Hamburg. Kritiker vermissen die versprochene Führung von Olaf Scholz. Wurde der SPD-Politiker nur falsch verstanden? Eine Bestandsaufnahme.
Der Satz, den Markus Lanz in seiner ZDF-Sendung in diesem Jahr am häufigsten zitiert hat, stammt von Olaf Scholz. Es sind acht Worte, so etwas wie der Markenkern des Bundeskanzlers: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“ Doch genau diese Führung vermisst Lanz, wenn es um die Einführung einer Impfpflicht geht, es ärgert ihn, und er ist nicht allein: „Von einem Bundeskanzler erwartet man in einer Krise, dass er vorangeht“, sagte die Journalistin Kristina Dunz in der Talkshow, bevor sich der Moderator darüber echauffierte, dass Scholz als Bundestagsabgeordneter für eine Impfpflicht stimmen, sie als Kanzler aber nicht auf den Weg bringen will, so, als würden die Menschen da draußen unterscheiden können, in welcher Funktion er gerade spricht.
„Wenn man Kanzler ist, ist man Kanzler“, sagte Lanz und ließ das von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel vorgebrachte Argument, dass so große Entscheidungen wie die über eine Impfpflicht in den Bundestag gehören, nicht gelten: „Wenn wir das alles in den Bundestag geben, brauchen wir dann noch eine Regierung?“
Corona: Scholz äußerte sich nicht zur Impfpflicht
Es sind Fragen, die sich in diesen Tagen viele in Deutschland stellen, am Mittwoch ganz besonders, als im Bundestag lange über die Impfpflicht diskutiert wurde, und einer bewusst nichts sagte: Olaf Scholz. Der Kanzler wollte das Thema dem Parlament überlassen, die offizielle Begründung lieferte – auch bei „Markus Lanz“ – sein Bundesgesundheitsminister. „Jeder weiß, dass ich ein Befürworter der Impfpflicht bin. Aber die Frage ist ja, ob die Gesetzesvorlage aus dem Bundestag oder von der Regierung kommt.“ Sagte Karl Lauterbach, erklärte das Vorgehen für typisch bei großen ethischen Fragen und hoffte auf einen parteiübergreifenden Schulterschluss.
Eine Argumentation, mit der ihn Lanz übrigens nicht davonkommen ließ: „Sie vertrauen Ihrer eigenen Koalition nicht. Sie vertrauen Ihrem eigenen Koalitionspartner, der FDP, nicht. Sie vertrauen dem Gruppenantrag von Wolfgang Kubicki nicht. Sie haben Angst, dass Sie irgendwann die Kanzlermehrheit verlieren. Das ist doch das wahre Problem, warum benennt man das nicht mal klar und sagt: Wir haben da ein Problem in den eigenen Reihen.“ Und: „Das sind rhetorische Tricks, das sind Nebelkerzen, die wir da hören.“
Der Kanzler will sich aus öffentlichem Streit raushalten
Eigentlich hören wir im Moment von Olaf Scholz wenig zur Pandemie, mal abgesehen von vorgelesenen Statements bei den Pressekonferenzen nach den Treffen mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Während Lauterbach Tag und Nacht auf Sendung zu sein scheint, kommuniziert Scholz anders und weniger, als man es aus der Phase vor der Bundestagswahl und aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister, gerade in Krisen, gewohnt war. Dahinter stecke eine Strategie, sagt Stephan Lamby, vielfach ausgezeichneter Dokumentarfilmer, der Scholz im Wahlkampf mit der Kamera begleitete und das jetzt wieder bei der neuen Ampelregierung tut: „Es gibt einen Plan, was den Politik- und den Kommunikationsstil von Olaf Scholz betrifft.“
Der sehe vor, den Kanzler nach einer Übergangsphase aus dem „öffentlichen Streit Schritt für Schritt rauszuhalten“, so wie das Angela Merkel gemacht hat: „Ich vermute, dass man öffentliche Debatten aus dem Kanzleramt zwar beobachten, aber nicht anstoßen wird. Wir werden künftig, das ist meine Prognose, einen extrem sparsam kommunizierenden Bundeskanzler erleben.“ Überhaupt habe Scholz kein Interesse, so der Journalist und Autor Michael Bröcker, der unter anderem eine Biografie über Jens Spahn geschrieben hat, das Gesicht der Pandemie zu werden: „Ich glaube, dass es Scholz lieb ist, dass es mit Karl Lauterbach einen Politiker gibt, auf den sich jetzt alles konzentriert. Er will kein Pandemie-Kanzler sein.“
Kevin Kühnert nimmt Scholz in Schutz
Stimmt das? Hat der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, Ralph Brinkhaus, recht, wenn er sagt, dass Olaf Scholz sich im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Angela Merkel zu wenig persönlich in die Bekämpfung der Pandemie einbringt? Hamburgs Bürgermeister Tschentscher findet das nicht: „Nur weil jemand nicht auf der Bühne sitzt und laut über Corona spricht, heißt es nicht, dass er sich nicht kümmert.“ Auch Kevin Kühnert, lange der Gegenspieler von Scholz in der SPD und heute Generalsekretär der Partei, nimmt den Kanzler in Schutz. Er glaubt, dass das Scholz-Zitat falsch interpretiert wird: „Er hat ja nicht gesagt: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Lautsprecherei. Führung in der Politik ist deutlich mehr als nur das öffentliche Wort.“
Zum Beispiel würden die Ministerpräsidentenkonferenzen, die anderthalb Jahre die Funktion „des römischen Kolosseums hatten, wo die Kämpfer aufeinander losgelassen wurden“, unter Scholz deutlich ruhiger und effizienter ablaufen: „Das ist etwas, was ich mir in einer Pandemiesituation unter Führung vorstelle.“ Kühnert findet auch nicht, dass Scholz sich als Kanzler im Moment wegduckt: „Er hat gerade der ,Süddeutschen Zeitung‘ ein längeres Interview gegeben. Wenn er so etwas einmal im Monat machen würde, wäre das schon eine deutliche Verbesserung zu Angela Merkel.“ Die habe in den letzten Jahren ihrer Kanzlerschaft nur noch über ihren Podcast und die obligatorischen Pressekonferenzen kommuniziert.
Olaf Scholz: „Ich bin, wie ich bin“
„Das eine ist, das politische Handwerk im Alltag zu beherrschen, das andere ist, darüber zu sprechen“, so Kühnert weiter. „Eine Politik, die nur zwischen Aktendeckeln stattfindet, ist keine Politik, das ist Verwaltung.“ So ähnlich formuliert es auch Armin Wolf, Moderator der Nachrichtensendung ZIB 2 in Österreich und einer der renommiertesten Journalisten Europas. Er sagt: „Als Staatsbürger wünsche ich mir Politiker, die ihr Geschäft inhaltlich beherrschen, die sich also nicht davor fürchten, zu ihrer Arbeit befragt zu werden, und die ihre Politik halbwegs verständlich erklären können. Demokratie lebt davon, dass man seine Politik nicht nur verkündet.“
Die letzten beiden Zitate könnte man dann doch wieder als Kritik an Olaf Scholz werten, weil der bekanntermaßen nicht der große Kommunikator war, ist und wohl auch nicht mehr werden wird. „Ich bin, wie ich bin“, hat er dazu einmal gesagt. Der „Tagesspiegel“ schreibt zu seinem (Nicht-)Auftreten in diesen Tagen: „Scholz ist einfach nur: er selbst. Ihm kann keiner was, was durchaus nicht nur negativ gemeint ist. Eher so: Lass die anderen reden, wie und was sie wollen – ich entscheide, wie und was und wann ich es will.“
Impfpflicht: Warum Scholz auf Gruppenanträge setzt
Tatsächlich ist Scholz einer, der sich noch nie hat treiben lassen, den nichts aus der Ruhe bringen kann, auch eine Pandemie nicht. Das heißt nicht, dass er nicht jeden Tag und größere Teile der Nacht dafür arbeitet, die Pandemie möglichst schnell zu überwinden. Aber er hält nach wie vor wenig davon, Zwischenstände zu verkünden, schon gar nicht im Fernsehen. Man müsse es manchmal eben aushalten, dass „der Prozess des Klügerwerdens und des Beratens noch nicht abgeschlossen ist und man das Ergebnis noch nicht verkünden kann“. Und weil das so ist, sagt Scholz lieber nichts als etwas, das sich dann doch wieder ändert.
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Was auch eine Lehre aus dem politischen Mantra der ersten Phase der Pandemie ist, wir erinnern uns. Damals hatten alle Politiker eine Impfpflicht mehr oder weniger ausgeschlossen … Wenn die Impfpflicht am Ende aus dem Bundestag und sogenannten Gruppenanträgen heraus entsteht, hat Scholz sein Ziel erreicht, ohne Teile des Koalitionspartners FDP zu verprellen und ohne das Thema parteipolitisch zu instrumentalisieren. Am Letzteren haben einige Ministerpräsidenten aus den Reihen der CDU größeres Interesse, insbesondere jene, in deren Bundesländern in diesem Jahr Wahlen anstehen – allen voran Hendrik Wüst. Der ist erst seit dem Rücktritt von Armin Laschet Regierungschef in Nordrhein-Westfalen und muss alles dafür tun, möglichst schnell bekannter zu werden – die Wahl in seinem Land steht bereits am 15. Mai an.
Wüst kritisiert den Kanzler öffentlich
Da trifft es sich, dass Wüst derzeit Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist, eine Rolle, die viel Aufmerksamkeit verspricht, und die er auch dazu nutzt, den Kanzler zu kritisieren. Zum Thema Impfpflicht sagte Wüst dem Deutschlandfunk: „In einer so wesentlichen Frage hätte ich mir gewünscht, dass Olaf Scholz, der sich ja klar bekennt, führt. Dass er sagt: Dass ist jetzt ganz wichtig, um aus der Pandemie zu kommen, und ich habe hierfür eine eigene Mehrheit, für diesen ganz wesentlichen Punkt.“ Sätze, die Scholz nicht gefallen haben, genauso wenig wie Forderungen von Wüst in der Ministerpräsidentenkonferenz, vom Bundestag erneut die epidemische Notlage nationaler Tragweite feststellen zu lassen.
Verschiedene Medien berichten, dass Scholz Wüst nach einem der Treffen als „Amateur im Ministerpräsidentenkostüm“ bezeichnet habe; ob das stimmt, weiß man nicht. Kevin Kühnert sagt dazu im „Scholz-Update“, einem Podcast der Funke-Mediengruppe: „Der fährt zum Raufen zur Ministerpräsidentenkonferenz. Das finde ich nicht ganz die feine englische Art.“ Scholz wird solche Äußerungen des Generalsekretärs gern hören. Und schweigen.