Hamburg. Yuriy Nepomnyashchyy ist Klarinettist und lebt seit zwei Jahrzehnten in Deutschland. Die Nachrichten aus der Heimat sind kaum erträglich.

Donnerstagnacht, 23.54 Uhr: Eine elfminütige Ansprache von dem ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, wird auf dem Ver­khovna-Rada-Kanal im Messengerdienst Telegram übertragen. Selenskyj sagt, dass jetzt der letzte Moment gekommen sei, sich gegen die Propaganda in russischen Nachrichtensendungen zu stemmen. Yuriy verfolgt die Rede auf seinem Smartphone. Seit ein paar Tagen ist das Handy quasi ein Teil seines Armes.

Mein Freund ist Ukrainer, mit 13 Jahren kam er nach Deutschland, jetzt ist er über 30. Seine Eltern wollten, dass er in Deutschland eine gute Ausbildung bekommt. Zunächst lebten sie in einer Flüchtlingsunterkunft, später zogen sie in eine eigene Wohnung in Dresden. Wie sein Vater ist Yuriy Klarinettist, Orchestermusiker. Seinen ukrainischen Pass hat er noch immer, die Einbürgerung wurde immer wieder verschoben.

Eigentlich mag ich es nicht, wenn Journalisten in der Ich-Form schreiben, und eigentlich bin ich hier auch gar nicht getroffen. Das Schreiben lenkt ein bisschen von der Hilflosigkeit ab. Hier im Norden von Deutschland scheinen wir zu weit weg zu sein.

Das Warten auf ein Lebenszeichen der Großmutter

Yuriy will alles mitkriegen, auch wenn er es kaum erträgt, die Tragödie, die sich aktuell in der Ukraine abspielt, zu beobachten. Alle Vorbereitungen, die Freunde und Verwandte von Yuriy in den vergangenen Monaten und Wochen getroffen haben, erscheinen im Nachhinein sinnlos. Dass angrenzende Regionen wie Transnistrien und Weißrussland die ­Ukraine auch angreifen werden, damit habe er nicht gerechnet, sagt Yuriy. Sein Sandkastenfreund Alexander ist vor einem Monat – als erste russische Panzer sich an der Grenze zu Gruppen bildeten – von der gemeinsamen Heimat Charkiv nach Lemberg gezogen. Er hatte Angst, vom ukrainischen Militär eingezogen zu werden. Jetzt wird auch Lemberg angegriffen.

2 Uhr: Videos auf YouTube zeigen die vielen Panzer, die in die Ukraine einrollen. Es sind so viele, dass man sie kaum zählen kann. Kein einziger besitzt ein Erkennungsmerkmal der russischen Armee. Lediglich ein „Z“ ist auf ihnen abgebildet. Ukrainer scheinen es mit Humor zu nehmen – ob Zorro im Anmarsch sei, wird in Videos belustigt gefragt.

Helena Davenport ist Redakteurin beim Abendblatt
Helena Davenport ist Redakteurin beim Abendblatt © Helena Davenport | Helena Davenport

4 Uhr: Yuriy wacht panisch auf, schreibt seinem Vater. Gennadi ist seit zwei Jahren Deutscher, die Mutter ebenfalls, ihren Namen Nepomnyashchyy (ins Deutsche übersetzt so in etwa: Ich habe vergessen) haben sie in Nepomniaschi geändert, damit Deutsche ihn besser aussprechen können. Gennadi sagt, dass er auch eben gerade aufgewacht sei. Im Telegram-Kanal zu Nachrichten aus dem Stadtteil in Charkiv, in dem beide geboren und aufgewachsen sind, XTZ nennt er sich, wird verbreitet, dass eine Rakete explodiert ist. Nur wenige Straßen von dem Haus entfernt, in dem heute noch Yuriys Oma lebt. Getroffen wurde ein Wohnhaus. (Zur Erklärung: X steht für Charkiw. Die Stadt beginnt im Kyrillischen mit dem Buchstaben X. T steht für Traktoren und Z für das Wort „Werk“ im Ukrainischen)

8 Uhr: Ich frage Yuriy, ob es nicht besser wäre, zu heiraten. Was, wenn er eingezogen wird, obwohl er im Ausland lebt. Er rollt mit den Augen: Das sei ja nun totaler Quatsch, dass man ihn aus Deutschland einziehen könnte. Ich komme mir ziemlich egoistisch vor.

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13.40 Uhr: Er fühle sich schuldig, sagt Yuriy, schuldig dafür, dass er nie gedacht hätte, dass es zu dieser Entwicklung kommt. Seit Stunden versucht er, Verwandte und Freunde zu erreichen. Plötzlich ein Lebenszeichen von seinem Neffen, 14 Jahre alt. Auf ihn ist Verlass, Nazar ist ein kleiner Computerfreak, lebt mit seiner Mutter in Charkiv. Yuriy knackt nervös Pistazien, wartet auf eine Antwort. Diese kommt schnell: Nazars Eltern und auch der Oma gehe es gut. Letztere ist immer noch allein in ihrer Wohnung. Man hofft eben weiter, dass Wohnhäuser nicht das Ziel sind, sagt Yuriy. Sein Neffe schreibt, dass er jetzt Computer spiele, um sich abzulenken. Was so bizarr klingt, ist so verständlich: Was soll ein 14-Jähriger auch tun? Seine Großeltern mütterlicherseits leben in Luhansk. Als Yuriy und ich 2017 in Charkiv zu Besuch waren, erzählte Nazars Mutter, Marina, uns, dass sie wegen der vielen Straßenkontrollen drei Tage brauche, um ihre Eltern zu besuchen. Für Nazar ist Krieg seit Jahren Realität.

In den U-Bahnhöfen suchen die Menschen Schutz

13.43 Uhr: Im Charkiver Radio vermutet man, dass Charkiv unter Luftbeschuss steht. Eine Minute später wird gesagt, dass keine U-Bahnen mehr fahren, damit die Bevölkerung Platz hat, in den sehr tief gelegenen Bahnhöfen Schutz zu finden. Die Bilder, die wir kurz darauf sehen, sind schockierend: Gleise und Bahnsteige voller Menschen. Yuriy hat Angst, dass jetzt alle durchdrehen, seit acht Jahren habe der Druck auf die ­Ukrainerinnen und Ukrainer immer mehr und mehr zugenommen. Im ukrainischen Fernsehen spricht ein Moderator: Russland versuche so schnell wie möglich und so heftig wie möglich, Angst zu verbreiten. Trotzdem sei die Situation kontrolliert.

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14.23 Uhr: Die Mutter vom Sandkastenfreund Alexander schreibt über Telegram, dass nun auch sie mit ihrem Mann von Charkiv aus mit dem Auto auf dem Weg nach Lemberg ist, aktuell auf Höhe Poltawa. Yuriy atmet auf. Mehr als zehn Autostunden hätte sie dann aber noch vor sich. Aber heißt das, dass Lemberg aktuell sicherer ist? Mehr an Europa dran, lautet Yuriys kurze Antwort.

14.33 Uhr: Russische Blogger, allen voran Iwan Urgant, rufen dazu auf, um 18 Uhr an einer Demonstration der Opposition in Moskau teilzunehmen, um gegen Krieg zu demonstrieren.

14.57 Uhr: Die offizielle Nachricht trudelt ein, dass Charkiv unter Beschuss steht. Yuriy sagt, dass er langsam aufgebe. Es bringe ja nichts, die Leute anzurufen, wenn sie gerade gedrängt in irgendeinem U-Bahnschacht stehen. Aktuell meldet sich niemand, kein Lebenszeichen. Einen Moment später denke ich, dass Yuriy es ist, der bald durchdreht. Er sagt, er denke darüber nach, jetzt zur russischen Botschaft zu fahren, um laut auf der Klarinette ukrainische Lieder zu spielen. Noch vor zwei Tagen wären diese Worte niemals über seine Lippen gekommen. Patriotismus liegt seiner Familie fern. Politisches Geschehen wird zwar verfolgt, aber man würde sich niemals auf eine Seite schlagen – zu oft wurde man enttäuscht.

Die Ukrainer sind stolz und stehen zu ihrem Land

Nazar bleibt der Einzige, der uns weiter Nachrichten schickt. Jetzt ist er wieder online. Er schreibt, dass es draußen laut werde. Was er denn vom sechsten Stockwerk aus sehe, fragt ihn Yuriy. Nazar schreibt, dass er die Vorhänge zugezogen habe. Yuriy schluckt. Nazars Mutter ist weiterhin nicht zu erreichen. Auch Yu­riys Cousine ist nicht zu erreichen. Vor knapp zwei Stunden hatten wir noch Hoffnung, da war sie kurz online.

Daria ist Pianistin, seit Neuestem programmiert sie auch. Ich frage Yuriy, ob ich schreiben soll, dass sie vor Jahren versucht hat, einen Studienplatz in Deutschland zu bekommen. Yuriy reagiert gereizt: So wie ich das sagen würde, könnte man es falsch verstehen. Wieder würde es so aussehen, als wäre die Ukraine ein Land, in dem man nicht leben wolle. Auch jetzt sind die meisten zu Hause geblieben, sagt Yuriy. Er hat recht: Ukrainer sind stolz. Auch Daria war stolz, mir ihre Stadt zu zeigen, als wir in Charkiv ein Konzert im Nationaltheater besuchten. Ihre Mutter, Professorin am Konservatorium, hatte uns begleitet.

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15.23 Uhr: Yuriy liest die Meldung, dass ein türkisches Schiff, auf dem Weg von Odessa nach Rumänien, bombardiert wurde. Knapp fünf Minuten später sehen wir Bilder von einem Zoo in Charkiv, den wir 2017 besucht haben. Ich fand es damals absurd, dass ein einziger reicher Mann zig exotische Tiere, darunter große Raubkatzen, in Käfige sperrt, um dann als großer Gönner der Stadt angesehen zu werden. Bewohner der Stadt haben freien Eintritt in den Feldman Ecopark. Auch wir sahen uns vor fünf Jahren die Tiger dort an. Einige Tiere sind nun tot, andere verletzt – das wissen wir. Aber wir wissen immer noch nicht, wie es Familie und Freunden geht.

Hinter einem Reporter, der für CNN das Geschehen kommentiert, betreten gerade russische Fallschirmjäger ukrainischen Boden, erst einer, dann zwei, dann drei. Auf YouTube ist zu sehen, wie sich eine Familie in Sicherheit bringt, vor dem Küchenfenster schlägt eine Bombe ein, ein Baby schreit. Yuriy sagt, dass ihm jetzt die Ohren brennen. Er muss eine Pause machen.