Hamburg/ Bad Oldesloe. Hagenbeck, Sieveking, Petersen – diese Namen kennt fast jeder in der Stadt. Siebter Teil der Serie über große hanseatische Traditionen.
Erst gab es Tee, Anisette-Gewürzlikör und gepflegte Gespräche; anschließend wurde feudal gespeist. Der Tafelaufsatz, so ist in einem roten Gesell-schaftsbüchlein festgehalten, bestand aus Goldbronze. Diese Kandelaber und üppig verzierten Fruchtschalen hatten die Franzosen bei ihrem Abzug aus Hamburg anno 1813 hinterlassen – gegen anständige Bezahlung, versteht sich.
Dank dieser akkuraten Aufzeichnungen sind Facetten des großbürgerlichen Stils bekannt, mit dem die Familie Jenisch ihre Besucher Anfang des vergangenen Jahrhunderts verwöhnte. Ebenso wie vorzügliche Speisen und erlesene Weine lockten Freigeist und liberale Gesinnung. Dieser Stil wurde besonders auch von einem Freund geprägt, dem Reichsfreiherrn Caspar Voght. Adelige, Regenten, Bürgermeister, Senatoren, Diplomaten, Bankiers und Kaufleute kamen gerne.
Auch Kaiser Wilhelm II. kam manchmal vorbei
In den reetgedeckten Remisen und Ställen an der heutigen Baron-Voght-Straße standen Kutsch- und Reitpferde. Die Familie besaß ein Coupé, einen viersitzigen Landauer sowie die Victoria, einen Zweisitzer mit zurückschlagbarem Lederverdeck. Hoch auf dem Bock thronte der Kutscher im blauen Livree mit Silberlitzen und dem Jenisch-Wappen mit Schwert und Lilien.
Bisweilen schauten Kaiser Wilhelm II. und seine Gemahlin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg im Jenisch Haus vorbei. Der Park nebenan, als „Kanzleigut“ bereits 1828 von den Vorfahren erworben, lud zum Lustwandeln. Es ließ sich vortrefflich leben in der ländlichen Idylle vor den Toren der Hansestadt.
So ungefähr muss es sich Zimbert Jenisch vorgestellt haben, als er um 1605 aus Bayern nach Hamburg auswanderte. In Kempten und Augsburg bekleideten die Jenischs seit Mitte des 14. Jahrhunderts über Generationen politische Ämter. Das wirtschaftliche Klima im Norden mit Aussicht auf ein kommodes Leben zogen den Unternehmenslustigen aus Süddeutschland an. Es lockten das ausgeprägte Gewinnstreben, der boomende Hafen und die Nähe zu den maritimen Handelswegen. Rasch begriff der Neubürger das Prinzip, erwarb 1618 das Hamburger Bürgerrecht, gründete die Firma Pütz & Jenisch und – fast noch wichtiger – heiratete eine Tochter der einflussreichen Kaufmannsfamilie Amsinck. So erschloss sich Zimbert Jenisch den Zugang zu vornehmen hanseatischen Kreisen.
Der Weg zu Wohlstand und Einfluss war frei. Als Zimbert Jenisch 1645 starb, war er ein gemachter Mann. Die Jenischs verstanden es meisterhaft, Erreichtes zu bewahren und Erfolge auszubauen. Tugenden wie Charakterstärke, Ehrbarkeit und dezente Zurückhaltung in der Öffentlichkeit wurden großgeschrieben.
Ein Teil der Besitztümer ist verpachtet
Im Kern hat sich daran bis heute nichts geändert. „Unsere Familie steht von jeher nicht gerne im Mittelpunkt“, sagt Martin Freiherr von Jenisch beim Lunch im Restaurant Quellental. „Bescheidenheit ist immer besser.“
Eher zufällig kommt beim abschließenden Espresso heraus, dass ihm Grund, Boden und Gebäude in Klein Flottbek gehören. Als Eigentümer hat die Familie von Jenisch den Westerpark an die Stadt und den Derbypark an den Norddeutschen und Flottbeker Reiterverein verpachtet. Dort wurde im Mai das 89. Deutsche Springderby ausgetragen. Diese Pachtgeschäfte bringen dem Allgemeinwohl mehr als der Familienkasse. Doch gibt es wertvollere Güter als Geld. Tradition zum Beispiel.
Doch über Finanzielles spricht Martin Freiherr von Jenisch gar nicht gerne. So übrigens steht sein Name im Pass. Seit der kaiserlichen Erhebung in den Adelsstand 1906 tragen die Jenischs das „von“ vorweg. Vom Titel her ist von Jenisch eigentlich ein Baron. Doch auf Äußerlichkeiten legt einer wie er keinen Wert. Der Mann ist anpackend, bodenständig und geradeaus. Meinen viele, mit denen er zu tun hat. Außerdem, behaupten nicht nur die Pferdeleute in Flottbek, gilt bei dem 70-Jährigen ein Handschlag mehr als ein Berg Papierkram – wie es schon bei den Vorfahren gute Sitte war.
Kein Platz für Freigeist in der "Führerstadt"
Seine Großeltern Thyra und Martin Johan Rücker Freiherr von Jenisch waren 1913 mit ihrer Familie nach Blumendorf gezogen. Später verpachtete die Witwe Thyra Flottbek an die damals noch freie Stadt Altona. Ihr Sohn verkaufte das Areal dann 1938 an die Stadt Hamburg – bevor es zu einer Enteignung kam.
Denn für Freigeist, offenherzige Diskussionsabende und illustren Lebenswandel blieb kein Raum mehr. Im Rahmen des Plans einer „Führerstadt“ sollten der Jenischpark und das Jenisch Haus in eine „Hansische Universität“ verwandelt werden. Das malerisch gelegene Gut Blumendorf diente als Refugium in turbulenten Zeiten.
Dort findet Treffen Nummer zwei für diese Geschichte statt. Eine gute halbe Autostunde vom Horner Kreisel entfernt ist die Natur intakt. Neben dem 1755 errichteten und jetzt liebevoll restaurierten Haupthaus umfasst das Gut Betriebsgebäude, Fachwerkscheunen, pavillonartige Torgebäude, Koppeln, Parkanlagen und landwirtschaftliche Nutzflächen. Die Musikabende im Rokokosaal des Herrenhauses können von jedermann besucht werden.
„Es soll erhalten bleiben, was ich von meinem Vater übertragen bekam“, sagt Martin von Jenisch beim Gespräch im Wohnzimmer. Neben dem Kamin hängen Porträts seiner Ahnen. Überall stehen Blumen in großen Vasen. Es ist die Handschrift seiner Ehefrau Brigitte. Jüngst begingen beide silberne Hochzeit.
Dreimal die Woche vom Gut nach Hamburg
Gemeinsam mit dem Gut Fresenburg bildet Blumendorf einen Betrieb. Fünf feste und mehrere freie Mitarbeiter kümmern sich um Ackerbau wie Weizen, Raps oder Mais, um erneuerbare Ener-gien sowie um Forstwirtschaft. Martin von Jenisch, von Haus aus diplomierter Betriebswirt, garantiert mit Erlösen aus seinem Immobilienbesitz ein ausgeglichenes Ergebnis.
Er selbst lebt im Herrenhaus, fährt jedoch im Schnitt dreimal die Woche nach Klein Flottbek. Auch dort gibt es regelmäßig zu tun. Im Gesellschaftsraum des zweistöckigen, schlossartigen Gebäudes lassen wir uns an einem großen Tisch nieder.
Wie, Herr von Jenisch, sieht die Familie aktuell aus? Nach dem Tod seines Vaters Johan-Christian im Jahr 2003 lebt die 92 Jahre alte Mutter Elisabeth vor Ort in Blumendorf. Beide haben vier Kinder, neben dem Hausherrn Martin eine Tochter und zwei weitere Söhne. Die Tochter lebt in London, ein Sohn in Frankfurt, der andere mit Ehefrau und drei Söhnen in den Hamburger Elbvororten.
Auch Brigitte und Martin von Jenisch haben drei Kinder: zwei Mädchen und einen Jungen zwischen 19 und 24 Jahren. Das Trio ist außer Haus. Famili-äre Banden werden intensiv gepflegt. In Sachen Traditionsbewusstsein herrscht Einigkeit: Auf Bitte der Familie von Jenisch forscht der Biograf und Mitarbeiter des Jenisch Hauses, Karl-Heinz Schult, nach Details der Familienhistorie. Akribisch baut er am Vermächtnis für künftige Generationen. So übertrug er die erst kürzlich entdeckten Reisetagebücher der Familie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in heute lesbare Schrift. Eine Mammutarbeit.
Stiftung für Notleidende gibt es noch heute
„Leider ist ein Teil der Unterlagen während der Bombenangriffe auf Hamburg zerstört worden“, sagt Martin von Jenisch. Alben mit Schriftstücken und ein Reisepass von 1838 befinden sich im Staatsarchiv. In der Bibliothek auf Gut Blumendorf, im Jenisch Haus sowie privat werden weitere Erinnerungsschätze aufbewahrt: Gemälde, weitere Urkunden, ein Testament von 1824.
Die von Jenischs schrieben aber nicht nur Hamburger Geschichte, sondern gestalteten auch Politik und Diplomatie. Martin Johan Jenisch der Ältere war um 1811 als Gesandter der Hanse-städte bei Napoleon in Paris im Einsatz. Sein Sohn, Martin Johan Jenisch der Jüngere, machte sich bis zu seinem Tod 1857 als erfolgreicher Kaufmann und einflussreicher Senator einen exzellenten Namen. Er ließ oberhalb von Teufelsbrück das Jenisch Haus errichten, kaufte die holsteinischen Güter Blumendorf und Fresenburg.
Als Senator und Präses der Baudeputation machte sich Martin Johan Jenisch der Jüngere nach dem verheerenden Brand von 1842 um den Wiederaufbau in seiner Geburtsstadt Hamburg verdient. Unvergessen ist sein Wirken für Bedürftige. Er gründete eine Stiftung für Not leidende Familien, besonders für arme, seinerzeit meist unversorgte Witwen. Heutzutage sitzt sein Ururenkel Martin von Jenisch im Vorstand dieser unverändert aktiven Institution. Auch das gibt er erst auf Nachfrage preis. Mehr sein als scheinen, diesen Grundsatz beherzigt kaum jemand so intensiv wie die Familie von Jenisch. Damals wie heute. Buten un binnen.