Hamburg. Es ist erstaunlich, wie präzise die Probleme des Gipfels vorhergesehen wurden. Dafür braucht man keine geheimen Lageberichte.

Seit dem Ende des G20-Gipfels tauchen immer neue, vermeintlich geheime Akten und Lageeinschätzungen auf, die die Gefährlichkeit des Treffens der Staats- und Regierungschefs belegen und die Verantwortlichen belasten sollen. Dabei ist die Analyse der Gipfeltage viel einfacher, als man denkt. Man muss sich nur einmal ansehen, was die Beteiligten vor dem Treffen in der Hansestadt gesagt haben – zum Beispiel im Hamburger Abendblatt.

13. Juni:

Viele fragten hinterher: Hatte die Sicherheit des Gipfels und der Gipfelteilnehmer in Hamburg oberste Priorität? Natürlich, und dafür braucht man keine geheimen Akten zu lesen. Im Abendblatt vom 13. Juni steht:

An den deutschen Grenzen haben am Montag Kontrollen wegen des bevorstehenden G20-Gipfels in Hamburg begonnen, um die Einreise möglicher Gewalttäter zu verhindern. Die Grenzkontrollen sollen bis zum 11. Juli in Kraft bleiben, und zwar je nach Lage „örtlich und zeitlich flexibel“, teilte das Bundesinnenministerium mit. Der G20-Gipfel findet am 7. und 8. Juli in der Hansestadt unter massiven Sicherheitsvorkehrungen statt. (…) „Für mich hat die Sicherheit des Gipfels oberste Priorität“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).

18. Juni:

Mit welcher Demonstration es die größten Probleme geben wird, ist schon zu diesem Zeitpunkt klar. „Gegner läuten heiße Phase vor G20 ein“, steht über dem Abendblatt-Text, in dem Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth mit folgenden Sätzen zitiert wird:

„Wir rechnen bei der Welcome-to-Hell-Demo mit einem der größten Schwarzen Blöcke, die es jemals gegeben hat.“ Und: „Wenn wir angegriffen werden, dann werden wir uns auch zur Wehr setzen mit Mitteln, die wir uns selbst suchen.“

20. Juni:

Die Polizei hat sich offenbar auf weit mehr als auf brennende Autos vorbereitet.

„Wir haben mit solchen Anschlägen gerechnet“, lautet die Überschrift über einem Text, in dem es um Brand- und Sprengsätze geht, mit denen der Bahnverkehr von und nach Lübeck lahmgelegt wurde: „Die Taten entsprechen der Einschätzung des Staatsschutzes und den Ankündigungen der Szene“, sagte Polizeisprecher Timo Zill.

21. Juni:

Zweifel daran, dass die Polizei und Justiz mit einer Vielzahl von Kriminellen rechnen, kann es spätestens jetzt nicht mehr geben. Im Abendblatt steht:

Am Dienstag wurde die Gefangenensammelstelle (kurz Gesa) für bis zu 400 Menschen offiziell vorgestellt. (…) Gleich daneben sitzt die Justiz: „Mit der Einrichtung eines Standortes neben der Gesa bereiten wir uns auf die besondere Situation während des Gipfels vor“, sagt ein Gerichtssprecher.

22. Juni:

Schon jetzt warnt die Polizei vor den Folgen, die Protestcamps mit Übernachtungsmöglichkeiten haben könnten. Im Abendblatt steht:

Das Verwaltungsgericht gibt der Klage von Anmeldern eines Protestcamps statt. „Wir halten die Untersagung des Camps weiterhin für erforderlich“, sagt ein Polizeisprecher.

23. Juni:

„Festung Hamburg: Größter Polizeieinsatz hat begonnen“, steht über einem Text, in dem es auch um die Frage geht, was mit dem Schutz der Bevölkerung ist:

Trotz des Personaleinsatzes zu G20 müssten die Hamburger nicht befürchten, dass die Polizei kein Auge für die Alltagskriminalität habe. Polizeisprecher Timo Zill versicherte, dass alle Kommissariate besetzt und alle Streifen planmäßig unterwegs seien. Doch müssten die Kollegen während des Gipfels in Zwölfstundenschichten arbeiten.

24. Juni:

Das Abendblatt berichtet über die Lage im Schanzenviertel. Im Nachhinein lesen sich folgende Zeilen wie ein Vorbericht auf das, was dann tatsächlich passierte:

Die Polizei rechnet daher mit dem Schlimmsten. Seit Wochen informieren die Beamten die Anwohner über mög­liche Einschränkungen und Gefahren am G20-Wochenende. Es stehe, so heißt es, der „größte Polizeieinsatz in der Hamburger Geschichte“ bevor. Fahrräder sollten besser in den Häusern angeschlossen werden, so die Empfehlung eines Beamten. Wer kann, solle den Stadtteil besser meiden. Eltern, deren Kinder die Ganztagsgrundschule Sternschanze nahe dem Tagungsort besuchen, können selbst entscheiden, ob sie ihr Kind zur Schule schicken oder nicht. Eine Regelung, die vom Elternrat begrüßt wird. Unwohl ist den Eltern jedoch: „Es herrscht das Gefühl einer allgemeinen Verunsicherung, da niemand sagen kann, was auf uns zukommt.“

So genau weiß man das auch bei den Sicherheitsbehörden nicht. Dort blickt man vor allem nervös auf die von Autonomen initiierte Demonstration unter dem Motto „Welcome to Hell“ am Donnerstag, 6. Juli, dem Vorabend des G20-Gipfels. Die Polizei erwartet bis zu 8000 gewaltbereite Linksextremisten aus ganz Europa. Die Veranstalter versprechen einen „der größten schwarzen Blöcke, die es je gegeben hat“.

Anmelder Andreas Blechschmidt, Aktivist der Roten Flora, versucht zu beruhigen und ruft die Anwohner dazu auf, sich von dem Gerede über „angebliche Gewaltorgien“ nicht einschüchtern zu lassen. „Das ist natürlich kein Spaziergang der katholischen Pfadfinder­jugend“, sagte Blechschmidt bei der Stadtteilversammlung vor wenigen Tagen und fügte hinzu: „Wir haben es in der Vergangenheit nie getan und werden auch diesmal den Stadtteil nicht in Schutt und Asche legen.

27. Juni:

Dass Gewalttäter skrupellos gegen Polizisten vorgehen würden, wusste man spätestens jetzt. Im Abendblatt steht unter der Überschrift „Radmuttern von Polizeiautos gelockert – Sabotage wegen G20?“:

„Die Taten sind besonders perfide“, sagte der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders. Viele Polizisten wohnten im Umland und benutzten auch Autobahnen. „Wer an ihren Autos Radmuttern löst, nimmt schwerste Schäden oder sogar den Tod des Fahrers in Kauf“, so Lenders.

28. Juni:

In einer Sonderausgabe zum Gipfel stellt das Abendblatt auch die Sicherheitsmaßnahmen vor. Der Text beantwortet die Fragen, die zum Teil bis heute gestellt werden: Für die Sicherheit der Gipfelteilnehmer wird alles getan, sie hat höchste Priorität; gegen Störungen geht die Polizei mit allem vor, was sie hat, Stichwort: null Toleranz; Innensenator Andy Grote deutet an, dass das geplante Demonstrationsverbot kaum ausreichen wird. Und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer gibt eine gewaltige Fehleinschätzung ab. So steht es im Abendblatt:

Wie er seine Strategie betiteln würde? Das sei nicht so einfach, sagt Einsatzleiter Hartmut Dudde. „Ich eigne mich nicht zum Philosophen.“ Sicher sei nur, dass zum G20-Gipfel alles in Hamburg stationiert sein werde, was die deutsche Polizei zu bieten habe. Und noch einiges mehr. „Wenn es nötig sein wird, packen wir das aus“, sagt Dudde, Chefplaner der Hamburger Polizei.

Für die Sicherheit des Gipfels haben die Behörden ein Konzept von beispielloser Größe entworfen. Mehr als 15.000 Polizisten. 3000 Einsatzfahrzeuge. Mehrere Dutzend Wasserwerfer. 7,8 Kilometer „Hamburger Gitter“ für Absperrungen. Spezialbarrieren aus Frankreich. 153 auswärtige Diensthunde und 62 Polizei­pferde. Elf Helikopter. Spezialeinheiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft; aus Deutschland, den Niederlanden und Österreich.

Wenn es ernst werde, sagt Polizeipräsident Ralf Martin Meyer, könnten die Elitepolizisten während des Gipfels in „deutlich weniger als einer Minute“ eingreifen, sollte es im erweiterten Innenstadtbereich etwa zu Blockaden kommen. „Sie sind praktisch überall“, sagt Meyer. Die generelle Linie der Hamburger Polizei unterscheidet sich nicht vom üblichen Vorgehen bei heiklen Demonstrationen in der Hansestadt: null Toleranz, jeder Straftäter wird sofort identifiziert und festgenommen. (…) Die Größe des verhängten Demons­trationsverbotes bewege sich am „unteren Rande dessen, was für die Sicherheit des Gipfels nötig ist“, sagt Innensenator Andy Grote (SPD). 

29. Juni:

„Wie sich die Feuerwehr auf Terrorangriffe vorbereitet“ – die Überschrift lässt erahnen, womit man während des G20-Gipfels in Hamburg rechnen musste. Im Text heißt es:

Eine Lehre von (den Anschlägen in) Paris war, dass für die Versorgung großkalibriger Schusswunden sofort eine passende medizinische Ausrüstung in großer Stückzahl an Ort und Stelle sein muss. In Paris mangelte es an Spezialmanschetten („Tourniquets“). Mit ihnen lassen sich stark blutende Wunden rasch abbinden. Vor dem G20-Gipfel hat die Feuerwehr ihre Einsatzwagen daher mit Tausenden Tourniquets bestückt, ihren Bestand an Bergungstüchern aus- und zusätzliche Fahrzeuge so umgebaut, dass bereits im sogenannten ersten Angriff die benötigte Ausrüstung bereitsteht.

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30. Juni:

„Razzia gegen Linksradikale des Roten Aufbaus“ lautet die Überschrift, im Text geht es wie folgt weiter:

Auf ihren Internetseiten heißt es unter anderem: „Mit uns gibt es Molotowcocktails statt Sekt-Empfang … Wenn G20 nach Hamburg kommt, brennt die ganze Stadt.“

1./2. Juli:

Die Überschrift genau eine Woche vor den Ausschreitungen im Schanzenviertel sagt alles:

„Hamburgs Furcht vor dem Schwarzen Block“ steht im Abendblatt. Und weiter: Als „Erfolg“ wertete Grote, dass es bislang im Vorfeld des Gipfels deutlich ruhiger geblieben ist als erwartet. Allerdings warnte der Innensenator vor der Schlussfolgerung, dass diese Ruhe auch während der Gipfeltage anhalten werde. Insbesondere die Demo „Welcome to Hell“ am Donnerstagabend, 6. Juli, werde heikel: „Das wird die größte Versammlung militanter Protestler, die wir je hatten. So großes Gewaltpotenzial hatten wir noch nicht“, sagte Grote und fügte hinzu: „Die kommen nicht, um Transparente hochzuhalten.“ (…) Und zweitens könnte von einem Camp erhebliche Gefahr ausgehen: „Viele von den 8000 Gewaltbereiten, die wir erwarten, könnten in den Camps Unterschlupf finden“, so Grote. Damit würde es zu einem Rückgrat der militanten Infrastruktur.

3. Juli:

Im Abendblatt steht:

Hamburgs Verfassungsschutz hat vor der Teilnahme an von Linksextremen organisierten oder mitveranstalteten Anti-G20-Demonstrationen gewarnt.

4. Juli:

Die Polizei irrt sich, wenn es um die Zahl der Linksextremen geht. Deren Taktik schätzt sie jedoch richtig ein. Im Abendblatt steht:

Drei Tage vor Beginn des Gipfels in den Messehallen geht die Polizei davon aus, dass deutlich mehr als die zunächst erwarteten 8000 Linksextremen nach Hamburg kommen werden. Nach Informationen des Abendblatts sollen darunter 500 Autonome aus Skandinavien und 500 militante Linke aus Italien sein. Es wird davon ausgegangen, dass gewaltbereite G20-Gegner nicht in Kleingruppen, sondern in Einheiten von 100 bis 300 Personen agieren werden – und Polizisten direkt attackieren wollen.

Die Krawallnacht in Hamburg:

5. Juli:

Allerspätestens jetzt wissen Staat, Polizei und Bürger, was während des G20-Gipfels auf sie zukommen wird. Man fragt sich: Warum hat man die Aussagen des Polizeipräsidenten nicht ernster genommen?

Im Abendblatt steht: Auf vier Tischen liegen im Polizeipräsidium mit brenn­barer Flüssigkeit gefüllte Feuerlöscher, Präzisionszwillen mit Stahlkugeln, Baseballschläger, Schlagstöcke und Polen­böller. Sogar eine Streugutkiste zählt die Polizei zu jenen rund 100 „gefährlichen Gegenständen“, die in den vergangenen Tagen bei Linksextremisten in Hamburg und Rostock sichergestellt wurden. Am Dienstag stellte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer die Asservate im Präsidium vor. „Diese Funde belegen, dass Linksextremisten offenbar während des G20-Gipfels schwerste Straftaten planen. Und das trifft nicht nur Polizei­beamte, sondern auch friedlich demons­trierende Menschen, Unbeteiligte oder Pressevertreter“, sagte Meyer. Diese „Art der Militanz“ lasse ihn „fassungslos“ zurück. Er sei in „ehrlicher Sorge“, es seien „massive Angriffe“ zu erwarten.

Die Kripo hat in den vergangenen Tagen die Spur der Waffen zurückverfolgt. Ein Ergebnis: Die militanten Gipfelgegner arbeiten strukturiert, und sie sind überregional vernetzt. Die zuletzt sichergestellten Gegenstände wurden bei Linksextremisten aus Hamburg, Berlin und Rostock entdeckt – sowohl bei Anhängern der autonomen Szene, deren Hochburg in Hamburg die Rote Flora ist, als auch bei Gefolgsleuten antiimperialistischer Strukturen, deren zentraler Akteur der „Rote Aufbau“ ist. (…) Die Polizei gehe davon aus, dass die bisher gefundenen Waffen nur ein „winziger Bruchteil von dem sind, was sich derzeit noch in Kellern und Garagen in und um Hamburg befindet“, sagte Kriminaldirektor Jan Hieber.

Wie gefährlich sie sind, haben Kriminaltechniker untersucht und in einem Film dokumentiert, der im Internet über die sozialen Netzwerke der Polizei verbreitet wird und prompt heftige Kritik hervorrief. „Polizei schürt mit Gewaltvideo Angst vor G20“, twitterte die Bürgerschaftsfraktion der Linken. Andere Anti-G20-Gruppen sprachen von „Panikmache“ und „Propaganda“. Ganz anders sieht es Hamburgs Polizeichef Meyer: Die Militanz der Gipfelgegner sei nicht theoretisch, sondern „sehr real“.