt er da ja noch immer“, flachst Grassmann.
Coronabedingt können zurzeit nur etwa 120 der insgesamt 520 Plätze in den drei Sälen belegt werden. Trotzdem sagt der Betreiber, er sei eigentlich zufrieden. „Wenn ich nicht glauben würde, dass das Kino wieder aufersteht, würde ich das hier nicht machen.“ Die Jubiläumsfeier ist erst einmal abgesagt, soll aber im kommenden Jahr nachgeholt werden. Von März bis Juni war das Kino geschlossen. Ob es tatsächlich ein Happy End gibt, steht in den Sternen. In Italien mussten die Kinos gerade wieder schließen.