Hamburg. Wie Andrea Thorn und ihre Task Force dabei helfen, dass Pharmafirmen gezielt Medikamente gegen den Erreger entwickeln können
Wenn Medikamente gegen Sars-CoV-2 auf den Markt kommen sollten dank der Vorarbeit von Andrea Thorn und ihrem Team, dann wird die Hamburger Wissenschaftlerin womöglich nichts davon erfahren. Wäre das nicht bitter? Was für eine Frage: „Ich werde aus Steuergeldern finanziert“, sagt die 38-Jährige energisch. Sie beugt sich vor an ihrem Schreibtisch im Homeoffice, von wo aus sie die Arbeit von 26 Forschenden aus sieben Ländern koordiniert, und blickt in die Videokamera, die ihr auch für Vorträge und Interviews als Tor zur Welt dient. „Wir wollen diese Pandemie bekämpfen, das ist das Ziel – nicht, dass ich mir hinterher auf die Schulter klopfen kann.“
Sie habe sich schon anhören müssen, ob es richtig sei bei der Tragweite dieser Forschung, alle Ergebnisse ohne weiteres verfügbar zu machen. Nicht mal eine Registrierung vorschalten und Nutzer verpflichten, die Quelle zumindest zu zitieren? Keine Beteiligung an möglichen Pharmaprofiten? „Ob in China, in Amerika, auf den Philippinen, in Deutschland – es ist mir egal, wer unsere Daten nutzt“, sagt Thorn. „Hauptsache es bringt uns alle weiter gegen Corona.“
Campus Bahrenfeld: Hamburgerin erforscht Coronavirus
Thorn ist die Gründerin der Coronavirus Structural Task Force, eines Teams aus Chemikern, Physikern, Informatikern und Strukturbiologen, die ein Ziel eint: Anhand von Messdaten aus Untersuchungen von Sars-CoV-2 und seiner Mutationen die Struktur des Erregers so genau wie möglich sichtbar zu machen.
Geboren in Hamburg, verbrachte Thorn nur wenige Kindheitsjahre in der Hansestadt. Sie studierte an der Universität Erlangen, einige Monate lebte sie in Japan. Ihre Doktorarbeit schrieb Thorn an der Universität Göttingen. Anschließend arbeitete sie in Cambridge und Oxford und gehörte als Leiterin einer Nachwuchsforschergruppe der Universität Würzburg an, bis sie ein reizvolles Angebot aus ihrer Heimatstadt nicht ablehnen konnte: in den 33 Millionen Euro teuren Forschungsneubau Hamburg Advanced Research Centre for Bioorganic Chemistry, kurz HARBOR, auf dem Campus Bahrenfeld zu ziehen. Dort sollen 120 Wissenschaftler eine interdisziplinäre Kooperation pflegen, wie Andrea Thorn und ihre Task Force sie schon praktizieren.
Corona dringt in Lungenzellen ein: „Virus-Fabriken“
Der Forscherin zufolge trägt das neuartige Coronavirus Erbgut in seinem Innern für 28 Eiweißmoleküle, etwa für das sogenannte Spike-Protein, das der Erreger nutzt, um in Lungenzellen einzudringen, die er anschließend in „Virus-Fabriken“ umbaut. Die neuen Viren infizieren dann immer mehr Lungenzellen. „Diese Eiweißmoleküle sind wie Roboter, die die Wirtszelle Schritt für Schritt übernehmen“, sagt Thorn. „Wenn wir ihre Struktur kennen, können wir daraus ableiten, wie sie arbeiten – und sie dann womöglich gezielt stoppen.“
Denn bis ein großer Teil der Menschheit durch Impfungen gegen Corona geschützt ist, dürfte es noch lange dauern. Und selbst wenn es soweit ist, werden immer noch Menschen an dem Virus erkranken. Deshalb läuft parallel zu den Impfungen weltweit die Suche nach Medikamenten.
Sars-CoV-2 hat Durchmesser von 120 Nanometern
Viren und andere Krankheitserreger sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen, zu klein selbst für die meisten Lichtmikroskope. Sars-CoV-2 hat nach Einschätzung der Thornschen Task Force einen Durchmesser von etwa 120 Nanometern, das entspricht 120 Millionstel Millimeter. Weltweit arbeiten Tausende Forschende daran, die Struktur aller Proteine des Virus sichtbar zu machen - etwa mithilfe von Elektronenmikroskopen oder mit Röntgenlicht, wie es auch in Hamburg an Hightech-Anlagen wie Desys Petra III zum Einsatz kommt.
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Hier kommt Andrea Thorn ins Spiel. Die Wissenschaftlerin ist Strukturbiologin und Methodenentwicklerin; sie und ihr Team arbeiten daran, jene Programme weiterzuentwickeln, die andere Forschende nutzen, um aus Messdaten Molekülstrukturen zu errechnen. „Weil wir diese Software zum Teil selbst geschrieben haben, kennen wir uns genau damit aus, wie man sie am besten einsetzt und wir können Fehler bei der Nutzung schnell erkennen“, sagt Thorn.
Förderung vom Bundesforschungsministerium
Anfang 2020, als die Pandemie auch Deutschland erreichte, arbeitete Thorn noch an der der Universität Würzburg. Sie sah sich zunächst Molekülmodelle des Sars-Coronavirus genauer an, das bereits 2002 eine Pandemie ausgelöst hatte. Dabei habe sie festgestellt, dass mit heutigen Methoden die Strukturen präziser darstellbar wären, sagt Thorn.
Daraus ergab sich die Motivation der neu gegründeten, anfangs noch kleinen Task Force: Thorn und einige Kollegen begann damit, aus Daten berechnete Strukturen des neuartigen Coronavirus systematisch zu überprüfen und – wo möglich - zu verbessern. Ohne Professorin oder Professor an der Spitze, anfangs ohne Forschungsgelder. Doch die Arbeitsgruppe wuchs schnell. Mittlerweile wird sie vom Bundesforschungsministerium und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Die Forschenden stellen ihre Ergebnisse sofort online
Immer mittwochs werden Dutzende Molekülstrukturen, die weltweit in Experimenten gemessen worden sind, in der Protein Datenbank PDB neu veröffentlicht. 1971 in den USA gegründet, gilt sie heute als eine der wichtigsten frei zugänglichen Ressourcen für 3D-Strukturdaten von biologischen Molekülen. Um die dort hinterlegten Strukturen zu verbessern, setzen die Forschenden um Andrea Thorn auf eine Mischung aus automatischer Software, künstlicher Intelligenz und manueller 3D-Überprüfung einzelner Atome am Computer. Ihre Ergebnisse stellen sie sofort online auf der Internetseite www.insidecorona.de – zur freien Verfügung für andere Forschende und für Pharmaunternehmen.
Diese Arbeit verschafft den Forschenden viel Aufmerksamkeit: Vor Kurzem veröffentlichte sogar das renommierte Fachjournal „Nature Structural & Molecular Biology“ einen Bericht der Task Force über ihre Analysen. „Als Methodenentwickler sind wir es eigentlich gewöhnt, nur zu Fachvorträgen über unsere Software eingeladen zu werden“, sagt Thorn. „Wir sind die Geeks in unserer Community.“ Technik-Nerds meint sie damit und erzählt schmunzelnd, mit welchen Vorurteilen ihr als Frau dabei mitunter begegnet wird. „Was machst Du? So hässlich bist du doch gar nicht, hat mir mal jemand gesagt“, erzählt Thorn.
Hamburger Forscherin auf Wohnungssuche
Wie so viele Menschen sehnt auch die Forscherin ein Ende der Pandemie herbei. So gut die Abstimmung in der Corona Task Force via Internet und Telefon funktioniere – „man wird im Homeoffice auf die Dauer etwas komisch“. Vor Kurzem durfte sie ihr neues Büro in Bahrenfeld zumindest einrichten. Von Juli an, so hofft Andrea Thorn, wird sie dann dauerhaft in ihrer Heimatstadt arbeiten können. Eine Wohnung zum Leben fehlt ihr allerdings noch.