Hamburg. Jens Kerstan im Interview über die Folgen des Ukraine-Kriegs, die Klimakrise, den Umbau der Stadt, die U5 und seine Krebsdiagnose.
Vor Weihnachten bekam er die Diagnose Krebs, zu Jahresbeginn ging er für drei Monate in Behandlung und Reha. Als der grüne Umweltsenator Jens Kerstan dann im Frühjahr in seinen Job zurückkehrte, war die Welt eine andere.
Russland hatte die Ukraine überfallen, die Energiepreise stiegen noch schneller als schon zuvor, und nun schraubt Putin von sich aus die Gaslieferungen zurück.
Bei alldem werden die Nachrichten in Sachen Erderwärmung auch nicht besser. Im Abendblatt-Interview erläutert der 56-Jährige, wie wir es durch diese Krisen schaffen können, was jeder Einzelne beitragen kann, wie er es selbst mit Fleischkonsum und Fliegen hält – und wie die Krankheit seinen Blick auf die Welt verändert hat.
Hamburger Abendblatt: Herr Senator, fast jeder Zweite bekommt im Laufe seines Lebens die Diagnose Krebs. Wie sind Sie damit umgegangen?
Jens Kerstan: Das ist natürlich ein Schock. Bei mir hat sich das alles sehr schnell geklärt, das hat geholfen. Vor Weihnachten habe ich die Diagnose bekommen, im Januar wurde ich operiert. Aber das ist natürlich ein Schlag ins Kontor. Ich habe mir drei Monate Auszeit genommen, meine Gesundheit in den Mittelpunkt gestellt und für mich Bilanz gezogen. Das machen ja viele Menschen, auch für mich war es wichtig.
Zu welchem Ergebnis sind Sie für sich dabei gekommen?
Na ja, ich bin wieder da. Ich habe geguckt, wo ich stehe, was ich gemacht habe, ob ich irgendwas unbedingt noch machen will – denn man sieht ja, wie schnell es einen erwischen kann. Aber dabei kam beruflich nichts heraus, wo ich gesagt habe: Das will ich ganz anders machen. Im Gegenteil, ich bin zu dem Schluss gekommen: Da, wo ich bin, bin ich richtig, da werde ich auch gebraucht und mache einen guten Job. Privat aber bin ich auf zwei Themen gestoßen, die ich noch angehen will.
Verraten Sie uns welche?
Ich hätte gerne einen Hund. Wir hatten in meiner Kindheit einen Münsterländer, ich mag Hunde sehr. Aber das geht derzeit nicht. Ich lebe im Moment allein und bin kaum zu Hause. Außerdem will ich irgendwann Golf spielen. Das geht aber momentan zeitlich nicht.
Sie sind nach Ihrer Krankheit in eine andere Welt zurückgekehrt: Russland hat die Ukraine überfallen, wir erleben die wohl größte Energiekrise in der Geschichte der Bundesrepublik. Werden wir bald fast ohne Gas dastehen?
Im Moment ist die Versorgung gesichert – selbst wenn Putin den Pipelinebetrieb nach der Revision nicht wieder aufnimmt. Im Winter wird die Versorgungslage dann aber kritisch. Aber das wird jetzt natürlich einen weiteren Schub auf die Preise auslösen. Deutschland ist ein reiches Land und kann es sich leisten, Gas auf den internationalen Märkten zu gestiegenen Preisen zu besorgen. Diese hohen Preise werden aber früher oder später die Verbraucher erreichen. Das wird eine sehr große Belastung vor allem für Menschen mit wenig Einkommen. Ich mache mir große Sorgen, wie wir den sozialen Zusammenhalt in dieser Lage sichern können.
Was kann Politik dafür tun?
Wirtschaftsminister Robert Habeck hat ja entschieden, dass die Preiserhöhungen von den Versorgern erst einmal nicht an die Kunden weitergegeben werden können. Stattdessen hat der Bund 15 Milliarden Euro an die Versorger gegeben. Ohne diese Maßnahme wäre ein großer Teil der Energieversorger in die Pleite gerutscht. Die haben sich ja vertraglich zur Gaslieferung an Kunden verpflichtet. Weil Russland 60 Prozent weniger liefert, müssen sie sich das Gas nun an den internationalen Spotmärkten zum sechs- bis achtfachen Preis besorgen. Wir sind in einer viel schlimmeren Krise, als den meisten bewusst ist. Die Hütte brennt längst – auch wenn wir das im Sommer nicht so richtig wahrnehmen.
Trotz aller Maßnahmen steigen die Preise für Privatkunden drastisch. Vor allem Geringverdiener können das nicht mehr bezahlen – aber auch Familien mit mittleren Einkommen geraten in Probleme.
Ich gehe davon aus, dass der Bund da noch etwas tun muss – nicht mit der Gießkanne, aber vor allem den unteren Lohngruppen muss geholfen werden. Als Senat sollten wir außerdem den Hamburger Bürgern helfen, dass sie schneller von fossilen Brennstoffen wegkommen. Ich habe mir gewünscht, dass die Stadt Darlehens- und Förderprogramme für den Umstieg auflegt. Die Haushaltslage in Hamburg ist allerdings auch schwierig, deswegen gibt es dafür bisher leider keine Zustimmung im Senat. Aber das Thema ist noch nicht zu Ende diskutiert. Wir haben jetzt erst einmal entschieden, dass unser städtischer Anbieter ins Wärmepumpengeschäft einsteigt, um den Umstieg zu unterstützen.
Hamburg ist auch Industriestadt. Was bedeutet die Krise für den Wirtschaftsstandort?
Wenn das Gas nicht mehr reicht, wird die Bundesnetzagentur zuteilen. Da wird geguckt, was zur kritischen Infrastruktur gehört und was nicht. Manche Betriebe würden weniger oder gar kein Gas mehr bekommen. Dessen müssen sich die Unternehmen bewusst sein. Es wäre falsch, wenn die Industrie nun sagen würde: Wir haben alles für Einsparungen getan, weitere Maßnahmen sind uns zu teuer. Das könnte sich im Winter rächen.
Müssen auch Privathaushalte mit Rationierungen rechnen?
Das ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Denn bestimmte Industrien wie Aluminium, Kupfer oder Glas kann man nicht abklemmen, da wären die Anlagen sofort Schrott. Es kann deswegen auch dazu kommen, dass der Gasbezug für private Haushalte im Winter beschränkt werden müsste.
Wie könnten Einschränkungen für die privaten Haushalte konkret
aussehen?
Wir müssen ausreichend Gas bei den Industriebetrieben
einsparen, ansonsten könnten Lieferbeschränkungen auf uns zukommen.
Im Notfall könnte die bisherige Vorlauftemperatur bei der Fernwärme
und damit Warmwasser nur zu bestimmten Tageszeiten zur Verfügung
gestellt werden. Auch eine generelle Absenkung der maximalen
Raumtemperatur wäre damit verbunden.
Was können Bürger jetzt tun?
Auf Vollbäder verzichten, kürzer duschen, Sparduschköpfe und moderne Thermostate einbauen, Heizungen besser einstellen lassen – etwa durch einen hydraulischen Abgleich. Das alles senkt auch die ohnedies zu erwartenden hohen Gasnachzahlungen. Je mehr wir jetzt einsparen, umso besser wird die Lage im Winter, weil sich die Speicher füllen.
Es gab auch Kritik an solchen Vorschlägen. Motto: Wir lassen uns doch nicht vorschreiben, wie wir zu duschen haben.
Hier geht es auch um eine Fürsorgepflicht für die Hamburgerinnen und Hamburger, die mit hohen Nachzahlungen rechnen müssen, das ist klar. Und da hilft Energiesparen. Aber ja, ich wurde auch kritisiert. Stattdessen solle man doch das Kohlekraftwerk Moorburg wieder hochfahren oder Atomkraft länger nutzen, hieß es.
Klingt nicht ganz unlogisch. CDU-Chef Merz hat auf Frankreichs viele Atomkraftwerke verwiesen und es als „Ideologie“ kritisiert, dass Deutschland seine letzten AKWs trotz der Krise abschalten wolle.
Wir Grüne reaktivieren Kohlekraftwerke und planen LNG-Plattformen. Da lasse ich mir von einer Partei, die sich aus ideologischen Gründen in dieser Lage gegen ein Tempolimit wehrt, nicht Ideologie unterstellen. AKWs helfen uns einfach technisch in dieser Lage nicht. Man kann sie, anders als Gaskraftwerke, nicht nur temporär nutzen, um Belastungsspitzen abzufangen. Außerdem kommt das Uran für die Brennstäbe vor allem aus Russland. Das sind deswegen Scheinlösungen und Schaufensterforderungen. Anders als Merz reden die Unions-Landesminister über so einen Quatsch gar nicht.
Was ist mit Moorburg?
Es steht nicht auf der Liste der Reservekraftwerke von Robert Habeck, und Vattenfall will es auch nicht wieder in Betrieb nehmen.
Kann es sein, dass stattdessen das veraltete Kohlekraftwerk Wedel länger laufen muss?
Nein. Wir starten in der Heizperiode 2023/24 wie geplant mit dem probeweisen Ersatzbetrieb, um es abzuschalten. Was wir allerdings jetzt leider nicht einhalten können, ist der Plan, im Sommer dort weniger Kohle zu verstromen. Dafür fehlt uns das Gas als Ersatz.
In Hamburg soll ein LNG-, also Flüssiggas-Terminal entstehen. Wie ist hier der Stand?
Wenn es gut läuft, könnte der Terminal im Mai 2023 in Betrieb gehen. Aber die Prüfungen, ob das bei uns möglich ist, sind noch nicht abgeschlossen. Als Standorte kommen Moorburg oder der Kattwykhafen infrage. Wir könnten hier große Mengen des per Schiff angelieferten Gases ins Netz einspeisen. Wenn wir allerdings Teile des Hafens dafür jeweils lahmlegen müssten, ginge das nicht. Bis Ende Juli sollten wir wissen, ob das der Fall ist.
Wie schädlich und gefährlich ist LNG?
Wir ersetzen zunächst russisches Gas durch Flüssiggas, und es gibt auch nicht nur durch Fracking gewonnenes LNG. Was die Gefahren angeht: Es können sich Gaswolken entzünden, oder es kann Gefrierungsprozesse geben. Aber Vergleiche mit der Explosion in Beirut oder gar Atombomben sind völlig übertrieben. Wir werden nur in Betrieb gehen, wenn die Sicherheit gewährleistet ist.
Kommen wir zum Klimaschutz. Da lief schon vor dieser Krise nicht alles rund in Hamburg: Die Zwischenbilanz zum Klimaplan sollte im Dezember vorliegen, ist aber immer noch nicht da. Bei Dachbegrünung, Photovoltaik-Anlagen oder der Aufforstung liegt die Stadt weit hinter ihren Zielen – genauso wie bei der immens wichtigen energetischen Sanierung von Gebäuden. Die CDU kritisiert das wöchentlich – zu Recht, oder?
Teilweise ist diese Kritik berechtigt, da müssen wir besser werden. Mit Hamburg Energie Solar wird es bei PV-Anlagen künftig deutlich schneller gehen auf öffentlichen Dächern. Eines ist aber klar: Der wesentlichste Punkt ist die Wärmeversorgung. Hier sind wir vorbildlich. Die Fernwärme ist der größte Emittent von CO2, hier werden wir den Ausstoß von einer Million auf 200.000 Tonnen pro Jahr senken. In Tiefstack haben wir jetzt ein wirklich revolutionäres Konzept vorgestellt. Durch die Nutzung von Abwärme und Flusswasserwärmepumpen könnten wir es damit schaffen, schon bis 2028 in der Wärme auf fossile Energie zu verzichten. In dieser Situation ist es ein Segen, dass der Volksentscheid 2013 erfolgreich war und wir jetzt unsere städtischen Unternehmen haben.
Ein ebenfalls extrem wichtiger Punkt ist die Gebäudesanierung. Da tut sich wenig.
Es macht mir auch Sorgen, dass hier große Fortschritte bisher nicht zu erkennen sind. Wir warten immer noch auf die Machbarkeitsstudie der Stadtentwicklungsbehörde. Ich gehe davon aus, dass der Zeitverzug durch ein dann schnelleres Tempo und schnelle Erfolge ausgeglichen wird.
Die Wohnkosten steigen durch die Energiekrise gerade rapide. Kann man Mietern jetzt noch zusätzliche Kosten durch bessere Dämmung abverlangen?
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Gerade jetzt rentiert sich Dämmung sehr schnell. Insofern ist diese Krise, so dramatisch sie ist, auch eine Chance. Es macht mich etwas unruhig, wenn ich öffentliche Forderungen höre, die energetischen Standards zu senken und unser Koalitionspartner mit uns das bereits beschlossene EFH 40 in öffentlichen Gebäuden diskutieren will. Das wäre unlogisch und kontraproduktiv – für Klima und Mieter.
Olaf Scholz und Friedrich Merz sehen die Lage ähnlich: Dies sei die Zeit der Ingenieure. Werden neue Technologien allein reichen, um Klima- und Energiekrise zu bewältigen – oder muss jeder von uns sein Verhalten stark verändern?
Wir brauchen neue Technologien, das ist klar. Aber wir müssen auch unseren Lebensstil ändern. Heute nutzt jeder Hamburger mehr Wohnfläche als in den Jahren der höchsten Einwohnerzahlen. Wir müssen uns fragen, ob wir alle so viel Fläche brauchen. Wir sollten keine neuen Einzelhäuser mehr über die bereits bestehenden und geplanten hinaus bauen und Hamburg langfristig anders planen. Ich wohne zwar auch in einem Einfamilienhaus, das kann aber letztlich nicht die Zukunft der Stadt sein. Wenn wieder mehr Menschen im Zentrum wohnen, würden viele Fahrten entfallen. Durch Homeoffice nicht mehr genutzte Bürogebäuden könnten zum Wohnen genutzt werden. Wir brauchen andere Formen der Mobilität, das Privatauto in der Stadt passt nicht mehr. Auch sollten wir den Fleischkonsum reduzieren und weniger fliegen, solange es kein klimaneutrales Fliegen gibt.
Verzichten Sie auf Fleisch?
Nein, noch nicht. Ich habe mir vorgenommen, an drei Tagen der Woche kein Fleisch zu essen. Daran arbeite ich. Ich frühstücke leider gerne deftig. Manchmal liegt dann doch ein Mettbrötchen auf dem Teller.
Und Sie fliegen häufig nach Mallorca.
Ja, auch das, weil meine Familie dort ein Haus hat. Leider kommt man nicht anders hin. Ich zahle aber einen CO2-Ausgleich.
Also scheitern auch Sie am völlig klimafreundlichen Leben.
Ja, aber ich arbeite weiter daran – und das sollten wir alle tun. Entscheidende Stellschrauben für den Klimaschutz sind letztlich aber die Umstellung von Energie, Produktion, Verkehr und Bauwirtschaft. Wenn es dort keine radikalen Veränderungen gibt, hilft auch private Verhaltensänderung nicht. Es war einer der genialsten PR-Tricks der Ölindustrie, den privaten CO2-Rechner auf den Markt zu bringen. Statt selbst extrem wirksame Veränderungen umzusetzen, wurde die Diskussion auf das Verhalten des Einzelnen gelenkt – auch wenn dessen Einfluss aufs Klima begrenzt ist. Anders als das der Ölindustrie.
Apropos Bauwirtschaft: Hamburg plant eine neue U-Bahn, deren Bau extrem viel CO2 freisetzen wird, was sich im Betrieb erst nach vielen Jahrzehnten amortisieren dürfte – also viel zu spät. Können Sie das guten Gewissens unterstützen?
Der Klimabeirat des Senats hat ja auf das Problem hingewiesen. Wir nehmen das sehr ernst. Man könnte z. B. prüfen, so viel wie möglich mit klimafreundlichem Stahl und Beton zu bauen. Wenn man diese Berechnungen anstellt, sollte man sie übrigens nicht auf die U5 beschränken. Wir müssen uns auch ansehen, wie klimaschädlich der Bau von Autobahnen ist. Und die sind ja nachher auch im Betrieb schädlich – anders als eine U-Bahn.