Hamburg. Digitale Veranstaltungen werden erstaunlich gut besucht. Wie die Parteien mit der aktuellen Lage umgehen.

Das neue Leben des Falko Droßmann begann am Donnerstag dieser Woche. Pünktlich zum 1. Juli ging der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte in den Urlaub – für gleich drei Monate. Den Sozialdemokraten zog es zum Ausgleich für mehrere durchgearbeitete Jahre aber nicht etwa an die Ostsee oder ans Mittelmeer, sondern nach Horn, St. Georg und an den Ballindamm. Dort startete er am Donnerstag zusammen mit ein paar Dutzend Helfern als SPD-Bundestagskandidat für Hamburg-Mitte in seinen Wahlkampf – so wie man es seit Generationen tut: mit dem Aufstellen von Plakaten.

Aber selbst wenn nun wieder überall Politikerfotos aus dem Unkraut an den großen Straßen sprießen, als sei alles wie immer: In diesem Wahlkampf ist nur wenig so, wie man es bisher kannte. Das Coronavirus macht Großveranstaltungen schwierig bis unmöglich. Statt seine Nähe zu suchen, müssen die Kandidaten aseptischen Abstand zum Wahlvolk wahren – oder andere Formen der Vertraulichkeit nutzen. Das immerhin scheint erstaunlich gut zu funktionieren: Noch nie gab es so viele Digitalformate – und noch nie waren diese so gut besucht.

Bürgersprechstunden in Hamburg über Zoom oder WebEx

„Der Zuspruch bei meinen Online-Angeboten über Insta Live oder WebEx ist durchweg größer als bei Präsenzveranstaltungen“, sagt Droßmanns CDU-Gegenkandidat Christoph de Vries. „Die Hürden sind niedriger als beim echten Besuch einer Parteiveranstaltung. Und es kommen andere, oft jüngere Leute.“

Zu seinen Onlineformaten „Tills Talk“ oder „Tills Tour“ seien rund fünfmal mehr Menschen gekommen als sonst zu analogen Treffen, berichtet auch der grüne Ex-Justizsenator Till Steffen, der in Eimsbüttel um einen Direktmandat kämpft. So schildert es auch Steffens direkter Konkurrent Staatsminister Niels Annen, der das Eimsbüttler Mandat für die SPD verteidigen will.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

„Natürlich darf man sich nicht an den Reichweiten von Influencern wie Rezo messen“, so Annen, „aber im Vergleich zu analogen Veranstaltungen im Bürgerhaus funktionieren digitale Formate diesmal wirklich gut“. Auch CDU-Mann Rüdiger Kruse, der im besonders hart umkämpften Eimsbüttler Wahlkreis als Dritter im Bunde um das Direktmandat kämpft, hat gute Erfahrungen mit Bürgersprechstunden über Zoom oder WebEx gemacht.

Auf Begegnungen wollen Kandidaten nicht verzichten

Und doch: Auf echte Begegnungen können und wollen die Kandidaten auch diesmal nicht verzichten – selbst wenn viele Hygieneregeln einzuhalten sind. Kruse wanderte am Freitag mit potenziellen Wählern durch die Eidelstedter Feldmark. Steffen setzt neben YouTube, Facebook und Insta­gram wie viele andere Kandidaten auch weiter auf den erwiesenermaßen effektiven Haustürwahlkampf, bei dem man schnell mal klingelt, guten Tag sagt und seinen Flyer abgibt. Und SPD-Mann Annen sehnt sich danach, „den Menschen wieder öfter ins Gesicht zu schauen“. Das helfe auch, einen besseren Eindruck von der Stimmung zu bekommen.

Der Hamburger Politikberater und Digitalexperte Martin Fuchs berichtet bereits von einem paradoxen Effekt der Pandemie. Bei den Corona-Wahlkämpfen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz seien mehr Plakate und Broschüren gedruckt worden als je zuvor. Wenn man mit den Wählern schon nicht reden kann, dann muss man sie eben in Fotos und Slogans baden, lautete offenbar die Devise der Parteistrategen.

Kommunikation über Messenger-Dienste

Die Zugriffszahlen digitaler Formate, etwa mit der rheinland-pfälzischen SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer, seien dagegen „desaströs“ gewesen, sagt Fuchs – und widerspricht damit den Hamburger Kandidaten. „Nach einem ganzen Tag in Zoomcalls haben die Menschen abends keine Lust mehr darauf“, so Fuchs. Deutlich erfolgversprechender sei ein anderer Weg: die Kommunikation über Messenger-Dienste wie WhatsApp. Wenn ein Freund oder Bekannter in einer persönlichen Nachricht eine Partei oder einen Kandidaten empfehle, habe das einen deutlich größeren Effekt.

In Sachsen etwa habe CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer schon im Wahlkampf 2019 kurze persönliche Video-Nachrichten mit den je 200 gängigsten männlichen und weiblichen Vornamen aufgenommen, berichtet Fuchs. Kretschmer spricht die Adressaten darin nicht nur persönlich mit ihrem Vornamen an, sondern sagt auch noch den Namen desjenigen, über den der Kontakt zustande kommt, also etwa: „Hallo Martin, David hat mich gebeten, dich zu erinnern, zur Wahl zu gehen“ – gefolgt von einer kurzen politischen Botschaft.

Die Kleinen gelten als Nutznießer der Lage

Diese Videos wurden dann von Mitgliedern über WhatsApp verbreitet – offenbar mit einem sehr positiven Effekt. „Wenn man mit seinen Botschaften über die Messengerdienste in geschlossene Gruppen kommt, ist das extrem erfolgversprechend“, so Fuchs. Gerade für die großen Parteien könne es ein Vorteil sein, wenn sie ihre vielen Mitglieder so zu Digital-Wahlkämpfern machten.

Abgesehen davon gelten eher die Kleinen als Nutznießer der ungewöhnlichen Lage. „Im Straßenwahlkampf sind sie schlechter gestellt, weil man dafür viele Mitglieder braucht. Er ist vor allem für SPD und CDU wichtig, weil die viele ältere Wähler haben, die man digitalschlechter erreicht“, sagt Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp. „Wenn der Straßenwahlkampf zum Teil ausfällt, dürfte das den kleineren Parteien nützen.“ Parteienforscher Elmar Wiesendahl nennt einen anderen Aspekt. Die aktuelle Lage helfe eher CDU, Grünen und FDP, glaubt er. „Ihre Wähler sind gebildeter, gehen häufiger zur Wahl und werden sich stärker über Briefwahl beteiligen. SPD, Linke und AfD werden derzeit tendenziell benachteiligt.“

SPD steltt größten Landesetat für Wahlkampf auf

Die SPD setzt zum Ausgleich in Hamburg auf ihren Heimvorteil. Ex-Bürgermeister Olaf Scholz ist immerhin nach jüngsten Umfragen der beliebteste der drei Kandidaten für die Merkel-Nachfolge. Und Bürgermeister Peter Tschentscher hat sich im Zuge der Pandemie fast überall einen guten Ruf erarbeitet – und wird nun gerne von den Direktkandidaten mitplakatiert, obwohl er nichts mit der Wahl zu tun hat.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Die SPD hat auch diesmal mit 200.000 Euro den größten Landesetat für den Wahlkampf aufgestellt. Es folgt die FDP, die auf Abendblatt-Nachfrage von immerhin 160.000 Euro berichtet. CDU und AfD schweigen sich über ihre Mittel noch aus, die Grünen wollen 100.000 Euro aus der Landeskasse investieren, Die Linke 25.000. Ob der Corona-Wahlkampf günstiger oder teurer wird, ist unklar. Einerseits kann man sich manche Saalmiete sparen. Andererseits braucht man für gute Digitalformate zusätzliche Technik, und Präsenzveranstaltungen werden durch Infektionsschutz und Streaming oft deutlich teurer.

Nie war es so knapp in Hamburgs Wahlkreisen

An Plakaten wird jedenfalls nicht gespart. Die Grünen wollen 178 Großflächenplakate und 6500 Plakate in der klassischen Größe DIN A0 aufstellen. Die Linke plant mit 3000 Themen-Plakaten und 200 Personenplakaten der Spitzenkandidaten Janine Wissler, Dietmar Bartsch, Zaklin Nastic und Deniz Celik. Und die FDP will auf 300 Großplakaten Bundes-Parteichef Christian Lindner und Hamburgs Spitzenkandidaten Michael Kruse zeigen und dazu bis zu 4000 A0-Formate plakatieren. Die anderen Parteien wollten sich bei den genauen Zahlen noch nicht festlegen.

Ob und welche Großveranstaltungen es geben wird, ist noch unsicher – die SPD hält sich noch bedeckt. Die Grünen erwarten Annalena Baerbock, Robert Habeck und andere Parteipromis zu Veranstaltungen, die CDU rechnet mit Armin Laschet und Friedrich Merz, die FDP mit Christian Lindner, Die Linke mit Wissler und Bartsch. Auch die AfD plant mit Bundesprominenz, etwa dem Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Bernd Baumann.

SPD, Grüne und CDU schauen gespannt auf Wahlkreise

Besonders gespannt schauen SPD, Grüne und CDU in Hamburg auf die sechs Wahlkreise. „Es gibt schon lange kein Erstgeburtsrecht der SPD mehr auf den Gewinn aller Direktmandate in Hamburg“, sagt Politikwissenschaftler Wiesendahl. „In Nord hat die CDU gute Chancen, in anderen Wahlkreisen neben der SPD auch die Grünen.“ Auch professionelle Politpropheten sind sich nicht einig, wie es laufen könnte. Während das Prognoseportal election.de die Grünen in Altona, Nord, Mitte und Eimsbüttel vorne sieht, schneidet bei wahlkreisprognose.de die SPD mit vier Direktmandaten am besten ab: die Grünen gewinnen hier nur Altona, die CDU Nord.

Aber auch die jüngste Debatte um mögliche Plagiate in der Biografie der Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock zeigt, wie viel bis zur Wahl im September noch passieren kann. Deswegen machen sich auch diejenigen noch Hoffnung, die derzeit zurückliegen – wie der Eimsbüttler CDU-Direktkandidat Kruse. „Ich bin guter Dinge“, sagte der 60-Jährige am Freitag vor seiner Wählerwanderung durch die Eidelstedter Feldmark. „Noch ein Buch von Frau Baerbock, dann läuft das für uns mit dem Wahlkreis.“