In Wilhelmsburg sollten bis zum 60. Jahrestag Räume fertig sein, die an die Naturkatastrophe von 1962 erinnern. Sollten.
Der Wilhelmsburger Deichbruch hat es in sich: 46 Kräuter und 40 Volumenprozente, im Volksmund „Umdrehungen“ genannt. Kenner schätzen den würzigen Geschmack des nach uraltem Rezept hergestellten Likörs. Mancher konnte zuletzt einen Schluck Schnaps gut gebrauchen. Um die aktuelle Nachrichtenlage zu verdauen: Das Museum Elbinsel an der Kirchdorfer Straße wird wohl erst 2025/26 wiedereröffnet. Bestandteil soll ein neues Flutmuseum sein. Ursprünglich war der Start für 2022 vorgesehen – passend zum 60. Jahrestag der Katastrophe.
Geplant und geredet wurde viel, in die Tat umgesetzt nichts. Dabei schien alles gut im Fluss zu sein in Wilhelmsburg. Eine riesige Plakatwand steuerbords des traditionsreichen, indes maroden Amtshauses verheißt Großes: „Generalsanierung“. Im Hintergrund ist die Fotomontage einer restaurierten Villa zu sehen. Schönheitsfehler auf dem Plakat ist ein roter Schrägbalken: „Planungsverzögerung“. Anders formuliert: Im Behördenwirrwarr ist eine Menge den Bach runtergegangen.
„Natürlich ärgert das auch mich“, bekennt Finanzsenator Andreas Dressel frank und frei. „Wir bedauern die Verzögerung sehr.“ Er wäre gerne weiter. Andererseits sei der Schwebezustand um ein ehrwürdiges Stück Heimatgeschichte südlich der Elbe nunmehr ad acta gelegt. Wahrscheinlich 2022 sollen die Bauarbeiten im ehemaligen Amtshaus und in den Nebengebäuden losgehen.
Flutmuseum: Geld vom Bund fehlt
Statt ursprünglich 9,9 Millionen Euro stehen nun noch 5,9 Millionen Euro zur Verfügung. 1,45 Millionen davon sind Baunebenkosten sowie Aufwendungen für Projektleitungen. Unter dem Strich verbleiben rund 4,5 Millionen für die Restaurierung. Die einkalkulierten Bundesmittel in Höhe von 1,8 Millionen Euro? Fehlanzeige. „Wir haben quasi die Resettaste gedrückt“, sagt Senator Dressel, „und sind nun unseres eigenen Glückes Schmied.“
Für den Sozialdemokraten ist das in einen Park eingebettete Heimatmuseum eine Herzensangelegenheit. Als Hanseat bleibt Dressel vornehm. Öffentlich.
Flutmuseum: Ohne Öffnungszeiten kein Bundeszuschuss
Um einer nebulösen Entwicklung auf den Grund zu gehen, wird ein Treffen mit den Aktivisten des Vereins Museum Elbinsel Wilhelmsburg vereinbart. Am Tisch in der gemütlichen Bibliothek des Amtshauses kommen der Vorsitzende Gerd Nitzsche und sein Stellvertreter Peter Beenk zur Sache. Beide engagieren sich ehrenamtlich, Erinnerungen an lokale Geschichte und an die verheerende Sturmflut am Leben zu erhalten. 260 Mitglieder machen mit.
Und eben weil der Einsatz in der Freizeit erfolgt, kann der Verein keinen professionellen, täglichen Museumsbetrieb gewährleisten. Regelmäßige Öffnungszeiten jedoch wären eine Voraussetzung für die Bewilligung von Bundesmitteln. Weitere Notwendigkeit ist eine nationale Bedeutung. Zwar trifft dies auf die Sturmflut zu, indes nicht auf die Stadtteilgeschichte. Zumal die Ausstellungsgröße von maximal 600 Quadratmetern diesem Anspruch nicht gerecht würde.
„Wir haben jetzt eine andere Lösung als gedacht“, sagt Gerd Nitzsche. Dafür gebe es nach langer Verzögerung endlich einen Zeitplan. Basis ist eine siebenseitige Senatsdrucksache vom 23. März 2021 inklusive Kostenberechnung. Der früher selbstständige Kaufmann mit Wohnsitz in der Hamburger Neustadt ist im Umfeld des Museums ausschließlich unter seinem Spitznamen „Needle“ bekannt. So steht es sogar auf der Visitenkarte.
Flutmuseum: Wie Hamburg das fehlende Geld vom Bund kompensiert
Nitzsche skizziert das künftige Gerüst. Während das Immobilienmanagement LIG der Stadt Hamburg Eigentümer und Bauherr des Grundstücks sowie der Gebäude ist, übernimmt die gleichfalls städtische Sprinkenhof-Gesellschaft die Umsetzung. Als Träger des Museums fungiert der Bezirk Mitte. Dort ist Wilhelmsburg angesiedelt. Gemeinsam mit der Kulturbehörde und dem Museumsverein will der Bezirk ein langfristiges Betriebskonzept erstellen.
„Jetzt wurde eine dauerhafte Perspektive gesichert“, sagte Josefina Kordys im Namen des Bezirksamtes. Es werde eine regionale Lösung entwickelt, damit der „besondere Charme des Museums erhalten bleiben kann“. Denn genau diese regionale, für Wilhelmsburg typische Note lockte in der Vergangenheit mehr als 10.000 Besucher jährlich an. Das Café im Erdgeschoss ist heimelig. Bis zur vorübergehenden Schließung des Museums 2019 war ausschließlich sonntags für vier Stunden geöffnet.
„Nachdem aufgrund der Förderrichtlinien klar wurde, dass die Chancen auf die zunächst zugesagten Bundesmittel bedauerlicherweise minimal sind, musste das Projekt leider umgeplant und auch etwas abgespeckt werden“, sagt Finanzsenator Dressel. „Nunmehr haben wir aber einen klaren Plan – manifestiert mit einem eindeutigen Senats- und Bürgerschaftsbeschluss.“
Neuer Zeitplan für das Flutmuseum
Im Laufe des Jahres 2022 sollen Baugenehmigungen eingeholt und europaweite Ausschreibungen erfolgt sein. Zug um Zug soll die Restaurierung vorangehen. 2023 will der Museumsverein, dem die gesamte Ausstellung gehört, die Villa komplett geräumt haben. Mindestens zwei Jahre sollen 1200 Einzelstücke und 2600 Bücher fachgerecht ausgelagert werden. Dafür sind rund 250.000 Euro veranschlagt.
Nach Wiedereröffnung wird dem Thema Sturmflut größerer Raum als je zuvor eingeräumt. Im 1. Stockwerk sind vier Zimmer vorgesehen. Geplant sind ein Kino, Informationen über die Historie des Deichbaus, ein Gedenkraum für die 315 Hamburger Opfer von Februar 1962, Schautafeln. In den vergangenen sechs Jahrzehnten haben Mitglieder und Freunde des Vereins Museum Elbinsel Erinnerungsschätze gesammelt. Einige von ihnen, darunter eine Flasche mit Originalflutwasser aus dem Heizungskeller des Wilhelmsburger Rathauses, waren zuletzt monatelang beim Museumsverbund Nordfriesland in Husum zu sehen.
„Nicht nur in Wilhelmsburg ist die Flutkatastrophe unvergessen“, weiß Peter Beenk. Der 81 Jahre alte Ingenieur gehört dem Museumsverein seit 35 Jahren an, davon die Hälfte im Vorstand. Als 1962 die Deiche brachen und die Elbinsel überflutet wurde, hielt er sich im 1. Stock seines Elternhauses im Reiherstiegviertel auf. „Unsere Ausstellung ist beeindruckend“, sagt Beenk. Er weiß, wovon er spricht.
Skala im Treppenhaus: 5,70 Meter über Normalnull
Gemeint sind Koffer mit Habseligkeiten, Gummistiefel, Wolldecken, Paddel, Zeitungsausschnitte, jede Menge Fotos. Vom Deutschen Wetterdienst stammen holzverkleidete Fernschreiber aus damaliger Zeit, ein Kartenzeichnungsgerät, Alarmmeldungen. Insgesamt ergibt sich ein einmaliger Eindruck.
Auch wenn der Etat erheblich sank, freut sich der Vereinsvorsitzende Gerd „Needle“ Nitzsche über die beschlossene Planung: „Wir haben grünes Licht und machen das Beste daraus.“ Guter Dinge führt er durch das ehemalige Amtshaus, dessen Charakter im Kern erhalten bleiben soll. Der Gewölbekeller unten wurde 1620 angelegt. Einstmals stand hier ein Schloss. Im Treppenhaus befindet sich eine Skala mit dem Wasserstand der 1962er-Sturmflut. 5,70 Meter über Normalnull. Unfassbar. Und Warnung zugleich.
Auf dem Vorplatz, verrät Gerd Nitzsche zum Schluss, soll bei Neueröffnung des Museums ein Denkmal errichtet werden: „Die Woge“. Dieses Flutmahnmal befindet sich aktuell auf einer Brachfläche in der Nähe. Wenn letztlich alles in die Tat umgesetzt wurde, will „Needle“ einen Wilhelmsburger Deichbruch ausgeben.
Versprochen.