Hamburg. … und dann bitte genau das Gegenteil tun! So klappt es auch mit einer neuen Regierung. Ein Koalier-Knigge in sechs Punkten.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ist bekannt für aufwendige Faschingskostüme. Mal ging er als grünes Gespenst Shrek, mal als Bettel-Punk, er wagte sogar Crossdressing und kam als Marilyn Monroe. Nie war Söder allerdings verkleidungstechnisch weiter von sich selbst entfernt als 2016. Da trat er als Mahatma Gandhi auf. Dem indischen Nationalheiligen werden viele kluge Sätze zugeschrieben, etwa: „Glück ist, wenn das, was du denkst, was du sagst und was du tust, in Harmonie sind.“
Im politischen Alltag handelt Söder oft andersrum. Ironien und Sticheleien gehören ebenso zu seinem Repertoire wie der Tritt unter dem Tisch oder eine nicht eingehaltene Zusage. Denken, Sagen und Tun drifteten erst am Wochenende wieder auseinander. So schwänzte Söder den Deutschlandtag der Jungen Union, wohl aus Furcht vorm empörten Polit-Nachwuchs wegen seines eigenwilligen Wahlkampfs.
Koalitionsgespräche: Nicht wie Markus Söder verhandeln
Beim Verständnis, warum die Ampel-Gespräche bislang überraschend geschmeidig verliefen, ist der CSU-Chef überaus hilfreich. Die Unterhändler von SPD, FDP und Grünen müssen nur fragen: Was hätte Söder gemacht? Um dann exakt das Gegenteil zu tun. Ein Koalier-Knigge in sechs Punkten.
Team statt Erlöser. Lange galt in der Politik das Leitbild vom genialen Herrscher, der die Lage im Griff hat. Söder etwa kontrolliert seinen Freistaat bis in die Terminpläne seiner Minister hinein. In einer komplexen Welt stößt der Erlöser-Mythos an seine Grenzen. Es ist einfach zu viel für einen Menschen, inhaltlich wie konditionell. Ob grüne Doppelspitze oder SPD-Trio – moderne Führung wagt Arbeitsteilung, die wiederum Teamgeist erfordert, der schließlich auf Respekt und Ehrlichkeit fußt. Überrascht lobt der Solo-Vorsitzende Christian Lindner die vertrauensvolle Stimmung.
Vertraulichkeit statt Medienschlacht. Das weitgehende Stillhalten der Unterhändler ist Journalisten ein Graus, dem Ergebnis aber zuträglich. Denn mediale Schlachten via Interviews, wie Söder sie fast täglich gibt, sollen keine Probleme lösen, sondern Macht demonstrieren. So wachsen Missverständnisse, Verletzungen und schließlich Misstrauen.
Behutsame Inszenierung statt Starposter. Betritt Söder einen Raum, hört man reflexhaft scheinbar Fanfaren. Wie ein König, der seine Ländereien zeigt, fährt er mit der Kanzlerin Kutsche. Die Vorsondierungen der Zitrusfrüchtchen dagegen präsentierten ein behutsam geschöntes Viererbild, das eher an WG als an Palast erinnerte. Den vorläufigen Höhepunkt der neuen Bescheidenheits-Ästhetik bildet das Mannschaftsfoto der sechs Ampel-Kräfte: alle im seriösen, aber sichtbar nicht exklusiven Gewand, keinerlei Hierarchiesymbole, dafür alle auf Augenhöhe und in einer Linie. Keine Posterboys und -girls mit ausholender Machtgestik, sondern Frontleute des unaufgeregten Miteinanders. Baldrian für eine erregungserschöpfte Republik.
Ernst statt Ironie. Doppeldeutigkeiten („Mein Freund Armin“) mögen für Insider amüsant sein, nähren aber den Verdacht von Unernst und versteckter Agenda. Im Zeitalter des absichtsvollen Missverstehens werden ironische Sätze oft zum Bumerang. Die spaßbefreite Ansprache, die Angela Merkel 16 Jahre lang quälend diszipliniert durchhielt, wird von den mutmaßlich kommenden Koalitionären kopiert.
Führung nach innen statt Kraftmeierei nach außen. Kubicki, Hofreiter, Stegner – jede Partei hat ihre Querköpfe, die für krawallige Talkshow-Auftritte ihr Parteibuch verkaufen. Dass bislang wenig Querschüsse zu hören waren, spricht für eine gewisse Autorität der Führungsleute in ihren eigenen Apparaten.
Gönnen statt gieren. Die Grünen verzichten auf das symbolschwere Thema Tempo 130? Die FDP beschleunigt das Aus für Verbrenner? Die SPD verzichtet auf das Schlüsselressort Finanzen? Statt Maximalziele zu formulieren und rote Linien zu ziehen, gehen alle Beteiligten in Vorlage. Für die vertrackteren Detailverhandlungen ist damit eine Basis für Kompromisse gelegt.