Hamburg. Teamleiter Malte Stüben spricht über die Erlebnisse Hamburger Ehrenamtlicher in den Flutgebieten – und die Folgen.
Ihre Aufgabe lautet, Menschen vor dem psychischen Abgrund zu bewahren: Nach Verbrechen, Unfällen und Katastrophen leistet das Hamburger Kriseninterventionsteam (KIT) seelische Erste Hilfe für Hinterbliebene, Zeugen und Retter vor Ort. Die Gruppe besteht aus Ehrenamtlichen – und wird vom Deutschen Roten Kreuz in Harburg über Spenden finanziert.
Nach Beginn der Flutkatastrophe wurde das Hamburger KIT in die betroffenen Gebiete nach Rheinland-Pfalz gerufen, der Einsatz dauert weiter an. Im Interview spricht Teamleiter Malte Stüben über seine Erlebnisse und Kritik an der Bewältigung der Krise.
Hamburger Abendblatt: Herr Stüben, Sie waren vier Tage in den Flutgebieten in Rheinland-Pfalz. Ein Teil Ihres Teams ist dort weiterhin aktiv. Wie geht es Ihnen?
Malte Stüben: Auch ich stehe ehrlich gesagt noch sehr unter dem Eindruck der Erlebnisse. Wir kennen aus unseren Einsätzen in Hamburg viele extreme Situationen, sind geschult im Umgang damit. Aber dieser Einsatz war beispiellos. Das wirkt nach. Davor kann man sich nicht schützen.
Sie und Ihr Team wurden kurzfristig für die psychosoziale Akuthilfe im Katastrophengebiet alarmiert.
Stüben: Die Vorlaufzeit betrug nur wenige Stunden. Wir haben uns abends auf den Weg gemacht und waren um 2 Uhr in der Frühe vor Ort. Trotz der Ferien war rund die Hälfte unserer 45 Ehrenamtlichen dabei. Einige haben sehr kurzfristig ihren Urlaub abgebrochen. Wir haben ja eine große Bandbreite im Team, vom Informatiker über Psychologinnen bis zu Rettungsassistenten, die nun auch medizinische Hilfe leisten. Die Bereitschaft war beeindruckend.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass es ein besonderer Einsatz wird?
Stüben: Schon auf der Autobahn sind wir extrem vielen Einsatzfahrzeugen begegnet, die aus allen Himmelsrichtungen in Richtung Ahrweiler fuhren. Auch schwer beladene Transporter der Bundeswehr mit Brückenteilen. Die ersten Bilder aus den Medien hatten wir natürlich gesehen, aber das gibt einem nur eine sehr vage Ahnung. Dann ist man schon dicht dran am Einsatzort, fährt aber noch durch malerische Weinberge, die unversehrt geblieben waren, das ist surreal. Und nachdem man gefühlt noch einmal um die Ecke biegt, sieht man plötzlich das ganze Ausmaß.
Wie war die Situation zu Beginn?
Stüben: Die Verwüstung war grenzenlos. Anwohner standen vor Schutt, der gar nicht erkennen ließ, dass dort einmal ein Haus stand. Soldaten sagten mir vor Ort, sie hätten selbst in Afghanistan nicht so großflächiges Leid und Zerstörung erlebt. Teilweise gab es auch Bereiche, in denen gar keine Hilfe angekommen war. Es gab mehr als 800 Verletzte allein in dieser Region, noch ungezählte Tote und Vermisste. Unsere erste Aufgabe war Lageerkundung.
Waren genügend Helfer vor Ort?
Stüben: Ja, aber es gab zunächst kaum jemanden, der sich vor Ort auskannte. Die örtliche Feuerwache war zerstört. Die Rettungsfahrzeuge waren weggespült worden. Die Kräfte vor Ort hatten nicht helfen können, weil sie zuerst ihr eigenes Leben und das ihrer Familien retten mussten. Sie waren keine Retter in diesem Moment, sondern nur Väter, Mütter, Freunde. Gruppen von Anwohnern standen an den Trümmern. Wir sind auf sie zugegangen, während das Technische Hilfswerk nur einige Meter daneben in den Überresten von Häusern nach Verletzten und Toten suchte.
Wie spricht man die Anwohner in dieser Lage an?
Stüben: Die Menschen hatten selbst ein großes Bedürfnis, sich mitzuteilen. Viele sind einfach zu uns gekommen und haben uns umarmt, manchmal minutenlang und wollten nicht mehr loslassen. Da war aber auch viel Unverständnis und Wut, die sich bald Bahn brach. Drei Tage hätten sie teilweise schon auf Hilfe gewartet, sagten Anwohner, aber niemand sei gekommen. Warum seid ihr so spät? Warum habt ihr uns nicht eher geholfen? Diesen Fragen waren die Rettungskräfte sehr stark ausgesetzt. Und ihnen war das Leid ebenso anzusehen.
Wie gelingt es Ehrenamtlichen, nicht selbst von den Bildern übermannt zu werden?
Stüben: Das ist sehr schwer. Die Betroffenen haben in einer solchen Situationen keinen Filter und erzählen fast jedes Detail. Wie ein totes Kind in einem Baum hing und über Tage noch nicht geborgen werden konnte, sodass sie es ständig sehen mussten. Wie ein Auto nach Tagen gefunden wurde und die verstorbenen Insassen noch angeschnallt waren. Wie eine Feuerwehrfrau, die Menschen auf einem Campingplatz retten wollte, dabei verstarb. Wie ein Radlader die Leichen in seiner Schaufel zu einer Ablagestelle durch den Ort fuhr. So etwas hört man in schneller Abfolge, dutzendfach. In Einzelfällen mussten wir Ehrenamtliche kurzzeitig aus dem Dienst nehmen, weil es einfach zu viel war. Man bewältigt die Eindrücke über die Gemeinschaft im Team, so gut es geht. Ich bin stolz darauf, wie meine Kollegen und Kolleginnen vor Ort aufgetreten sind.
Konnten sie den Betroffenen dabei helfen, die Erlebnisse zu verarbeiten?
Stüben: Um eine wirkliche Verarbeitung ging und geht es oft noch gar nicht. Nur um Schritte dahin, das Geschehen überhaupt zu realisieren und es einordnen zu können. Materiell und psychisch ist den Menschen der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Eine alte Frau hatte noch drei Bilder aus ihrem Haus unter dem Arm, sonst besaß sie nichts mehr. Andere hielten sich an einem einzelnen Silberlöffel fest. Wir haben die Betroffenen in die Häuser begleitet, soweit es möglich war. Ein Teil der Arbeit bestand auch darin, die Betroffenen in Transportfahrzeugen mitzunehmen und dabei ins Gespräch zu kommen.
Hat sich die psychische Lage der Betroffenen verbessert, als die Aufräumarbeiten Fahrt aufnahmen?
Stüben: Es war zumindest ein Signal, dass nun endlich Hilfe da ist. Wir sprechen aber über eine unvorstellbare Belastung, die ja über Tage anhielt. Je länger potenziell traumatisches Erleben ist, desto schwieriger ist es auch, die Betroffenen aufzufangen.
Es liegt für Betroffene nahe, einen Schuldigen für die Katastrophe finden zu wollen. Bundesweit brach unmittelbar eine erneute Debatte über die Folgen des Klimawandels los.
Stüben: Für die Menschen vor Ort war das gar kein Thema. Sehr wohl aber, dass man nicht gewarnt worden sei. In Verbindung mit dem langen Warten auf Hilfe hat es ein Gefühl verstärkt, dass man im Stich gelassen worden sei.
Können Sie die Kritik nachvollziehen, dass der Staat zu langsam reagiert habe?
Stüben: Teilweise ja. Aber mir fehlt auch ein Ansatz, wie die Probleme besser hätten aufgelöst werden können. Auch die gesamte Infrastruktur vor Ort ist ja einfach fortgerissen worden. Wir kamen selbst über Tage nur per Helikopter in bestimmte Bereiche. Der Wiederaufbau von Brücken etwa lief auf der anderen Seite sehr schnell und professionell ab. Auch für unseren Bereich – mit dem größten Einsatz von Kriseninterventionsteams in der Geschichte und Kräften aus elf Bundesländern – war gut organisiert, gerade in der Kürze der Zeit.
Etwa zehn Ehrenamtliche aus Hamburg sind noch bis zum Wochenende vor Ort. Haben sich die Aufgaben verändert?
Stüben: Wir spüren eine deutliche Verschiebung dahin, dass nun vor allem Einsatzkräfte eine akute Krisenbetreuung brauchen. Sie haben bereits eine lange Zeit der extremen Beanspruchung hinter sich. Auch unter ihnen wird es Fälle geben, die weiter fachliche Hilfe benötigen, um mit den Erlebnissen umzugehen.
Wie gehen Sie mit möglichen psychischen Folgen für die Mitglieder Ihres Teams um?
Stüben: Wir haben eine gemeinsame Besprechung, aber auch die Möglichkeit zu Einzelgesprächen mit externen Supervisoren vorbereitet. Die Ehrenamtlichen sind in ihren Hauptberufen teilweise noch freigestellt oder haben eine reduzierte Arbeitszeit. Die Arbeitgeber sind hier zum Glück sehr entgegenkommend und auch stolz auf ihre Mitarbeiter.
Kann man die Bilder überhaupt endgültig verarbeiten?
Stüben: In dem Sinne, dass man einen Haken dranmacht und alles wieder normal ist: eindeutig nein. Die Eindrücke werden ein Teil unseres Lebens bleiben. Wir werden aber einen Weg finden, mit ihnen so gut wie möglich umzugehen und sie in unser Leben zu integrieren.