Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit Uni-Präsident Dieter Lenzen über (große) Themen unserer Zeit.

Wie jetzt?“ heißt ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Lars Haider und Dieter Lenzen sprechen alle 14 Tage über Fragen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen.

Diesmal geht es um die Bundeskanzlerin, die die Hoheit über die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie den Bundesländern abgenommen, vielleicht sogar entrissen hat – und damit den Föderalismus nicht unbedingt stärkt.

Lars Haider: Ich finde es seltsam, wie die Bundeskanzlerin die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten im Laufe der dritten Corona-Welle entmündigt hat. So nach dem Motto: Ihr habt das nicht hinbekommen, jetzt nehme ich euch die Verantwortung weg.

Dieter Lenzen: Es gab zwei Probleme: Erstens den Zickzackkurs vieler Ministerpräsidenten, der die Corona-Situation eher verschlechtert als verbessert hat. Und zweitens die unterschiedlichen Regeln, die in den Bundesländern galten. Es gab einen großen Bedarf an Gemeinsamkeiten, und die Kanzlerin wollte dieses Maß an Beliebigkeit nicht weiter zulassen. Es kam hinzu, dass in den Ländern immer wieder nach Volkes Stimmes geschielt wurde, was in einer Demokratie ja grundsätzlich nicht falsch ist. Aber was das Volk oder Teile des Volkes wollen, muss in so einer besonderen Situation wie der Pandemie eben auch nicht richtig sein.

Wenn man all das so bewertet, kann man es mit dem Föderalismus ja gleich sein lassen.

Lenzen: Der Föderalismus ist in der Tat eine komische Einrichtung, die vielleicht nur historisch erklärbar ist. Es braucht eine Zeit, bis ein Land bereit ist, Gemeinsamkeiten, eventuell sogar ein Stück Zentralismus zuzulassen, wenn es das erlebt hat, was Deutschland in seiner Geschichte erlebt hat. Nach dem Wahnsinnszentralismus des Dritten Reiches war es richtig, Deutschland so zu strukturieren, wie wir es heute noch vorfinden. Doch langsam sollten wir uns daran gewöhnt haben, dass bestimmte Fragestellungen mehr bundeseinheitliche Lösungen notwendig machen und dass diese nicht jedes Mal ausgehandelt werden können. Sonst werden wir die großen Probleme unserer Zeit nicht lösen können, sondern in vielen Bereichen zu den Verlierern gehören. Wir haben ja auch nicht mehr 16 verschiedene Armeen …

Das stimmt. Trotzdem besteht die Gefahr, dass bei den Menschen in den Bundesländern der fatale Eindruck entsteht, dass die da in Berlin immer alles besser wüssten, was definitiv nicht stimmt. Oft fehlt der Bundespolitik das Gespür für das, was die Menschen da draußen umtreibt. Und: Wenn ich Ministerpräsident von Schleswig-Holstein oder Bürgermeister von Hamburg wäre, wäre ich jetzt enttäuscht. Denn Daniel Günther (CDU) und Peter Tschentscher haben in der Corona-Krise vieles richtig gemacht, ehrlich gesagt mehr als die Kanzlerin, und werden ihrer Kompetenzen nun beraubt.

Lenzen: Um es mal klar zu sagen und etwas zu dramatisieren: Ein Teil der Menschen, die in Deutschland an Corona gestorben sind, ist gestorben, weil es keine einheitlichen Regelungen gab.

Markus Söder und Angela Merkel
Markus Söder und Angela Merkel © picture alliance/dpa/dpa-pool | Unbekannt

Aber auch, weil sich die Politik nach der geplatzten Osterruhe wahnsinnig viel Zeit mit Maßnahmen gelassen hat, so, als gäbe es die dritte Welle gar nicht. Ich sehe noch Angela Merkel (CDU) bei Anne Will sitzen und sagen: „Sie glauben doch nicht, dass ich mir das zwei Wochen tatenlos ansehe.“ Sie hat es sich nicht zwei Wochen angesehen – bis zur Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes sind vier Wochen vergangen. Und das, obwohl eigentlich alle wichtigen Punkte auf der letzten Ministerpräsidentenkonferenz geregelt worden waren.

Lenzen: Auch das ist ein Produkt des Föderalismus. Man braucht so lange für ein neues Gesetz, weil es einfach zu viele Schnittstellen gibt, die Zeit kosten. Das ist kein persönliches Versagen, etwa der Kanzlerin, sondern ein Systemversagen. Und deshalb ist es höchste Zeit, daran etwas zu ändern.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Was die Regierungschefs da getan haben, wäre etwa so, als würden 17 Feuerwehrleute um ein brennendes Haus stehen und immer wieder sagen: „Eigentlich müssten wir dringend mal löschen.“ Aber keiner tut was.

Lenzen: Man müsste einmal analysieren, welche Umstände zur Reduzierung des Tempos auch in dieser Frage geführt haben. Hat es mit dem System zu tun, wie ich vermute, oder mit der Art und Weise, wie Angela Merkel führt? Denn natürlich ist es charakteristisch für ihre Politik gewesen, zunächst mal zu warten, statt falsche Entscheidungen zu treffen. Aber es gibt Situationen, und da fällt uns immer wieder Helmut Schmidt ein, in denen man nicht warten und alle Regeln einhalten kann. Da muss gehandelt werden. Und wenn man falsch handelt, ist man draußen.

Die Gefahr bestand bei Angela Merkel nicht einmal. Sie weiß doch, dass sie in wenigen Monaten sowieso nicht mehr Bundeskanzlerin ist und entsprechend nichts zu verlieren hat. Sie hätte machen können, was sie für richtig hält. Oder ist das Problem, dass uns die Pandemie ausgerechnet in einer Situation erwischt hat, in der die Macht von Angela Merkel nicht mehr so stark war, weil jeder wusste, dass sie das Amt verlassen würde?

Lenzen:  Das wird die Geschichte zeigen.

Was macht das mit Ministerpräsidenten, wenn sie plötzlich nicht mehr für die Corona-Regeln in ihren Ländern verantwortlich sind?

Lenzen: Einerseits könnte ich mir vorstellen, dass einige der Herrschaften erleichtert sind, weil ein Entscheidungsfeld, in dem man viele Fehler machen kann, wegfällt. Andererseits kann man gerade bei der Bekämpfung der Pandemie auch Punkte machen, weil man sich nach dem Willen des Volkes gerichtet hat. Ich als Ministerpräsident würde sagen: Diese Themen soll ruhig der Bund regeln, da kann man nichts gewinnen.

Wir können für Hamburg festhalten: Peter Tschentscher (SPD) hat unabhängig von allen anderen seine Strategie konsequent durchgezogen, die beschlossene Notbremse umgesetzt und damit genau das getan, was man von einer Führungskraft, schon gar von einem Ersten Bürgermeister, erwartet.

Lenzen: Wir erleben in Hamburg den glücklichen Zufall, dass Führung mit Expertise zusammenfällt. Weil unser Bürgermeister gleichzeitig Mediziner ist, kann und muss ihm keiner sagen, wie er Politik gegen Corona machen soll. Ihm geht es nicht um vordergründige, persönliche Erfolge, sondern mit großer Besorgnis und Ernsthaftigkeit um das Ganze. Ich bin gespannt, wann er eine führende Rolle auch an anderer Stelle, etwa im Bund, einnimmt. Manchmal würde man es sich sehr wünschen.

Peter Tschentscher und Daniel
Günther haben in
der Krise vieles
richtig gemacht.
Peter Tschentscher und Daniel Günther haben in der Krise vieles richtig gemacht. © picture alliance / Carsten Rehder/dpa | Unbekannt

Zumindest hat er eine Corona-Politik abgeliefert, die viel angesehener und effektiver ist als die von Markus Söder (CSU).

Lenzen: Der ist eben auch kein Experte.

Hätte die Ministerpräsidentenkonferenz besser funktioniert, wenn es nicht auch dort den Konflikt zwischen Armin Laschet und Markus Söder gegeben hätte?

Lenzen: Das mag eine Rolle gespielt haben. Ich glaube aber, dass die Erwartungen an Ministerpräsidentenkonferenzen genauso überzogen sind wie etwa an Kultusministerkonferenzen. Roman Herzog hat einmal gesagt, die Kultusministerkonferenz sei ein Kardinalskollegium. Das gilt auch für die MPK. Die Frage ist, ob die Treffen, wie wir sie erlebt haben, überhaupt die geeignete Form waren, um die richtigen Maßnahmen gegen die Pandemie zu finden. Vielleicht war der Mangel an Expertise in diesem Gremium schlicht zu groß. Bei der Kultusministerkonferenz, und die kann ich gut einschätzen, ist das zumindest nicht selten der Fall.