Hamburg. Dieter Lenzen und Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider sprechen über den Ausgang der Bundestagswahl – und eine offene Frage.

Wie jetzt? heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. In der Reihe unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es natürlich um den Ausgang der Bundestagswahl und die nach wie vor offene Frage, wer künftig Deutschland regiert.

Lars Haider: Aus dem Sport kenne ich es so: Wenn es dort ein wichtiges Spiel gibt, dann wird mit allen Mitteln gekämpft, manchmal auch hart und nicht ganz fair. Aber wenn alles vorbei ist, gibt man sich die Hand, der Verlierer gratuliert dem Sieger. Das ist bei der Bundestagswahl nicht so richtig passiert, wenn man Armin Laschet zuhört, könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, als habe es diese Wahl gar nicht gegeben. Es gibt einen Sieger, aber der Verlierer scheint das nicht zu akzeptieren.

Dieter Lenzen: Fest steht: Natürlich ist die CDU/CSU im Vergleich zu früheren Ergebnissen bei Bundestagswahlen der große Verlierer, und damit auch ihr Spitzenkandidat, auf den die Niederlage sicherlich zu größeren Teilen zurückzuführen ist. Man muss wissen, wann etwas zu Ende ist, und damit scheint Armin Laschet ein Problem zu haben. Olaf Scholz hat als derjenige, der nicht nur die stärkste Partei anführt, sondern auch den größten Aufwärtstrend vorzuweisen hat, einen moralischen Anspruch, Chef der nächsten Bundesregierung zu werden.

Robert Habeck im Mai 2021 im Berliner Invalidenpark.
Robert Habeck im Mai 2021 im Berliner Invalidenpark. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Lars Haider: Gehört es sich nicht, nach einer Wahl zu akzeptieren, dass es jemanden gibt, der für seine Partei mehr Stimmen gewonnen hat als man selbst? In unserem Land ist es gelernte und gelebte Praxis, dass derjenige, der die Wahl gewonnen hat, auch den Anspruch formuliert, die Regierung zu führen.

Dieter Lenzen: Ich glaube, dass das eine Persönlichkeitsfrage ist. Es ist verstörend, wenn man als Spitzenkandidat nach einer solchen Niederlage derartige Ansprüche erhebt wie Armin Laschet. Und ich glaube auch nicht, dass es klug ist. Nehmen wir mal an, eine Jamaika-Koalition käme zustande. Dann würde sich die Frage stellen, ob die Kompromisse, die Laschet dafür machen muss, nicht so groß sind, dass er am Ende weder seine Partei noch sich selbst wiedererkennt.

Lars Haider: Vor allem stellt sich die Frage, was der Wähler wollte. Und das ist eindeutig: Es gibt kein einziges Indiz dafür, dass die Wählerinnen und Wähler Armin Laschet als Kanzler haben wollen, im Gegenteil.

Dieter Lenzen: Die Wählerinnen und Wähler fokussieren sich auf eine Person, in die sie etwas hineindeuten, von dem sie gar nicht wissen, ob das überhaupt zutrifft. Die Menschen, die wir als Kanzlerkandidaten erlebt haben, spielen ein Spiel. Sie sind Schauspieler, da darf man sich nichts vormachen.

Christian Lindner und Armin Laschet während der Sondierung 2017.
Christian Lindner und Armin Laschet während der Sondierung 2017. © picture alliance | Michael Kappeler

Lars Haider: Nach Ihrer These hätte dann der schlechteste Schauspieler die Wahl gewonnen.

Dieter Lenzen: Was heißt schon gewonnen?

Lars Haider: Jetzt reden Sie schon wie ein CDU-Politiker. Die vergessen aber, wie die Ära Angela Merkel begonnen hat. Können Sie sich noch an das Ergebnis der Bundestagswahl von 2005 erinnern?

Dieter Lenzen: Nein, aber Sie werden es mir gleich sagen.

Lars Haider: Die CDU/CSU hatte mit Merkel 35,2 Prozent, die SPD mit dem amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder 34,2 Prozent. Das heißt, der Abstand war geringer als jener zwischen den beiden Parteien bei der aktuellen Wahl - und trotzdem hat die Union daraus selbstverständlich den Anspruch abgeleitet, die nächste Bundeskanzlerin zu stellen. Und der Einzige, der widersprochen hat, war Gerhard Schröder, der Rest ist Geschichte.

Dieter Lenzen: Die Frage ist, ob es heute überhaupt noch berechtigt ist, angesichts der großen Zahl von Parteien, die in den Bundestag gewählt worden sind, von Siegern zu sprechen. Ich kenne noch Zeiten, in denen es selbstverständlich war, dass eine der beiden Volksparteien irgendetwas zwischen Ende 30 und Ende 40 Prozentpunkte hatte. Das gibt es nicht mehr, die größte Partei repräsentiert nur ein Viertel der Wähler.

Lars Haider: Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagt gern, wie Sie, dass die Partei des nächsten Kanzlers von 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht gewählt worden ist. Umgekehrt muss er sich aber auch sagen lassen, dass sogar 89 Prozent seine Liberalen nicht gewählt haben, die sich jetzt in der Rolle des Kanzlermachers gefallen.

Dieter Lenzen: Was die FDP und die Grünen da gerade mit ihren eigenen Vorsondierungen machen, ist schon geschickt. Man muss sehen, wie groß die Gemeinsamkeiten sind, die ersten Kontakte wirken vielversprechend.

Lars Haider: Ist es vorstellbar, dass die beiden kleineren Parteien sich am Ende entscheiden, Armin Laschet zum Kanzler machen, so als hätte es all die Zahlen und Erlebnisse der vergangenen Monate nicht gegeben?

Dieter Lenzen: Moralisch und vom gesunden Menschenverstand her ist das vielleicht nicht vorstellbar. Aber manchmal geht es halt einfach nur um Macht und das Pokern darum. Wenn die Angebote der CDU/CSU so sind, dass Grüne und FDP nicht Nein sagen können, ist das möglich. Es würde sicher eine Empörung durch das Land gehen, wenn Laschet über diesen Weg doch noch Kanzler werden sollte, und die wäre sehr verständlich. Viel spricht dafür, dass es eine Ampel wird.

Lars Haider: Ist das Kernproblem nicht, dass es dem Mann, der am stärksten um eine Jamaika-Koalition kämpft, nicht zuerst um das Land, sondern um sich geht? Denn wenn Laschet nicht Kanzler wird, ist seine politische Karriere schlicht beendet, er hat nur noch diese eine Möglichkeit, sich zu retten. Das kann doch kein Motiv sein, ein Land führen zu wollen.

Robert Habeck, Annalena Baerbock, Claudia Roth, Olaf Scholz und Katrin Göring-Eckard bei der Feier zu 40 Jahren Grüne.
Robert Habeck, Annalena Baerbock, Claudia Roth, Olaf Scholz und Katrin Göring-Eckard bei der Feier zu 40 Jahren Grüne. © imago images/Mike Schmidt | i

Dieter Lenzen: Das ist natürlich peinlich. Aber Machtpoker schreckt auch vor Peinlichkeiten nicht zurück.

Lars Haider: Aber die Menschen sind nicht blöd. Ich stelle mir gerade vor, die Grünen würden mit der CDU/CSU genau die Parteien in die Regierung hieven, von denen Annalena Baerbock gerade noch gesagt hat, dass sie nach 16 Jahren Merkel in die Opposition gehören. Ich glaube, die Mitgliederzahl der Grünen würde sich in kürzester Zeit halbieren …

Dieter Lenzen: Man wird einkalkulieren müssen, welche mittel- bis langfristigen Folgen eine solche Entscheidung haben würde. Das gilt für alle, übrigens auch für die CDU. Denn die Frage ist, ob eine Jamaika-Konstruktion unter einem Kanzler Laschet vier Jahre halten würde – ich hätte da große Zweifel.

Lars Haider: Es kommt hinzu, dass sich die CDU nach diesem Ergebnis und 16 Jahren Angela Merkel erneuern muss. Was schwer geht, wenn der Mann, der hauptverantwortlich für das schwache Ergebnis ist, weiter CDU-Vorsitzender bleibt und sogar Kanzler wird.

Dieter Lenzen: Wenn Roman Herzog noch leben würde, würde er sagen, dass ein Ruck durch die Partei gehen muss. Eine Erneuerung funktioniert besser in der Opposition, weil man sich als Regierungspartei ständig zusammenreißen muss und Köpfe rollen können, ohne dass die Regierung beschädigt wird.

Dieter Lenzen: Wir müssen noch über Olaf Scholz reden.

Lars Haider: Unbedingt. Wir kennen ihn gut aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister. Ich hätte wenig darauf gesetzt, dass Olaf Scholz einmal in die Nähe des Kanzleramtes kommt. Spätestens nachdem er die Wahl um den SPD-Vorsitz verloren hatte, schien seine politische Karriere beendet. Und dann das …

Dieter Lenzen: Um eine weitere Fußball-Metapher zu verwenden: Der Sieg des einen hängt davon ab, wie stark beziehungsweise schwach der andere ist. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: In einer solchen schwierigen Situation, in der sich Deutschland befindet, suchen sich die Wähler die Person als Kanzler aus, von der sie glauben, dass sie zuverlässig ist, klare Ansagen machen kann und die Dinge schon geregelt bekommt. Das war und ist Olaf Scholz, der von sich das Bild vermitteln konnte, ein Politiker zu sein, der sagt, was er tut, und tut, was er sagt. Und wir in Hamburg, die Herrn Scholz gut kennen, können sagen, dass dieses Bild nicht falsch ist. Was man mit ihm vereinbart hat, das passiert auch. Scholz ist keiner, der Versprechungen macht, die er nicht einhalten kann. Bei ihm weiß man, woran man ist.

Lars Haider: Sie haben ihn auch als Verhandler erlebt. Wie ist er?

Dieter Lenzen: Das Erstaunliche war, dass er vieles selber verhandelt hat, er hätte das in unserem Fall ja auch der Wissenschaftssenatorin überlassen können. Ansonsten zeichnet er sich durch hohe Sach- und Detailkenntnis aus, aber gleichzeitig durch beinharte Positionen. An alles, was wir beschlossen haben, hat er sich gehalten.

Lars Haider: Sind Sie in den Gesprächen, die Sie geführt haben, dem Menschen Olaf Scholz nähergekommen?

Dieter Lenzen: Ja. Ich glaube, dass er sich nach Personen sehnt, denen er vertrauen kann. Die gibt es, aber nur in kleiner Zahl. Ich sehe bei Olaf Scholz eine menschliche Seite, die sehr stark verdeckt, aber gleichzeitig sehr stark ist. Wenn man die aufdecken kann, kommt eine zweite Person zum Vorschein, mit der ich gut umgehen kann.