Hamburg. Nach der Wahl stecken die Parteien mitten in den Sondierungsgesprächen. Was dabei diesmal besonders wichtig ist.

Es war Vertrauen, das vor 38 Jahren die Welt rettete. Im September 1983, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, gingen in einer Frühwarnzentrale bei Moskau verstörende Signale ein. In den USA war scheinbar eine Atomrakete abgeschossen worden, die in wenigen Minuten russisches Gebiet erreichen würde. Begann in diesem Moment die nukleare Apokalypse?

Stanislaw Petrow, der diensthabende Offizier, hielt das Schicksal der Welt in seinen Händen. Sollte er die Generäle alarmieren, die zweifellos den atomaren Gegenschlag befehlen würden? Petrow zögerte. Er misstraute den Satelliten und Maschinen. Und vertraute seiner Intuition sowie der Rationalität des Gegners. Die USA würden nicht nur eine einzige Rakete schicken, sondern Dutzende.

Politik ist Vertrauenssache

Petrow, kein Militär, sondern gelernter Ingenieur, widersetzte sich den Signalen der Technik und meldete „Fehlalarm“. Und so war es auch. Vertrauen rettete womöglich einen großen Teil der Menschheit. Wie hätte ein Algorithmus entschieden?

Vertrauen in sich und andere ist eine schwer zu messende, aber entscheidende menschliche Ressource in der großen und kleinen Politik. Vertrauen lässt sich nicht bauen, kaufen oder erzwingen, sondern wächst langsam und basiert auf Kontrollverzicht, Intuition und Mut. Wer vertraut, geht in Vorleistung, denn im Falle des Enttäuschens drohen Verletzungen. Vertrauen bestimmt Politik, von der großen Diplomatie bis hin zu jedem Wähler. Bürger entscheiden sich mit dem Kopf für Programme, aber mit ihrem Instinkt für Personen, denen sie vor allem im Krisenfall vertrauen zu können glauben.

Nach der Bundestagswahl: Kann man der Union noch trauen?

Eine neue Regierung braucht einen immensen Vorrat von Vertrauen, weil Wahlkampffeinde plötzlich zu Partnern werden sollen. Koalitionsverträge können Vertrauen nicht verordnen. Das scheinbare Traumbündnis von Union und FDP etwa begann 2009 ohne viel Vertrauen, das bis 2013 vollends schwand. Der Ausstieg Christian Lindners aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 war auch Spätfolge des damaligen Misstrauens: Die FDP traute einer Kanzlerin noch nicht wieder, zumal sie auffallend viel Sympathie für die Grünen zeigte.

Das rot-grüne Bündnis von 1998 wiederum war von Vertrauen zusammengehalten. Kulturell mochten Kanzler Schröder und sein hartlinks sozialisierter Umweltminister Jürgen Trittin weit auseinanderliegen. Doch Schröder wusste aus niedersächsischen Tagen: Auf den Grünen Trittin war Verlass, er hielt sich an Abmachungen, auch wenn die Parteibasis grollte.

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So sind Sondierungsgespräche zuallererst ein Vertrauenstest, vor allem für die Union. Kann man einem wankenden CDU-Chef Laschet und der zappeligen CSU trauen? Als Nachweis des Misstrauens drangen aus den Gremien von CDU und CSU zuletzt Informationen quasi in Echtzeit an die Öffentlichkeit. Plauderfreude war lange eher Spezialität der SPD, die wiederum von Olaf Scholz in eine überraschend wortkarge, also vertrauenswürdige Einheit verwandelt worden ist, bis jetzt jedenfalls. Macht drückt sich auch in kollektiver Verschwiegenheit aus.

Sondierungen: Parteien auf dem Prüfstand

Neben allen inhaltlichen Fragen klärt sich in den Gesprächen über einen fragilen Dreibund auch der aktuelle Charakterzustand der Parteien. Wer wird nervös, wenn Posten vergeben oder rote Linien verschoben werden? Klar ist: Werden unfertige Pläne nicht in kleiner Runde, sondern in einer daueraufgeregten Republik verhandelt, sind sie meist erledigt, bevor ein Kompromiss gefunden ist. Wer Zwischenstände ausplaudert, senkt die Chancen auf ein Bündnis schlagartig.

Während sich Rot, Grün und Gelb in den Sondierungen an den Schweigekodex halten, erweist sich die Union einmal mehr als undicht. Blödheit oder Bosheit – wer Halbsätze an die Öffentlichkeit liefert, lässt Laschets Restmacht erodieren und damit seine ohnehin geringen Chancen auf eine Jamaika-Kanzlerschaft. Wer seinen Laden dagegen im Griff hat, der kann sich auf kollektives Klappehalten verlassen.