Hamburg. Das Gipfeltreffen der wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt hat Defizite brutal aufgezeigt – die Polizei hat reagiert.
Sie nennen sich „Beauty“, „Jacques“, „Falko“ oder „Dolly“. Tatsächlich Dolly. Der könnte genauso gut Johnny (Cash) oder Willie (Nelson) heißen - als Fan von Country-Musik. Aber Dolly, so wie Dolly Parton, fanden sie wohl witziger in dieser Männerriege. Nur dass das, was Dolly, Beauty, Jacques oder Falko tun, nichts mit beschwingtem Country und Western zu tun hat.
Sie sind vier von zehn Elitepolizisten einer neuen Spezialeinheit, die es eigentlich noch gar nicht gibt, da die Ausbildung noch nicht komplett abgeschlossen ist. Und die jetzt erstmals überhaupt Journalisten (des Hamburger Abendblatts) getroffen haben. Die Truppe der vier ist das HIT - das Höheninterventionsteam.
Rückblende
Sommer 2017. Stardirigent Kent Nagano bringt in der Elbphilharmonie Beethovens Neunte. Während US-Präsident Donald Trump, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz mehr und minder andächtig der Ode an die Freude lauschen, wütet der Mob: G20.
Das eigentliche Gipfeltreffen der wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt geht zwar weitgehend wie geplant über die Bühne – aber außerhalb der Hochsicherheitszone läuft alles aus dem Ruder. Statt wie von Scholz vorab in Interviews orakelt („Seien Sie unbesorgt: Wir können die Sicherheit garantieren“), zerlegen Hunderte von Kriminellen aus ganz Europa das Schanzenviertel. Barrikaden brennen, Vermummte plündern Läden, blenden Hubschrauberpiloten, bombardieren von Hausdächern oder Baugerüsten Polizisten auf der Straße mit Steinhagel und Molotow-Cocktails.
Tote werden billigend in Kauf genommen, als Gehwegplatten auf Menschen geschleudert werden – so ganz anders, als es der Bürgermeister den Hamburgern versprochen hatte: „Wir richten ja auch jährlich den Hafengeburtstag aus. Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist“, dürfte unvergessen bleiben. Eher wunderte sich die Polizei über den Hass und die Gewalt, die ihr entgegen schlugen. „In den Tagen sind wir an unsere Grenzen gekommen“, sagt Hundertschaftsführer Andre Krüger heute. 70 Stunden im Dauereinsatz - am Hafenrand, in der Innenstadt, in Bahrenfeld oder Othmarschen. Und vor allem: im Schanzenviertel. Hier wüten Straftäter Stunden lang, bis die herbeigezogenen Hundertschaften die Lage wieder in den Griff bekommen. Auch weil Spezialkräfte für „Höhenintervention“ fehlen, dauert es so lange.
Die Konsequenzen
Ein Sonderausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft arbeitet in monatelanger Fleißarbeit Fehler und Versagen auf, „verhört“ politisch Verantwortliche wie Bürgermeister und Innensenator, bestellt den Polizeipräsidenten und seine wichtigsten Leute ein, der Verfassungsschutz muss fehlende oder falsche Vorhersagen im Vorweg von G20 erklären. Am Ende der Untersuchungen steht ein – bei großem Aufwand - bescheidener Erkenntnisgewinn. Politische Konsequenzen? Fehlanzeige. Alle Verantwortlichen des Debakels bleiben, was sie sind. Parallel arbeitet die Polizei G20 auf – und stößt auf eine „Fähigkeitslücke“, wie es Andre Krüger nennt. Der ist 1. Polizeihauptkommissar und Chef der Spezialeinheit BFE.
Das ist die Be weissicherungs- und Festnahmeeinheit. Die Hundertschaft ist eine der schlagkräftigsten Einheiten der Hamburger Polizei, gegründet schon zu Zeiten der großen Hafenstraßen-Konflikte vor 30 Jahren. Und um diese „Fähigkeitslücke“ zu schließen, entwickelt der heute 53-Jährige das Höheninterventionsteam – um Straftäter auf Dächern, Gerüsten, Brücken oder Kränen effektiver bekämpfen zu können.
Der Start
„Wir haben bei Null angefangen“, erzählt Krüger. Er initiierte ein aufwendiges, BFE-internes Auswahlverfahren, aus dem am Ende zehn Höhenretter hervorgehen sollten – alles Männer. Die zehn hatten unter allen Bewerbern die „größte Höhenfestigkeit bewiesen“, sagt Krüger. Die Ausbilder kommen von einer Spezialeinheit der Bundespolizei in Ratzeburg – und von der Hamburger Feuerwehr. Die hat bereits seit Jahren Höhenretter im Einsatz. Jetzt unterrichten sie Polizisten. Die Themen im Unterricht: Seilkunde, Abseiltechniken, schnelles taktisches Vorgehen. Viel Theorie, viel Praxis. Alles scheint im Plan.
Doch dann steigen die Infektionszahlen wieder an, erst in Österreich, dann auch bei uns - Corona bringt so auch die Planungen der neuen Spezialeinheit durcheinander. Bevor nämlich das HIT sogenannte „wehrhafte“ - also bewaffnete - Störer von Kränen oder Baugerüsten holen darf, steht noch ein dreiwöchiger Lehrgang bei einer Wiener Spezialeinheit namens WEGA an. Erst dann gilt die Ausbildung als abgeschlossen. Zweimal schon wurde der Lehrgang coronabedingt abgesagt. „Bis der absolviert ist, arbeiten unsere Leute mit zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen. Die lassen wir danach bei Einsätzen weg“, sagt Krüger.
Bei dem Lehrgang in Österreich wird auch Fast-Roping trainiert - sich ungesichert an losen Seilen aus Hubschraubern abzulassen. Auch ohne den Lehrgang in Wien sind die Grenzen zwischen BFE und dem Spezialeinsatzkommando SEK schon jetzt klar abgesteckt. Was immer schon am Boden galt, gilt dann auch „in der Luft“. Haben die Störer, wie die Polizei sie nennt, unter Umständen Schusswaffen dabei, rückt das SEK aus, bei Zwillen, Steinen, Molotowcocktails oder Gehwegplatten die neuen Spezialisten von der BFE.
Übung und Einsatz
Einem „normalen“ Menschen dürfte ziemlich schlecht werden bei dieser Perspektive. Der Blick über den Rand des abbruchreifen Hauses in der City Nord fällt knapp 30 Meter tief hinab. Boris, der Kletterer und Ausbilder der Hamburger Feuerwehr, wird an diesem leicht diesigen Morgen ausgeguckt als „Störer“. In seinem weißen Overall baumelt er jetzt ungefähr zehn Meter unterhalb der Dachkante in der Luft, nur gesichert durch zwei Seile. Entrollt er gleich nur ein Transparent? Ist er bewaffnet? Oder einfach nur verwirrt? Oder sogar selbstmordgefährdet?
Vermutlich wüssten die Kletterer der Polizei es nicht, wäre es ein echter Einsatz. Auf dem Dach des ehemaligen Postgebäudes haben sich zwei Polizisten in dort einbetonierten Anschlagpunkte eingeklinkt mit ihren Sicherungsseilen und Karabinern. Diese Sicherungssysteme, die unter anderem auch Fensterputzer nutzen, wurden früher auf jedem Hochhaus verbaut. Dolly und Falko seilen sich langsam ab, geleitet über Funk von Jacques und Beauty, die hier Truppführer heißen und woanders vermutlich Teamleiter genannt würden. Ganz in Schwarz gekleidet, geht es langsam abwärts. Helm, Schutzweste, Karabinerhaken, zig Taschen mit Utensilien – bis zu 35 Kilo wiegt die Ausrüstung.
Die Sturmhaube unter dem Helm schützt nicht nur vor Corona, sondern vor allem vor Identifikation - im Einsatz soll keiner von ihnen erkannt werden. Kaum in der Luft, spricht Falko auf den noch Meter unter ihm baumelnden Mann im weißen Overall ein, versucht ihn zu beruhigen und zudem mehr vom Störer zu erfahren. Gleichzeitig erreichen die beiden Polizisten den Mann im Seil. Einer nimmt ihn in den Schwitzkasten. So würden zumindest Kinder die Szene 20 Meter oberhalb des Vordaches beschreiben. Ein Arm legt sich eng um den Kopf von Boris, zudem verlagert der Polizist sein Gewicht auf den Störer. Der zweite klammert sich in der Luft baumelnd mit einem Bein unter dem Po des Mannes fest - nichts geht mehr für den Störer, so sieht es jedenfalls von unten aus.
Die Polizisten legen dem Mann im Overall Handfesseln an, während ihre Kollegen von oben ein neues Sicherungsseil für ihn herablassen. Schließlich wissen sie im „Ernstfall“ nicht, ob dessen Absicherung hält. Der Störer wird eingeklinkt, Meter für Meter wird das Dreier-Knäuel abgeseilt und auf dem Vordach „in Empfang“ genommen. „Wir könnten sie auch hoch ziehen, wenn die Lage unten zu unübersichtlich wäre“, erzählt Andre Krüger, ein drahtiger Mann im schwarzen Overall. In Abbruchhäusern wie diesem üben seine Leute, auf der Köhlbrandbücke oder direkt unter der Kuppel des Planetariums. „Echte“ Einsätze gab es auch schon - im Hambacher Forst oder bei einer Kranbesetzung im Hafen. Diese beiden Lagen waren so klar und übersichtlich, dass Krüger seine Einheit auch ohne den Abschlusslehrgang einsetzen konnte. Im Hambacher Forst haben die Hamburger ihre Ausbilder von der Ratzeburger Einheit der Bundespolizei dabei unterstützt, Besetzer aus den Bäumen zu holen.
Was die BFE sonst noch macht
In der Zeit nach dem Gipfeltreffen im Sommer 2017 wurde Krügers Einheit nicht nur um das HIT ergänzt, sondern auch um einen Zug aufgestockt, aktuell arbeiten 90 Leute in der BFE, 132 sollen es werden. Sie observieren oder vollstrecken Haftbefehle fürs LKA, sichern Beweise, sind für die Terrorbekämpfung ausgebildet. Neulich erst sind die Frauen und Männer - Krüger beschreibt sie als „psychisch und physisch extrem belastbar“ - in eine Wohnung eingedrungen, aus der mit Drogen gehandelt wurden. Bei Einsätzen wie diesem geht es nicht nur darum, den Dealer festzunehmen, sondern auch zu verhindern, dass der noch Beweise vernichten kann.
Die BFE kommt überall dort zum Einsatz, wo die Polizei mit Widerstand und Randale rechnet: Bei Razzien, Protestzügen mit gewaltbereiten Demonstranten wie dem „revolutionären 1. Mai“, bei Fußballspielen mit verfeindeten Hooligans unter den „Anhängern“ - immer mit dem Ziel, den oder die Täter - zum Beispiel Steinewerfer im Demopulk - in der Menge zu isolieren, herauszuholen und zuvor zumindest so viele Beweise gesammelt zu haben, dass es für eine Verurteilung reichen kann. Wie nach den Ausschreitungen bei G20. „Es gab viele Festnahmen und auch viele Verurteilungen - weil die Beweiskette funktionierte“, sagt Andre Krüger.