Hamburg. Die EU steht vor einer ungewissen Zukunft. Jetzt bedarf es radikaler Reformen, um Freiheit und Demokratie zu schützen.
Die Europäische Union ist, mal wieder, im Krisenmodus. Eigentlich ist sie es seit zwei Jahrzehnten permanent. Euro- und Finanzkrise und Flüchtlingsströme; Brexit und Corona; Mitgliedsstaaten, die demokratische und Rechtsstaatsprinzipien außer Kraft setzen, und jetzt der Krieg in der Ukraine. Die Vision eines geeinten, starken Europas scheint ein Traum zu bleiben. Wir leben in einer Staatengemeinschaft des kleinsten gemeinsamen Nenners. Die EU bleibt ein Scheinriese.
Das wäre in einer weniger gefährlichen Welt nicht sonderlich schlimm. Doch die globale Lage hat sich dramatisch verändert – und das keineswegs erst mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Demokratie scheint weltweit auf dem Rückzug. In einer freien, offenen Gesellschaft zu leben ist auch in Europa keine Selbstverständlichkeit mehr. Diese Werte zu verteidigen ist jede Anstrengung wert. Deshalb muss sich die EU dringend reformieren – vier Thesen zur Zukunft der EU.
1. Weg mit der Einstimmigkeit!
Das polnische Parlament, der Sejm, ist eines der ältesten der Welt und geht bis ins 12. Jahrhundert zurück. Es war im 17. und 18. Jahrhundert ein reines Adelsparlament – allerdings gab es auch nirgends sonst so viele Adlige wie in Polen: zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung (in Deutschland waren es etwa 0,15 Prozent). Der Sejm hatte große Macht: Er wählte den König, bewilligte Steuern und musste Staatsreformen zustimmen. Und es gab das „Liberum Veto“, mit dem ein einziger Abgeordneter jedweden Beschluss verhindern konnte. Dieses Prinzip der Einstimmigkeit war ab dem 17. und vor allem im 18. Jahrhundert geradezu eine Einladung an die europäischen Großmächte. Russland, Österreich, Preußen, Frankreich – sie alle brauchten nur ein oder zwei Abgeordnete zu überzeugen (im Zweifel zu bestechen) und konnten so alles verhindern, was ihren Interessen zuwiderlief. Und so schaffte Polen es nicht, den Staat zu modernisieren und wurde zum Spielball der Großmächte. Das gipfelte in den polnischen Teilungen (1772, 1793 und 1795), bis das Land schließlich ganz von der Landkarte verschwunden war. Das ist bis heute ein Trauma im Bewusstsein der polnischen Nation.
Im Europäischen Parlament brauchen Beschlüsse nur eine einfache Mehrheit. Allerdings hat das Gremium nicht wirklich viel zu sagen. Entscheidend sind die Kommission (jedes Mitgliedsland stellt eine/n Kommissar/in) und der Rat, in dem die Fachminister beziehungsweise die Regierungschefs zusammenkommen – und dort müssen Beschlüsse einstimmig sein. Das ist, zurückhaltend formuliert, nicht mehr zeitgemäß. Um nicht zu sagen: gefährlich naiv.
Es gibt viele Großmächte, die Einfluss auf die europäische Politik nehmen möchten. Und es gibt viele EU-Staaten, die schon allein wegen ihrer geringen Größe potenzielle Einfallstore für Interessen Dritter bieten. Vier der Kleinstaaten (Malta, Zypern, Luxemburg und Estland) haben sogar weniger Einwohner als Hamburg. Im Extremfall könnte die Regierung eines Landes mit der Bevölkerungszahl des Bezirks Wandsbek jeden Beschluss verhindern – obwohl die anderen Regierungen 450 Millionen Menschen vertreten. Dass Großmächte versuchen, sich Einfluss innerhalb der EU zu sichern, ist indes kein Zukunftsszenario, sie tun es längst.
China – mittlerweile ein totalitärer Staat Orwellschen Ausmaßes, in dem Erich Mielkes kühnste Träume wahr geworden sind – kauft sich seit Jahren in Europa ein (z. B. die griechischen Häfen) und übt immer unverhohlener Druck aus. Das ist im Kleinen sogar bis ins Hamburger Rathaus zu spüren, wo sofort geharnischte Protestnoten des Konsulats landen, wenn irgendeine Verlautbarung der offiziellen chinesischen Sichtweise widerspricht oder gar Taiwanesen auf Einladung der Stadt auftreten. China versucht längst weltweit, wirtschaftliche Abhängigkeiten zu schaffen und erwartet im Gegenzug politisches Wohlverhalten.
Dass Russland eine Gefahr darstellt, bedarf in diesen Tagen keiner Erörterung. Umso besorgniserregender ist die Nähe einiger EU-Regierungen zu Putin, wie etwa in Ungarn – das gerade ein Veto zum Öl-Embargo angekündigt hat. Es ist auch keineswegs ausgeschlossen, dass Russland in Staaten wie Rumänien, Bulgarien oder Slowenien (und erst recht bei Beitrittskandidaten wie dem schon immer russlandfreundlichen Serbien) genügend Einfluss gewinnt, um unliebsame Entscheidungen der EU blockieren zu können.
Die USA sind immer noch das mächtigste Land der Erde und militärische Schutzmacht Europas. Sich darauf zu verlassen zeugte allerdings von Blauäugigkeit, wenn nicht Ignoranz. Zwar sucht Präsident Biden die Nähe zur EU, doch damit kann es 2024 schon wieder vorbei sein, falls Donald Trump (oder ein noch radikalerer republikanischer Rechtsaußen) ins Amt kommt. Doch unabhängig davon verfolgen auch die USA massive wirtschaftliche Interessen in Europa und waren noch nie zimperlich dabei, wenn es galt, diese zu wahren. Schlimmer noch: Die USA könnten in nicht allzu ferner Zukunft politisch instabil werden; das Land ist so gespalten, dass manche nicht mal ein Bürgerkriegsszenario ausschließen. All das darf Europa nicht ignorieren, sondern muss sich vorbereiten.
Und da wäre auch noch Indien, das sehr bald China als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelöst haben wird (oder schon hat, wie einige meinen) und eine zunehmend nationalistische Politik betreibt – womöglich der nächste mächtige Global Player am Horizont.
Wenn Europa nicht zum Spielball auswärtiger Interessen werden will, braucht es eigene Stärke und kann es sich nicht leisten, im Zweifel am Widerstand eines einzigen Mitgliedsstaates zu scheitern. Das Prinzip der Einstimmigkeit ist längst ein Anachronismus. Es stammt aus den Gründungstagen, als das Konstrukt noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß und aus sechs Staaten bestand (Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und West-Deutschland). Damals herrschte kalter Krieg. Heute ist die Weltlage eher noch unsicherer geworden – und ganz bestimmt unübersichtlicher. Polens Geschichte sollte eine Mahnung sein.
2. Mehr Sanktionsmöglichkeiten – und Schluss mit Erweiterungen als Selbstzweck!
Europa bezeichnet sich gern als Wertegemeinschaft. Doch diese Werte teilen eben längst nicht mehr alle, siehe Polen und Ungarn. Auch wenn die EU ihre Sanktionsmöglichkeiten geschärft und Verfahren gegen die beiden Staaten eingeleitet hat, ist das Schwert doch weiter recht stumpf. Und so droht eine Rosinenpicker-Mentalität: Wirtschaftliche und finanzielle Vorteile werden gern genommen, alles andere ist nicht so wichtig. Das schwächt nicht nur Europa insgesamt, sondern auch den gesellschaftlichen Rückhalt für das europäische Projekt in den Staaten, in denen großer Wert auf eben diese Werte gelegt wird.
Deshalb muss es sehr viel härtere Sanktionsmöglichkeiten geben – im Extremfall bis zum Ausschluss aus der Union. Mit einer derart harten Linie wäre allen, auch potenziellen neuen Mitgliedern, eindeutig klar, was sie bekommen und welchen Preis das im Zweifel hat. Die EU ist ein politisches Projekt, kein Wirtschaftshilfeverein. Wer das nicht akzeptieren will, darf gerne draußen bleiben.
Sehr viel genauer hinschauen muss die EU deshalb auch bei neuen Mitgliedern. Bisweilen hat man den Eindruck, dass die Erweiterung der EU zum Selbstzweck geworden ist. Zurzeit sind sämtliche Balkanstaaten (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien, Kosovo, Nordmazedonien) sowie (seit Jahrzehnten und zurzeit ohne Aussicht auf Erfolg) die Türkei und nun auch die Ukraine Kandidaten. Olaf Scholz hat jüngst bei seiner Balkanreise eine zügige Aufnahme befürwortet. Leider. Denn das würde die EU noch größer machen – und noch schwächer.
Das gilt auch (und gerade) für die Ukraine. So furchtbar der grausame Krieg der russischen Aggressoren auch ist und so sehr den Ukrainern für ihren Widerstand unsere Sympathie gehört – das Land war auch vor dem Krieg weit davon entfernt, reif für den Beitritt zu sein. Die Ukraine hat in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit genauso große Defizite wie bei der Korruptionsbekämpfung. Und es ist völlig unvorhersehbar, wie sich die politischen Verhältnisse nach einem Ende des Krieges entwickeln werden – eine Radikalisierung als Folge des mörderischen Kriegs kann niemand ausschließen.
Selbstverständlich soll die EU dem gebeutelten Land in großem Stil helfen: wirtschaftlich, finanziell und beim Ausbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen. Sobald die Ukraine sich erholt und grundlegend reformiert hat und somit die Voraussetzungen erfüllt, spricht auch nichts gegen eine Aufnahme. Aber ein schneller Beitritt, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und andere ihn fordern, wäre nicht nur ein Fehler: Er wäre eine Dummheit.
3. Europa muss eine echte Union werden – auch eine militärische!
Zu Recht wird oft gesagt: Die EU ist ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg. Fast 450 Millionen Einwohner erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 21 Billionen (21.000 Milliarden) US-Dollar – auch ohne Großbritannien fast genauso viel wie die USA. Als politische Kraft wird die EU aber nicht wirklich ernst genommen. Sie wird als entscheidungsschwach gesehen, was angesichts der komplexen Abstimmung von 27 Regierungen (und womöglich bald noch mehr) systemimmanent ist.
Weltweit sind autoritäre Regime und populistische Politiker auf dem Vormarsch. Wenn Europa ein Ort der Freiheit, der offenen und toleranten Gesellschaften bleiben will, darf es sich nicht länger auf andere verlassen, es muss diese Menschheitserrungenschaften selber verteidigen.
Dass die EU als Papiertiger wahrgenommen wird, liegt eben auch an der militärischen Schwäche. Die ist nicht etwa darin begründet, dass zu wenig Geld ausgegeben wird. Sondern dass jeder Staat allein vor sich hinrüstet – das ist teuer und ineffizient. Zwar gibt es einige Kooperationen, auch bei der Anschaffung, doch das geht nicht mal ansatzweise weit genug. Die 27 Mitglieder geben rund 200 Milliarden US-Dollar jährlich für die Verteidigung aus, bald wird es deutlich mehr sein. Das ist etwa dreimal so viel wie Russland – auch kaufpreisbereinigt sind die Ausgaben höher. Dennoch fühlt sich Europa wie das Kaninchen vor der Schlange.
Die Nato ist zwar das stärkste Militärbündnis der Welt. Doch ihre Kraft steht und fällt mit den USA, die mehr Geld für Militär ausgeben als der Rest der Welt zusammen. Doch die USA sind eben zu einem unsicheren Kantonisten für die Europäer geworden – deshalb bedarf es einer EU-Armee, damit sich der Kontinent im Zweifel selbst schützen kann.
Diese Armee muss nicht sofort aus den Kontingenten aller 27 Mitglieder bestehen. Schon Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten – also die sechs Gründungsmitglieder – wären finanziell problemlos in der Lage, eine gemeinsame Streitmacht zu organisieren, die abschreckend genug wäre. Vorausgesetzt, die EU würde zur Atommacht. So bitter diese Erkenntnis auch ist: Nur ein hinreichend großes Arsenal an atomaren Waffen garantiert die Unangreifbarkeit des Kontinents. Ja, diese Armee wäre ein Verzicht auf nationale Souveränität an der sensibelsten Stelle. Ja, die Widerstände in den einzelnen Staaten wären gewaltig und würden vor allem EU-kritische Politiker wie Marine Le Pen, Matteo Salvini und Björn Höcke auf den Plan rufen. An der Notwendigkeit ändert das aber nichts.
4. Reformen durchsetzen – zur Not auf die harte Tour
Die Tatsache, dass manche Mitgliedsstaaten eine weitreichende Integration wollen, andere das aber ablehnen, beschäftigt die EU seit Jahrzehnten. Das führte zu Konzepten wie dem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ und der Einführung des Euro in einigen, aber nicht allen EU-Staaten sowie dem Schengen-Abkommen, das auch nicht alle unterschrieben haben. An den Grundproblemen änderte all das nichts.
Die radikale Modernisierung der EU würde nun einen gewaltigen Proteststurm in vielen Mitgliedsstaaten hervorrufen, keine Frage. Und rein formal kann man die Einstimmigkeit nur abschaffen, wenn es dazu einen einstimmigen Beschluss gibt. Womit die Geschichte schon zu Ende erzählt wäre, denn Polen, Ungarn und manch andere würden niemals Ja sagen.
Gegen die Kleinen geht also nichts. Weshalb die banale Selbstverständlichkeit in den Vordergrund gerückt werden sollte, dass gegen die Großen erst recht nichts geht. Eine EU ohne Frankreich, Italien oder Deutschland? Nicht existenzfähig. Man stelle sich doch einmal Folgendes vor: Nur diese drei (und dann wahrscheinlich im Bunde mit vielen anderen) drohen mit Austritt, falls die Reformen ausbleiben. Natürlich würde es einen Aufschrei geben und den (völlig berechtigten) Vorwurf der Erpressung. Aber dann? Vor die Alternative gestellt, einer reformierten EU mit all den finanziellen und wirtschaftlichen Vorteilen anzugehören oder allein dazustehen, würde es wohl zähneknirschende Zustimmung geben.
Und falls nicht? Dann gründen all die Staaten, die das europäische Projekt wirklich wollen, eine neue EU. Die Gründungsmitglieder wären sicherlich dabei, dazu gewiss Spanier, Portugiesen, Griechen, Iren, die Skandinavier, Österreich, Tschechien und, und, und. Kurzum: Die harte Tour würde funktionieren. Und wäre angebracht in einer sehr hart gewordenen Welt.