Hamburg. Kein Zuhause und dann noch das Virus: Chefredakteurin Annette Bruhns kämpft für Obdachlose und fühlt Politikern auf den Zahn.
Die Corona-Pandemie und der Lockdown, die hohe Zahl an toten Obdachlosen sowie der aufziehende Bundestagswahlkampf 2021 haben auch beim Hamburger Straßenmagazin „Hinz und Kunzt“ Spuren hinterlassen. 80 von den 530 Verkäufern mit dem offiziellen H&K-Ausweis mussten ihre Arbeit wegen mangelnder Kundschaft einstellen.
Wenn Restaurants geschlossen sind, die Pendlerströme versiegen, hinter jedem Kontakt eine Corona-Infektion lauern könnte, bleibt für die Hinz und Künztler nicht mal die Option Homeoffice. Sie haben kein Zuhause, ihr Büro ist die Straße. Und die Obdachlosigkeit auch in Hamburg zeigt dramatische Trends.
„Bei ,Hinz&Kunzt‘ klopfen regelmäßig Menschen aus Osteuropa an, um Magazinverkäufer zu werden: Frauen, die in Tränen ausbrechen, wenn sie abgewiesen werden, weil es nicht genug Verkaufsplätze gibt. Männer, deren verhärmte Gesichter noch härter werden, oft mit Kindern im Schlepptau“, sagt H&K-Chefredakteurin Annette Bruhns im Gespräch mit dem Abendblatt. Es spielten sich „grausame Szenen“ ab.
"Hinz und Kunzt": Grausame Szenen und politischer Knatsch
Das 1993 erstmalig erschienene Monatsmagazin (Auflage: knapp 60.000) geht publizistisch gesehen jetzt noch kämpferischer dahin, wo es wehtut. Zwischen Hamburgs Obdachlosenstimme und der Sozialbehörde von Melanie Leonhard (SPD) brennt die Luft.
Die bedrückende „Rekordzahl“ von, je nach Zählweise, mindestens zwölf toten Obdachlosen in diesem ersten Corona-Winter sowie die Furcht vor Massenunterkünften und Gewalt auf der Straße lassen die Hinz und Künztler an der Politik des Senats verzweifeln. Der wiederum setzt auf sein Winternotprogramm, längere Öffnungszeiten und Hygienekonzepte.
Die Obdachlosen-Lobby lobt die privaten Initiativen in der Stadt, die Dutzende Hotelzimmer für die öffnen, die sonst „Platte machen“. H&K-Chefin Bruhns favorisiert ein Modell, das „Housing First“ heißt, aus den USA komme, in Finnland bereits erprobt sei und die Obdachlosigkeit nachweislich senke.
Während sich in Deutschland Menschen erst „bewähren“ müssten, um ein permanentes Obdach zu bekommen, gilt hier umgekehrt: erst die eigenen vier Wände, Beratung, dann Jobangebote. In Wien hätten die „Chancenhäuser“ bereits jeden zweiten ihrer Gäste von der Straße geholt.
Verkäufer haben Masken und Zugang zu Corona-Schnelltests
In Hamburg haben H&K-Verkäufer jetzt immerhin dauerhaften Nachschub an gespendeten Masken. Sie haben Zugang zu Schnelltests auf Corona. Doch trotz der großen Spendenbereitschaft der Deutschen in der Pandemie können die Obdachlosen nicht so recht profitieren.
Das Magazin kann nicht direkt beim Verkäufer kon-taktlos oder online bezahlt werden. Das bei vielen Lesern übliche Trinkgeld lässt sich schlecht am „Point of sale“ vor Ort per Paypal oder Kreditkarte überweisen. Der Kontakt zum Verkäufer, sagt H&K-Chefin Bruhns, lasse sich auch nicht durch einen digitalen Download ersetzen.
Die Obdachlosen und ihre Belange, sagt Bruhns, würden zerrieben irgendwo zwischen dem, was die Politik vor Ort seit Jahren laufen lasse und der verheißungsvollen Resolution des Europäischen Parlaments, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen.
In Hamburg spricht die überwiegende Mehrheit der auf den Straßen lebenden Menschen kein Deutsch, hat extreme Berührungsängste mit der bürokratischen Obrigkeit und verkauft ihren Rest an Arbeitskraft tageweise an Baustellenaufseher oder Kolonnenführer im Dienstleistungsgewerbe.
Mit wenigen Euro Handgeld, Rucksäcken und oft einer gehörigen Fahne in der Atemluft stehen die zumeist aus Osteuropa stammenden Wanderarbeiter dann vor den Unterkünften wie an der Kollaustraße in Lokstedt.
Viele Hamburger Obdachlose sind Wanderarbeiter aus Osteuropa
Bruhns sagt: „Während 2009 mehr als zwei Drittel der Obdachlosen Deutsche waren (71 Prozent), hatten sich 2019 die Verhältnisse verkehrt: Fast zwei Drittel hatte keinen deutschen Pass. Fachleute gehen davon aus, dass heute 80 Prozent der schätzungsweise 48.000 Obdachlosen in ganz Deutschland aus dem Ausland kommen, vor allem aus Polen, Rumänien, Bulgarien.“
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Die Chefredakteurin hat dem Magazin einen kämpferischeren Kurs anempfohlen. Im Verbund mit einem guten Dutzend weiterer Straßenmagazine von Kiel bis München fühlt H&K jetzt den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl auf den Zahn.
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