Hamburg. Genussexperte Gerd Rindchen hat das Restaurant des Ex-“kulinarischen Diktators“ Torsten Gillert besucht. Hier lesen Sie sein Urteil.
Bei Köchen ist oftmals voller Begeisterung von den „Jungen Wilden“ die Rede. Was aber, wenn jemand, der vor etlicher Zeit ziemlich jung und ganz schön wild war, nun ins etwas reifere Alter kommt? Im ungünstigsten Fall: ausgebrannt. Im häufigen Fall: minder inspiriert und eher resigniert in konventionellen Gefilden dümpelnd. Im Idealfall: mit den Jahren weise und abgeklärt geworden, ohne an flirrender Kreativität eingebüßt zu haben.
Just jenen nicht allzu häufig anzutreffenden Idealfall verkörpert Torsten Gillert, einer der spannendsten und ungewöhnlichsten Köche der Hansestadt. In früheren Jahren gerierte er sich als männliche Domina und rief, in seinen Sternstunden allerdings auch damals schon begnadet aufkochend, in seinem damaligen Restaurant Artisan vis-à-vis der Schlachterbörse die „kulinarische Diktatur“ aus: Es gab nur ein Menü, aus dem man sich beliebig viele Gänge zusammenstellen konnte.
Torsten Gillert kochte einige Jahre auf der MS "Europa"
Danach folgten für ihn einige Jahre als Küchenchef auf der MS „Europa“, bevor er sich erfreulicherweise wieder in Hamburg in die Selbstständigkeit begab und mit Partnern das überaus spannende Konzeptrestaurant „Der erdbeerfressende Drache“ aus der Taufe hob.
Nach zwei Stationen als Pop-up-Restaurant, unter anderem am Altonaer Spritzenplatz, ist der Drache nun wohlbehalten in den Deichtorhallen gelandet – dort, wo früher das Fillet of Soul sein Wesen trieb. Das Konzept ist große Klasse und der einstmals diktatorische Ansatz altersmildem Demokratieverständnis gewichen.
Karte: Herausragend, kunstfertig und stilsicher
Auf der häufig wechselnden Karte sind jeweils 12 bis 14 herausragend kunstfertig und stilsicher bereitete kleine Gerichte aufgeführt, die man sich hervorragend zu zweit teilen und damit ein tolles, facettenreiches Sechs- bis Acht– Gänge-Menü nach eigenem Gusto zusammenstellen kann. Qualitativ hochwertige, regionale und saisonale, wo immer möglich auch Bio-Produkte stehen im Vordergrund, die Preise sind für das Gebotene ausgesprochen fair.
So begeisterten bei unserem Besuch beispielsweise „Ente & Kaffee“: gepökelte und gebratene Barbarie-Entenbrust mit pürierter und eingelegter Artischocke, einem Lack aus Kakao und Kaffee und gebackener Topinambur (12 Euro). Ein richtig wohlig-gemütliches Herbstgericht war „Seehecht & Petersilie“: In Nussbutter pochierter Merluzza mit pürierter und geschmorter Petersilienwurzel, Schnittlauchöl und gebackenen Zwiebeln (13 Euro).
Überaus spannend ist „Pulpo & Schwein“: gekochter und gebratener galicischer Oktopus, gedämpfter Bauch vom schwarzen Iberico-Schwein (sensationell!) mit Ragout von Puy-Linsen und Orangen- und Thymian-Aroma (14 Euro).
Klasse auch „Rind & Bohnen“, sous-vide gegartes Dry-aged-Entrecôte mit Anjo-Chilisauce, sautierten weißen und grünen Bohnen und eingelegter Feige (15 Euro).
Dessertfreunde werden sehr preisgünstig und lecker fündig
Highlight des Abends war nach unserem Dafürhalten „Garnele & Pilze“: pochierte Rotgarnelen in einer sterneverdächtigen, ungemein aromatischen Suppe von Krustentierschalen mit eingelegten Waldpilzen und Paprika-Dill-Gewürz (14 Euro).
Bei so viel tollen, anspruchsvollen, teils ja auch sehr ungewöhnlichen, aber immer stimmigen Gaumenkombinationen ist dann mal ein schlichtes Gericht zwischendrin wie „Salt & Pepper Squid“, zarteste in Weizengrießhülle gebackene Calamari mit Zitronenaioli und Kartoffel-Gurken-Salat (11 Euro), ganz erfrischend und charmant.
Dessertfreunde werden sehr preisgünstig und lecker fündig, beispielsweise mit klassischem Sauerkirschkompott mit Tellicherrypfeffer-Eis, Vanilleschaum und Honigwaffel (6 Euro). Wer sich nicht so recht entscheiden kann lässt sich vom freundlichen Service ein fünfgängiges Omakase-Überraschungsmenü (48 Euro) zusammenstellen.
Die Weinkarte ist klein, aber ganz ordentlich zusammengestellt
Das ist aber gar nicht nötig, denn nach unserer Erfahrung reichen sechs bis sieben durch zwei Gäste geteilte Gänge bei normalem Appetit aus. Bei einem Durchschnittspreis von 12 Euro pro geteiltem Gericht ist man dann mit etwa 36 bis 42 Euro pro Nase dabei und hat das auf dem Teller, was man sich ausgesucht hat. Ich wüsste ad hoc wenige Restaurants in Hamburg, wo man für den Kurs so zahlreiche eigenständige, meisterlich bereitete Gaumenüberraschungen bekommt.
Die Weinkarte ist klein, aber ganz ordentlich zusammengestellt und überwiegend Bio – verdursten muss man also auch nicht.
Deichtorstraße 1–2, 20095 Hamburg, Di–Do 18-23 Uhr, Fr–Sa 17–23 Uhr, Tel. 040/20 98 23 92, Internet: dererdbeerfressendedrache.de