Der Kontinent macht sich locker – trotz Delta. Doch ein Land verweigert zu weit gehende Öffnungsschritte: Deutschland. Warum?

So kann es auch gehen: Das Folketing, das dänische Parlament, hat beschlossen, von Oktober an die letzten Corona-Einschränkungen aufzuheben – eine große Mehrheit der Parteien steht hinter dem mutigen Lockerungskurs, der in mehreren Schritten die Freiheit zurückbringen soll. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei unserem nordischen Nachbarn derzeit relativ konstant bei gut 100.

Die alten Schwellenwerte haben die Dänen längst entsorgt: in Gemeinden toleriert man fortan 500 Infizierte pro 100.000 Einwohner, in größeren Kreisen sogar 1000 Neuinfektionen binnen einer Woche. Und noch zwei Zahlen sind interessant: 74,5 Prozent der Dänen sind einmal geimpft, 63 Prozent sogar zweimal.

Australien trotz niedriger Inzidenz im Ausnahmezustand

Ganz anders ist die Lage in Australien: Dort liegt die Inzidenz landesweit bei gerade einmal neun Infektionen pro 100.000 Einwohner. Trotzdem befinden sich beide Metropolen im Ausnahmezustand: Die Millionenstadt Melbourne muss eine weitere Woche im Lockdown verharren, nachdem binnen 24 Stunden weitere 20 Neuinfektionen bestätigt wurden.

„Es gibt zu viele Fälle, deren Ursprung uns nicht klar ist, zu viele unbeantwortete Fragen, zu viele Mysterien, als dass wir jetzt sicher aus dem Lockdown herauskommen könnten“, betonte der Regierungschef des Bundesstaates Victoria, Daniel Andrews, Mitte der Woche. Ebenfalls verlängert wurde der seit Ende Juni geltende Lockdown in Sydney. Dort patrouillieren Soldaten durch die Straßen. Nur 36,7 Prozent der Australier sind mindestens einmal geimpft, die Hälfte von ihnen zweimal.

Australien lange Zeit Vorbild für Berater von Merkel

Der Blick nach Australien lohnt auch deshalb, weil enge Berater der Kanzlerin wie die Virologin Melanie Brinkmann und der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann in ihrem No-Covid-Papier lange Zeit ausdrücklich den fünften Kontinent als Vorbild empfohlen hatten.

Während Australien über Monate zum leuchtenden Beispiel in Deutschland überhöht wurde, haben die Deutschen von ihrem Nachbarn im Norden kaum Notiz genommen. Dabei hat das kleine skandinavische Land die Pandemie deutlich besser in den Griff bekommen. In Dänemark starben auf eine Million Menschen bezogen 441 Bürger an Corona, in Deutschland waren es mit 1096 fast zweieinhalb mal so viele. Seltsamerweise verweisen manche darauf, Dänemark (138 Einwohner pro Quadratmeter) sei wegen seiner Bevölkerungsdichte nicht mit Deutschland (234) vergleichbar – das sind aber mitunter die Menschen, die logisch fanden, einen isolierten Kontinent wie Australien zum Vorbild zu verklären.

Deutschland zwischen Lockdown und Öffnung

Deutschland bewegt sich derzeit zwischen den beiden Polen Lockdown und Öffnung und geht schneckenlangsame Schritte. Während Dänemark lockert, haben sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten nur darauf geeinigt, die epidemische Lage weiter zu verlängern. Geimpfte und Nicht-Geimpfte werden in Zukunft unterschiedlich behandelt werden.

Die Inzidenzen sind in Dänemark deutlich höher als in Deutschland – doch solche Studenten-Feiern sind längst wieder erlaubt.
Die Inzidenzen sind in Dänemark deutlich höher als in Deutschland – doch solche Studenten-Feiern sind längst wieder erlaubt. © imago images/Dean Pictures | imago stock

Während ab Oktober nördlich von Flensburg die letzten Regeln fallen, wird sich südlich davon nach derzeitigen Stand eines verändern: Vakzin-Verweigerer müssen ihre Schnelltests dann selbst bezahlen. Ab 1. September öffnet Dänemark Nachtclubs und Diskotheken, ab 23. August verschärft die Bundesrepublik: Dann kommt eine Testpflicht in Innenräumen ab einer Inzidenz von 35. Für Warner und Mahner in Dauerschleife wie Karl Lauterbach ist das noch immer zu hoch, schließlich gehe es um „potenzielle Superspreader-Events“.

Inzidenz von 200 das neue 50?

Die Tonalität hat sich mit steigenden Corona-Zahlen hierzulande schon wieder verändert. Noch vor Kurzem hieß es, sämtliche Maßnahmen würden fallen, wenn allen Erwachsenen ein Impfangebot gemacht worden ist. Davon spricht inzwischen keiner mehr. Gesundheitsminister Jens Spahn rechnete noch vor drei Wochen laut vor, eine Inzidenz von 200 könne das neue 50 sein.

Auf die Frage, ab wann Einschränkungen kommen, verwies der CDU-Minister darauf, dass vor den Impfungen die Corona-Maßnahmen ab einer Inzidenz von 50 griffen, um Überlastungen des Gesundheitswesens zu vermeiden. Nun seien drei Viertel der über 60-Jährigen geimpft, damit wachse die Bewegungsfreiheit. Was plausibel klingt, gerät auch schon wieder in Vergessenheit. Bei der jüngsten Konferenz sprach niemand mehr über die Zahl 200. Freiheitsrhetorik hat hierzulande eine kurze Halbwertszeit.

In der Pandemie zerfällt Europa in Kleinstaaterei

Corona hat gezeigt, wie unterschiedlich die Staaten, ihre Regierungen und die Völker auf die gleiche Herausforderung einer tödlichen Pandemie reagieren: Jedes Land hat nicht nur seine eigene Corona-Lage, sondern auch sein eigenes Verständnis von berechtigten Einschränkungen im Sinne des Gesundheitsschutzes. Europa zerfällt in der Pandemie in Kleinstaaterei.

Nicht nur die Länder verfolgen eine eigene Politik, auch in der Bundesrepu­blik tun sich zwischen Bundesländern wie Bremen und Hamburg oder Schleswig-Holstein und Bayern Gräben auf. Jeder verfolgt eigene Regeln, definiert eigene Ausnahmen und operiert mit unterschiedlichen Zahlen. Baden-Württemberg und Niedersachsen etwa verabschieden sich von der Inzidenz. Noch heftiger fallen die Unterschiede in der EU aus: Auf dem Kontinent der vermeintlich krümmungsgenormten Gurke gilt pandemielle Anarchie.

Freedom Day: Ein Albtraum für Deutschland

Es herrscht ein Flickenteppich von Regeln – inzwischen auch Regellosigkeit. Die Brexiteers von der Insel feierten am 19. Juli ihrem Freedom Day und hoben sämtliche Regeln auf, für die Deutschen ein wahrer Albtraum: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) erklärte nun, eine derartige Maßnahme bringe „überhaupt nichts“ und führe zu Wehrlosigkeit: „Wir hätten keine Chance zu reagieren und zu steuern.“

Vielleicht liegt darin eine Erklärung für die deutsche Pandemiepolitik: Die Rückkehr zur Normalität geht mit einem Machtverlust einher, der starke Staat schwächt sich selbst, wenn er seinen Bürger Verantwortung zurücküberträgt. Vielleicht hat Söder recht, dass ein deutscher Freiheitstag nach hinten losgehen könnte, von „Wehrlosigkeit“ kann aber keine Rede sein.

Infektionszahlen explodierten in den Niederlanden

Dafür reicht der Blick in die Niederlande: Die Holländer beendeten ihren Lockdown Ende Juni. Mit einem Schlag waren Großveranstaltungen erlaubt, Diskotheken und Kneipen offen, Masken und Abstandsregeln Vergangenheit. Mit der Lebensfreude explodierten die Infektionszahlen. Daraufhin folgte die rasche Kehrtwende: Diskotheken dicht, Festivals abgesagt, eine Sperrstunde in der Gastronomie ab Mitternacht. So schnell, wie die Inzidenz stieg, begann sie zu fallen – binnen drei Wochen von mehr als 400 auf gut 100: Denn knapp vier von zehn Infizierten steckten sich in Clubs, Discos oder auf Partys an, vor allem junge Leute waren betroffen.

Das Beispiel zeigt: Das Regieren in der Pandemie ist eine Politik von Versuch und Irrtum; keiner weiß genau, welche Maßnahme von heute sich morgen wie auswirken wird. So tastet sich Europa in die Freiheit, oft zwei Schritte vor und einen zurück. Es wäre wohlfeil, den Entscheidern ihre Fehler vorzuwerfen. Wer in diesen Zeiten regiert, macht automatisch Fehler.

Strenger Umgang mit Corona in Deutschland

Und doch verwundert, wie vorsichtig, ja übervorsichtig sich Deutschland dieser Tage zurücktraut. Die Universität Oxford misst seit Pandemiebeginn tagesaktuell die Schärfe der geltenden Corona-Regeln, berechnet aus neun Indikatoren, darunter Schulschließungen, Homeoffice-Pflicht oder Reisebeschränkungen, einen Index und vergleicht die Maßnahmen. Während der ersten Wochen der Pandemie im Frühjahr 2020 bewies die Bundesregierung Augenmaß und griff bewusst nicht zu radialen Maßnahmen wie einer Ausgangssperre. In dieser ersten Welle kam die Bundesrepublik vergleichsweise sehr gut durch die Pandemie.

Doch der Covid-19-Stringency-Index zeigt auch, dass in der zweiten Welle die Bundesrepublik bald strenger reagierte als die Nachbarn. Nachdem der „Novemberlockdown“ seine Wirkung verfehlte, schloss die Bundesrepublik Mitte Dezember 2020 die Schulen – und machte sie erst im Mai wieder auf. Jedes Treffen der Entscheider glich nun einer Suche nach Verschärfungen, nicht nach Öffnungen. Der Index aus Oxford zeigt, dass schon zu Weihnachten 2020 Deutschland und Italien in Europa das strengste Corona-Regiment hatten. Seitdem hält die Bundesrepublik diese „Pole Position“.

Verhältnismäßig hohe Todeszahlen in Deutschland

Die Infektionszahlen blieben vermutlich deshalb unter den Spitzenwerten vieler Nachbarn. Zugleich gelang es Deutschland aber nicht, die Todeszahlen niedrig zu halten. Im Winter 2020/21 starben hierzulande sogar mehr Menschen als in den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Und als Europa ab März über Öffnungen nachdachte und behutsam wagte, verschärfte Deutschland noch Ende April mit der Bundesnotbremse seine Corona-Regeln. Ein Blick auf den aktuellen Oxforder Stringency-Index zeigt: Nirgendwo in Europa wird die Freiheit durch Corona derzeit so beschnitten wie in Deutschland.

Blickt man auf die aktuellen Infektionszahlen, mögen sich Anhänger dieser Politik bestätigt fühlen. Trotz der Delta-Variante stecken sich hierzulande weniger Menschen an als bei den Nachbarn. Aber bei der entscheidenden Ziffer, den Verstorbenen, sind die Unterschiede kaum messbar: In den Niederlanden, die in den vergangenen Wochen eine zehnfach höhere Inzidenz hatten, starben im Verhältnis sogar weniger Menschen als in Deutschland. Und in Schweden, für alle Hobby-Epidemiologen die Brüder Leichtsinn, starben bei einer doppelt so hohen Inzidenz deutlich weniger Corona-Infizierte – allerdings bei sehr niedrigen absoluten Zahlen.

Blick auf Inzidenz hat kleinen Aussagewert

Die wöchentlich aktualisieren Daten der Europäischen Gesundheitsbehörde (European Centre for Disease Prevention and Control) zeigen ohnehin, dass der Blick auf die Inzidenz inzwischen nur noch wenig weiterbringt. Großbritannien und Dänemark sind offen und stabil, Deutschland schränkt ein und hat steigende Inzidenzen.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Aufschlussreicher für den mittelfristigen Erfolg der Strategie dürfte also die Frage sein, wie alt die Infizierten sind – und wie hoch die Quote der Geimpften und der Genesenen ist. Dänemark führt (74,5 Prozent Erstimpfungen/63 Prozent komplett geimpft) und steht so gut da wie Bremen (72,1/67,3); Staaten wie Tschechien (54/48,7) hingegen hinken hinterher wie Sachsen (53,3/49,5). Europa ist ein gespaltener Kontinent, Deutschland ein gespaltenes Land.

Durchschnittliche Corona-Bilanz in Deutschland

Zugleich zeigen die Zahlen, dass die deutsche Selbstzufriedenheit fehl am Platze ist. Die Corona-Bilanz fällt durchschnittlich aus – mit Ausnahme des Spitzenplatzes bei den Corona-Beschränkungen. Inzwischen haben sich die Ziffern der laxen Schweden und der lockdownverliebten Deutschen angenähert: An Corona starben im Norden seit Ausbruch der Pandemie betrachtet 1452 Menschen pro einer Million Einwohner, in Deutschland 1096. Während die Italiener trotz harter Beschränkungen 2121 Tote zu beklagen haben, waren es in Dänemark 441 Tote. Selbst Österreich (1193 Tote) hat sein strenges Corona-Regime längst in ein eher lockeres verwandelt. Die vermeintlich autoritätsgläubigen Österreichern tasten sich in die Freiheit.

Nun sind Vergleiche zwischen den Ländern oft schwierig, weil man Gefahr läuft, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Und doch kristallisiert sich heraus, dass ein gewisses Zutrauen des Staates in seine Bürger am Ende vielleicht das dauerhaft bessere Modell ist als das kindliche Zutrauen der Bürger in den lenkenden Staat. Die besonders rigiden Staaten sind Stand jetzt nicht besser gefahren als die tendenziell freiheitlichen – ein Kurs des Ausgleichs scheint am klügsten. Zugleich sind die demonstrativ laxen Länder, etwa Teile der USA oder die Briten im Frühjahr 2020, ebenfalls gescheitert.

Corona-Weg von Deutschland kritischer betrachten

In Abwandlung eines alten Aphorismus des Barockdichters Friedrich von Logau müsste es heißen: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg eben nicht den Tod. Angesichts der schwierigen Lage lohnt es, die Erfolgsmodelle etwas genauer zu betrachten: Vielleicht sollten die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin vor ihrer nächsten Runde sich an den Wegen der Nachbarschaft orientieren – bis Bremen oder Kopenhagen ist es gar nicht weit.