Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über eine neue Normalität und das Leben mit dem Virus.
Wie jetzt? – so heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Darin unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, wie wir endlich aus der Pandemie herauskommen und lernen, mit dem Virus zu leben.
Lars Haider: Mein Journalistenkollege Jan Fleischhauer hat neulich folgenden Satz zur Corona-Pandemie gesagt: „Ich bin raus.“ Und damit etwas formuliert, was mir zu denken gegeben hat. Denn Fleischhauer hat, wie Sie und ich, in den vergangenen zwei Jahren alles gemacht, was man von uns verlangt hat: Impfen, boostern, Abstand halten, Maske tragen, Kontakte reduzieren, testen, Homeoffice, das volle Programm. Wenn er jetzt sagt, dass er raus ist, meint er nicht, dass er sich fortan unvernünftig verhalten will. Sondern, dass er angesichts des ungewissen Ausgangs und Ende der Pandemie begonnen hat, ein Leben zu leben, das sich mit dem Virus arrangiert. Vielleicht hat der Virologe Hendrik Streeck doch recht gehabt, als er schon zu Beginn der Krise sagte, dass wir lernen müssen, mit Corona zu leben.
Dieter Lenzen: Als die Corona-Krise ausgebrochen ist, konnte keiner wissen, dass es Mutationen geben wird, die fast wie ein Neubeginn der Pandemie sind. Ich glaube, dass sich viele Virologen, die in den vergangenen zwei Jahren ein baldiges Ende der Pandemie vorhergesagt haben, zu weit nach vorn gewagt haben. Ich glaube auch, dass wir uns langsam an eine Normalität gewöhnen müssen, es wird aber eine andere sein als die, die wir vor 2020 kannten. So wie damals wird unser Leben nicht wieder werden. Wir werden weiter, zumindest im Winter, Masken tragen müssen, wir brauchen eine Impfpflicht, es geht gar nicht anders.
Die Frage ist doch: Wie lange wollen, sollen, müssen wir noch warten, bis wir beginnen, uns das Leben wieder zurückzuholen? Die Hoffnung, die uns die Experten gemacht haben, haben sich auf jeden Fall nicht bestätigt. Die Weltgesundheitsorganisation hat zum Beispiel gesagt, dass die Pandemie nach zwei Jahren zu Ende sein wird …
Lenzen: Da sind wir drüber, und möglicherweise wird die Pandemie noch ein paar Jahre dauern. Menschen werden unterschiedlich damit umgehen, und im Kern steht die Frage, wie man sein Leben wahrnimmt und was man für ein erfülltes Leben hält. Wenn das Leben darin besteht, Partys zu machen oder in den Urlaub zu fahren, ist das etwas anderes, als wenn es darum geht, Bücher zu lesen und gern im Garten zu arbeiten.
Sind wir uns denn wenigstens einig, dass Lockdowns, in welcher Form auch immer, die Probleme, die wir mit dem Virus haben, nicht lösen?
Lenzen: Dauerhaft nicht. Aber das Argument für solche Maßnahmen ist jedes Mal gewesen, dass eine Überlastung des Gesundheitswesens oder der kritischen Infrastrukturen vermieden werden muss. Will sagen: Es geht bei solchen Entscheidungen gar nicht vorrangig um Sie oder mich.
Aber noch mal: Das kann doch jetzt nicht weitere zwei, drei Jahre so gehen. Müssen wir uns der Pandemie nun nicht anders nähern und versuchen, so etwas wie ein normales Leben zurückzubekommen? Es gibt Kinder, die kennen einen Schulalltag ohne Masken gar nicht.
Lenzen: Man kann doch aber nicht ernsthaft behaupten, dass das Leben nicht lebenswert sei, nur, weil man eine Maske tragen muss.
Auf Dauer ist es doch schwierig, wenn Schülerinnen und Schüler die Gesichter ihrer Gegenüber nicht mehr sehen.
Lenzen: Ich halte das für ein Übergangsproblem. Menschen können sich an alles gewöhnen und finden dann neue Formen von Körpersprache. Die Bedeutung des Augenkontakts nimmt zu, ich meine auch eine verstärkte Gestik beobachten zu können. Ich bin optimistisch, dass unsere Flexibilität und Evolutionsfähigkeit uns hilft, das zu überstehen, vielleicht nicht in zwei Jahren, aber auf Dauer schon. Wir haben das ja schon mal erlebt, als die HIV-Infektion auftauchte. Heute ist Geschlechtsverkehr mit Kondomen selbstverständlich, darüber würde niemand mehr diskutieren. Man braucht Geduld, ich bin sicher, dass wir nach einer angemessenen Zeit, vielleicht nach fünf Jahren, unser Leben an die neue Lage adaptiert haben.
Nach fünf Jahren? Die Leute können doch jetzt schon nicht mehr …
Lenzen: Es gibt in der Philosophie eine Reihe von Lebenskonzepten, eines ist der Stoizismus. Das heißt, dass man sich stoisch den Herausforderungen des Lebens gegenübersieht und sie einfach hinnimmt. Heißt auch: Wenn eine Pandemie kommt, dann kommt sie halt.
Aber wenn es ist, wie es ist, dann kann ich auch fatalistisch sein und einfach so weitermachen, wie ich möchte.
Lenzen: Fatalistisch sein heißt wörtlich „schicksalsergeben“ sein, und das ist auch nichts Schlimmes.
Aber müssen wir uns wirklich damit abfinden, eingesperrt zu sein?
Lenzen: Nein, das muss man nicht. Aber man kann sich auch fragen, ob man sich überhaupt eingesperrt fühlen muss. Wir sind ja nicht im Gefängnis, wir sind zu Hause.
Kurzfristig kann man dem sicher etwas abgewinnen, am Anfang wirkte die Pandemie auf einige ja auch wie ein großes Abenteuer. Aber inzwischen würde ich mich gern mal wieder unbefangen mit anderen Menschen treffen können, und nicht nur mit denen, die dreimal geimpft und zweimal genesen sind – solche kenne ich übrigens wirklich.
Lenzen: Ich sage es gern noch mal: Wir werden uns an eine andere Wirklichkeit gewöhnen müssen. Es wird kein „normales Leben“ mehr geben, dass sich die Menschen am Beginn der Pandemie zurückgewünscht haben. Es wird sich unterscheiden.
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Vielleicht ist das der Punkt, der jetzt vielen klar wird: Die Wissenschaftler und Politiker, die suggeriert haben, wie wir unser normales Leben, also das Leben vor 2020, zurückbekommen, haben sich geirrt. Das ist arg desillusionierend.
Lenzen: Das stimmt, und die Entwicklung lässt sich am ehesten mit Kriegserlebnissen vergleichen. Erst unternimmt man alles, um sich etwa vor Bombenangriffen zu schützen. Dann beginnt die Phase, in der man nur darauf wartet, dass das alles aufhört. Und schließlich kommt die Zeit, in der die Menschen fatalistisch werden. Umso erleichterter werden sie, werden wir sein, wenn es einen wirklichen Neuanfang gibt, nicht eine primitive Rückkehr zum alten Leben.