Hamburg/Kiel. Sogar im Corona-Jahr 2020 waren Norddeutsche zufriedener als Menschen anderswo. Das liegt nicht nur an Ausflügen in die Natur.
Was macht uns glücklich? Was ist Glück überhaupt? Die Antworten auf diese Fragen haben sich für viele von uns durch die Pandemie gewaltig verändert. Oder hätten Sie gedacht, dass Sie einmal Selbstverständlichkeiten wie eine Umarmung der Eltern, einen Einkaufsbummel, einen Spaziergang ohne Ausweichmanöver oder ein Feierabendbierchen mit Kollegen als Glück betrachten würden?
„Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das Große vergebens warten“, wusste schon Schriftstellerin Pearl S. Buck – Jahrzehnte bevor ein neuartiges Coronavirus unser soziales Leben einfror. So schlimm die Pandemie auch ist. Vielen hat sie nach mittlerweile 13 Monaten die Augen für diese kleinen Glücksmomente geöffnet, die früher oftmals gar nicht als solche wahrgenommen wurden.
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Zum Beispiel den Aufenthalt in der Natur. Ob in Parks, am Fluss oder am Meer, auf dem Land, in der Heide oder im Wald – plötzlich strömen alle ins Freie. Natürlich liegt das zunächst daran, dass man hier relativ sicher vor Viren ist und daher mit Menschen zusammen sein kann, die man aus Frucht vor Ansteckung drinnen lieber nicht treffen möchten. Aber die Menschen hätten auch ein anderes Verhältnis zur Natur entwickelt, sagt Axel Jahn. Er ist Geschäftsführer der Loki-Schmidt-Stiftung, die unter anderem auch Exkursionen in Naturschutzgebiete und das aus Japan stammende Waldbaden anbietet.
Menschen entdecken die Natur als Teil der Lebensqualität
„Seit sich die Menschen mehr im Freien aufhalten, entdecken sie die Natur neu“, sagt er. „Nicht nur, weil sie dort Vögel beobachten und neue Pflanzen kennenlernen können, sondern auch als idealen Ort für Erholung und Entspannung.“ Durch den pandemiebedingt häufigen Aufenthalt in der Natur würden viele Menschen diese dauerhaft als Teil ihrer Lebensqualität begreifen, davon ist der Naturschützer überzeugt.
Schließlich tut man damit nicht nur seiner seelischen, sondern auch der körperlichen Gesundheit etwas Gutes. Bei dem in Japan Shinrin Yoku genannten traditionellen Waldbaden etwa setzt man auf belebende Kräfte durch die Duftstoffe der Bäume und den hohen Sauerstoffgehalt. Und Bewegung fördert unter anderem die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin und fördert damit die gute Laune.
Den Menschen in Hamburg und Schleswig-Holstein scheint das Glück sogar in die Wiege gelegt worden zu sein; sie gelten nämlich als die Glücklichsten der ganzen Republik. Dass sie im Großen und Ganzen Frohnaturen sind, wird ihnen regelmäßig im Glücksatlas bescheinigt, den das Institut für Demoskopie seit 2010 im Auftrag der Deutschen Post entwickelt. Sogar im Corona-Jahr 2020 lagen sie dort an der Spitze: Mit einem allgemeinen Zufriedenheitswert von 6,92 Punkten teilten sich die beiden Länder den ersten Platz – und liegen damit deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt von 6,74 Punkten.
Norddeutsche gelten in der Republik als besonders glücklich
Was aber macht sie so glücklich? Ist die norddeutsche Gelassenheit, die Nähe zum Wasser und eine steife Brise die perfekte Kombination zum Glücklichsein? Einer, der es wissen muss, ist der Glücksforscher Uwe Jensen. Der Professor am Institut für Statistik und Ökonometrie der Universität Kiel hält den Effekt des Meeres und anderer regionaler Gegebenheiten allerdings für eher gering. „Die Zufriedenheit kommt nicht aus der Gegend, in der wir leben, sondern aus den Personen, die hier leben“, sagt er.
Tatsächlich sei den Menschen im Norden das Glück quasi angeboren – zumindest zu einem großen Teil: Etwa 50 Prozent unserer Zufriedenheit, so Jensen, liege in unseren Genen begründet. „Diesen Genpool teilen wir uns mit unseren skandinavischen Nachbarn, die in Glücksranglisten auf Länderebene auch immer auf den oberen Rängen anzutreffen sind. Die typisch norddeutsche Gelassenheit ist sehr zufriedenheitsstiftend. Sturm ist hier erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben.“
Die guten Lebensverhältnisse – wie Alter, Gesundheit, Arbeit, Bildung oder Einkommen – machten weitere rund 20 Prozent unserer Zufriedenheit aus. „Der spannendste Teil aber sind die nächsten etwa 20 Prozent, die von bewusst gewählten Aktivitäten und Einstellungen abhängen“, sagt der Glücksforscher. So steigerten sportliche Aktivität, ehrenamtliches Engagement sowie gute soziale Beziehungen zu Familie und Freunden die Zufriedenheit ebenso wie dankbar zu sein oder Ziele und einen Lebenssinn zu haben.
Viele Menschen im Norden engagieren sich ehrenamtlich
„Wir im Norden zeichnen uns unter anderem durch ein im Bundesvergleich hohes ehrenamtliches Engagement und viel sportliche Aktivität aus“, weiß Jensen, der für seine Erkenntnisse aus Fragebögen gewonnene Datensätze wie das Sozioökonomische Panel heranzieht, das auch dem bekannten Glücksatlas zugrunde liegt. Und woher kommen die restlichen zehn Prozent unserer Gesamtzufriedenheit? Das, so der Wissenschaftler, wären das sogenannte Tages- oder Zufallsglück.
Dass den Menschen im Norden die generelle Zufriedenheit durch die Pandemie abhandenkommt, glaubt der gebürtige Hamburger übrigens nicht. „Wir sind schon seit Jahren sehr stabil im Durchschnitt die glücklichsten Deutschen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dieser relative Vorteil durch die Corona-Krise verloren geht.“
Doch natürlich schmälert die Krise das Glück, weil sich einiges, was sonst zu Zufriedenheit führt, geändert hat. Schon jetzt bestätigen laut Jensen zahlreiche Studien die zu erwartenden negativen Zufriedenheitseffekte: bei Arbeitnehmern durch Jobverlust oder Angst um den Arbeitsplatz, bei Eltern durch geschlossene Kindergärten und Schulen, bei Hinterbliebenen durch den Verlust von Familienmitgliedern oder Freunden und bei Singles durch die Einsamkeit.
Homeoffice als Alternative zum nervigen Pendeln
„Aber natürlich gibt es auch positive Veränderungen“, sagt der Glücksforscher. Das Homeoffice habe sich als angenehme Alternative zum nervigen Pendeln und zeitraubenden Geschäftsreisen entpuppt – Faktoren, deren negativer Einfluss auch im Glücksatlas genannt werden –, und ausgefallene Flugreisen in die Ferne seien durch einen entspannten Urlaub in Deutschland „mehr als ersetzt“ worden.
Mit Glückstadt und Glücksburg verfügt der Norden gleich über zwei Städte, die ihrem Namen alle Ehre machen – und ihre Besucher glücklich. Wer die historische Häuserzeile am beschaulichen Glückstädter Hafen kennt, auf den Hafentreppen ein Brötchen mit Glückstädter Matjes gegessen und einen Spaziergang entlang des Deiches oder eine ausgedehnte Radtour entlang der Elbe gemacht hat, kann das bestätigen.
Ebenso alle, die schon in Glücksburg an der Flensburger Förde waren – mit seinem eindrucksvollen Wasserschloss, den urigen Wäldern, meterhohen Steilufern und feinsandigen Stränden, von denen man übers Wasser hinweg auf die dänische Küste blickt.
Die Namensgeber der beiden Glücks-Orte waren beide von Adel. Der Ortsname Glücksburg soll von Herzog Johann III., dem Jüngeren, stammen, dessen Wahlspruch „Gott Gebe Glück Mit Frieden“ sich noch heute als Buchstabenfolge „G G G M F“ über dem Portal des von ihm erbauten Schloss findet. Glückstadt wurde – entgegen vieler Bedenken – 1617 vom dänischen König Christian IV. im bis dahin unerschlossenen Marschengebiet an der Elbe gegründet. „Dat schall glücken und dat mutt glücken, un dann schall se ok Glückstadt heten“, lauteten seine Worte bei der Grundsteinlegung.
Glückliche werden seltener krank und schneller gesund
Woher kommt eigentlich die Bezeichnung „Glück“? Glücksforscher Jensen verweist auf den Mediziner Tobias Esch, der sich in seinem Buch „Die Neurobiologie des Glücks“ mit der Frage befasst. Demnach stammt das Wort „Glück“ vom mittelhochdeutschen Wort „gelucke“, womit der gute Ausgang eines Ereignisses gemeint war. „Dieses Glück, auf Englisch ,luck‘, war von außen bestimmt und zufällig“, sagt Jensen. „Das Wort Glück, das auf Englisch ,happiness‘ genannt wird, verbinden wir aber auch mit innerem Glück, Glücklichkeit und Freude – also mit dem emotionalen Wohlbefinden, wenn die positiven Gefühle die negativen überwiegen.“
Mediziner wie Tobias Esch messen Glück übrigens über Hirnströme oder Botenstoffe wie Dopamin. Und sie untersuchen unter anderem, wie sich Glück zur besseren Überwindung von Krankheiten nutzen lässt. „Mediziner wissen“, so Jensen, „dass glückliche Menschen weniger oft krank und leichter wieder gesund werden.“ Und so habe auch die Pandemie zwar das ganze Land, aber den Norden eher weniger als den Süden oder Osten erfasst.