Hamburg. Ein Junge kann nicht mehr zur Schule. Er leidet an Essstörungen und depressiven Symptomen, Hilfe bekommt er nicht. Die Hintergründe.
Seit sechs Wochen ist Ben zu Hause, er hat zu nichts Lust und ist nicht fähig, in die Schule zu gehen. Dem Zwölfjährigen geht es psychisch schlecht, und er muss in eine Therapie. Aber: Die Kapazitäten in den Kliniken und bei den ambulanten Therapeuten sind begrenzt, Wartezeiten auf einen stationären Therapieplatz sind lang und liegen bei drei bis zwölf Monaten, auch weil sich die Zahl der psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen erhöht hat. Die Betroffenen sind verzweifelt.
Sie fühlen sich hilflos, weil sie nicht viel machen können, um ihrem Sohn zu unterstützen, und das ist für Wiebke K. und ihren Mann das Schlimmste. Fünf Monate lang saß der Zwölfjährige, wie so viele andere Kinder auch, während des Lockdowns in der Wohnung, konnte nicht zur Schule und hat von zu Hause aus gelernt. Nach außen hin war damals alles in Ordnung.
Corona-Folgen erst mit Schulbeginn deutlich
Kurz nach den Sommerferien, als die Schulen wieder geöffnet hatten und das normale Schulleben begann, als die meisten sich auf die Rückkehr in den Alltag freuten, kam bei dem Siebtklässler der Einbruch. Von einem Tag auf den anderen konnte er morgens nicht aufstehen, blieb im Bett liegen. Nichts ging mehr. Wiebke K., Mutter von vier Kindern im Alter zwischen neun und 23 Jahren, war sofort alarmiert.
Seit diesem Morgen ist nichts mehr, wie es war. Ben, der Golf und Tennis spielte, ist antriebslos, lässt sich zu nichts motivieren. Sein Wesen hat sich geändert. Es begann schon in den Sommerferien, als er sich Aktivitäten mit der Familie entzog. Irgendwann hat er nichts mehr gegessen. Immerhin eine Laugenstange zum Frühstück, eine zum Mittag und abends einen Toast bekommt er inzwischen herunter. Sein Kinderarzt checkt regelmäßig sein Gewicht.
Hamburger Kinderpsychologen haben keine freien Plätze
Die Kinderpsychologin diagnostizierte unter anderem eine Verhaltens- oder emotionale Störung mit Essstörung und depressiven Symptomen und Zwängen und empfahl einen Krankenhausaufenthalt, teilstationär oder stationär.
Ben drängt seine Eltern täglich dazu, ihm einen Therapieplatz zu besorgen. Doch Wiebke K. und ihr Mann finden keinen, noch nicht einmal einen Kinderpsychologen, der Zeit für ihren Sohn hat. Denn die Kinderpsychologin, die die Diagnose gestellt hat, hatte nur einen einmaligen Termin einrichten können. Auch sie sei ausgebucht, musste den Jungen und seine Eltern abweisen. Bens Kinderarzt ist es, der sich donnerstagnachmittags Zeit nimmt, um mit dem Jungen zu reden. Eine therapeutische Ausbildung hat der Arzt keine.
Warten frustriert die ganze Familie
Frustrierend ist dieses Warten für die Familie. „Es stagniert. Es muss doch eine Anlaufstelle geben, wo wir in ein paar Tagen und nicht erst in Monaten oder in einem Jahr mit unserem Sohn hinkönnen“, sagt Wiebke K.. Während des Gesprächs mit dem Abendblatt ist Ben überwiegend dabei, hält sich im Hintergrund und lässt seine Mutter berichten. Familie K. geht an die Öffentlichkeit, „um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe ich diverse Kliniken, in meiner Verzweiflung mittlerweile in ganz Deutschland kontaktiert, und es gab nicht eine Klinik, die nicht eine Wartezeit von sechs bis zwölf Monaten hat“, so Frau K.
„Diese Ungewissheit, das kann man kranken Kindern doch nicht antun.“ Die 50-Jährige hängt sich rein, um ihrem Sohn zu helfen. Weil sie und ihr Mann im Homeoffice arbeiten, können sie das. Müssten sie ins Büro, wäre das gar nicht zu stemmen. „Wie machen Familien das, die sich vielleicht noch weniger selbst helfen können?“, fragt sich Frau K. Unterstützung oder weitergehende Informationen habe sie von niemandem bekommen, sie muss sich alles selbst zusammensuchen. Sie recherchiert und hat eine Liste mit Psychologen und Kliniken angerufen, doch überall dieselbe Antwort: Aufnahmestopp, Wartezeiten von mehreren Monaten.
Patientenanfragen in Hamburg um 33 Prozent gestiegen
Familie K. ist kein Einzelfall. In Hamburg sind die Patientenanfragen (Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche) in den psychotherapeutischen Praxen Anfang dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um durchschnittlich 33 Prozent gestiegen, ergab eine Auswertung der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung. „Die Zahlen sind eindeutig: Die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen hat zugenommen“, sagt Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV). In einer DPtV-Umfrage gaben die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten an, dass im Vergleich zum Vorjahr sich durchschnittlich 60 Prozent mehr Patienten an die Praxen gewandt haben.
In Hamburg ist die Nachfrage nach Therapien für Kinder und Jugendliche in den psychotherapeutischen Praxen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 58 Prozent gestiegen. Trotzdem könne 25 Prozent der Kindern und Jugendlichen innerhalb von zwei Wochen und mehr als der Hälfte innerhalb eines Monats ein Erstgespräch angeboten werden.
Auch beim UKE lange Wartezeiten
Ben gehört nicht zu denen, die unmittelbar Hilfe bekommen. Seine Mutter hatte sich an mehrere Kliniken in und um Hamburg gewandt, sogar in Süddeutschland hat sie gesucht. Einen Termin bei einem Arzt hat sie für ihren Sohn nirgends erhalten. „Und somit sind wir noch nicht einmal auf einer Warteliste.“
Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) etwa dauert es je nach Station drei bis fünf Monate, ehe ein Platz für eine Behandlung frei ist. Notfälle werden sofort stationär aufgenommen, wobei ein Notfall vorliegt, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. „Grundsätzlich empfehlen wir vor und nach der Aufnahme bei uns auch immer eine Versorgung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis oder bei Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, weil auf unseren Stationen nur ein Teil einer notwendigen Therapie stattfinden kann“, so Carola Bindt, kommissarische Klinikdirektorin und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.
Kinder leiden besonders häufig unter Depressionen
„Der Bedarf an Therapieplätzen hat vor allem zugenommen, weil es über die Lockdown-Zeiten eine Versorgungslücke gab, die wir jetzt füllen. Praxen niedergelassener Kollegen und Kolleginnen waren zum Teil geschlossen sowie auch die Schulen, die oft den Impuls zur Vorstellung geben.“ Es sind vor allem Depressionen mit Suizidalität, Angststörungen und Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, mit denen Kinder und Jugendliche zu tun haben.
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Am katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift warten derzeit 37 Patienten auf einen Platz in der Tagesklinik, einige bereits seit Januar 2021. Die durchschnittliche Wartezeit liegt bei Regelaufnahmen bei vier bis fünf Monaten. Gerade wurde das Angebot um weitere sieben stationäre und vier bis acht teilstationäre Behandlungsplätze ausgebaut.
Förderprogramm für psychische Gesundheit gefordert
Die Zunahme an Patienten, so Joachim Walter, Chefarzt in der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, habe auch etwas mit der Akzeptanz von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zu tun. Corona stelle dann einen zusätzlichen Risiko-, beziehungsweise Belastungsfaktor dar, der zu anderen Belastungen hinzukomme. Manche Störungen wie Schulängste, würden nun mit dem Ende der Corona-Maßnahmen intensiver.
„Corona wird bei der heranwachsenden Generation Spuren hinterlassen“, warnt Gebhard Hentschel. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung fordert: „Wir sollten Geld für Hilfs- und Unterstützungsangebote bereitstellen. Wir brauchen ein Förderprogramm für psychische Gesundheit und soziales Miteinander.“
Corona-Folgen: Kinder müssen gestärkt werden
Außerdem sollte es, so eine Forderung der Psychotherapeuten, möglich sein, dass Privatpraxen kurzfristig eine temporäre Kassenzulassung bekommen und sich schnell und unbürokratisch für Kassenpatienten öffnen können. Eine weitere Verbesserung der Situation erhofft sich der Verband von der Öffnung von Privatpraxen für Kassenpatienten: Wenn jemand mindestens drei Absagen von Therapeuten nachweisen kann, sollten sich die Betroffenen an Privatpraxen wenden können und die Kosten von der Krankenkasse erstattet bekommen.
Bens Lehrer an der Stadtteilschule hat ihm angeboten, ein bis zwei Stunden in der Woche in die Schule zu kommen, um seine Mitschüler zu treffen. Aber noch packt Ben das nicht. Wichtiger als Schule ist es, gesund zu werden: „Der Fokus darf nicht nur auf versäumtem Schulstoff liegen. Kinder müssen psychisch gestärkt werden und Zeit für Spiel, Sport, Kultur und soziale Interaktion erhalten, um die Monate eingeschränkter Kontakte auszugleichen“, so Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Hentschel.