Hamburg. Mundraub oder nicht: Mehr als 500 mit Früchten beladene Bäume und Sträucher stehen derzeit in Hamburg auf öffentlichem Grund.

Am Ende fallen die Dinger doch noch vom Baum. Es dauert eine Weile, bis Papa unter den ermutigenden Rufen seiner Familie das Obst vom Stamm gerüttelt hat. Dabei müssten die Pflaumen hier, an der Bundesstraße in Eimsbüttel, längst reif sein, also Fallobst. Es ist ja Erntezeit. Doch gemessen daran ist die Ausbeute eher mittel. Ist halt kein Ernteprofi, der Papa. Aber drei Pflaumen sind besser als keine. Finden auch seine schmatzenden Kinder.

Man könnte jetzt die verloren gegangene Kulturtechnik der Obsternte bei Großstädtern beklagen. Viel wichtiger ist den Machern der Initiative Mundraub aber, dass der Pflaumenbaum nahe des Kaiser-Friedrich-Ufers überhaupt ausgemacht wurde. Denn er gehört niemandem, also erntet auch niemand. Hätte der Familienvater also nicht seine Augen aufgemacht, wäre das Steinobst wohl verfault.

„Wir wollen das Verschwinden von Nahrungsressourcen mindern“, sagt Kai Gildhorn, Mitgründer der Initiative Mundraub. Herrenloses Obst gebe es überall, es soll nicht länger verrotten, sondern genutzt werden. Deshalb hob er mit drei Mitstreitern die Internetseite www.mundraub.org aus der Taufe. Dort können frei stehende Obstbäume auf einer Karte gelistet werden.

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Kurz nach der Gründung waren nur 22 Fundorte in Hamburg eingetragen, inzwischen sind es 508 Standorte auf öffentlichem Grund – darunter 92 Apfel-, 31 Kirsch- und 20 Birnbäume sowie 186 Obststräucher und 70 Nusshölzer. Etwa 700 Mundräuber aus Hamburg beteiligen sich bisher an dem Projekt und setzen kleine Brombeer- oder Apfelpiktogramme auf eine virtuelle Landkarte, um frei verfügbare Obst-, Kräuter- oder Beerenbestände zu markieren. Alles unter dem Leitmotiv: Freies Obst für freie Bürger.

„Wir beobachten besonders in Großstädten ein hohes Interesse an öffentlichen Obstschätzen“, sagt Gildhorn. Dort, wo „Urban Gardening“, also der Kleinstgartenbau, große Popularität genießt und handgemachte Produkte den kritischen Verbraucher ruhig schlafen lassen, trifft die Mundraub-Idee den Zeitgeist. Im August erklärte sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka bei einer Pflückaktion der Initiative: „Es geht um Flächen, die vergessen wurden. Wir wollen, dass diese Bäume wieder genutzt werden.“ Es seien kostenlose Ressourcen.

Hamburg mit seinen relativ obstarmen 243.000 Straßenbäumen bietet dabei nicht so viel Potenzial wie Brandenburg, wo im 18. Jahrhundert etliche Obstbaumalleen angelegt wurden, um marschierenden Soldaten Schatten und freie Kost zu bieten. Aber, sagt Jan Dube, Sprecher der Umweltbehörde: „Obstbäume in der Stadt sind eine gute Ergänzung.“ Es gebe allein an Hamburgs Straßen rund 250 Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume, dazu noch einmal 325 Walnussbäume. Die Parks noch gar nicht eingerechnet.

Mundraub – seit 1975 kein Straftatbestand mehr – werde dabei geduldet: „Die Stadt erntet das Obst nicht selbst. Die Früchte sind Allgemeingut, jeder der mag, kann sie pflücken, essen oder zu Marmelade verarbeiten“, sagt Dube. Die Standorte im Internet zu kartieren, sei eine schöne Idee, die dazu beiträgt, die Bäume zu finden. Mundraub-Gründer Kai Gildhorn, ein Berliner, lobt Hamburg für seine Toleranz: „Durch das Transparenzgesetz und das offene Baumkataster der Stadt haben wir 38 zusätzliche Fundorte ausgemacht.“ Er wünsche sich mehr Kooperationen. Mit der Bundesstiftung Umwelt, der Bundesgartenschau 2014 und der Stadt Osnabrück machen die Mundräuber schon gemeinsame Sache.

Mehr als 20.000 deutsche Obststandorte von 30.000 registrierten Nutzern sind mittlerweile auf der Mundraub-Plattform verzeichnet. Die meisten im Ruhrgebiet, Berlin, München und Hamburg. „Das Sammeln von Obst im urbanen Raum ist ein Trend“, sagt Gildhorn. Die „essbare Stadt“, also das gezielte Nutzbarmachen öffentlicher Grünflächen werde vielerorts schon praktiziert. Nördlich und südlich der Elbe bei Hamburg noch nicht, aber dafür beziehen sich etliche Einträge auf schmackhaftes öffentliches Obst: etwa auf „leckere gelbe Kirschen“ auf dem Unicampus vor dem Philosophen-Turm. Das beste freie Obst der Stadt ist laut Mundräubern am Hemmingstedter Weg an der Grenze von Groß Flottbek zu Osdorf zu finden. Die Früchte des dortigen Apfelbaums „Engelsberger Renette“ wurden von 53 Nutzern als köstlich eingestuft.

Es geht nicht nur um Selbstbedienung, sondern auch um 1000 Apfelsorten

Trotz des eher negativ belegten Namens ist das Kernziel der Mundraub-Bewegung nicht die Legitimation der Selbstbedienung. „Die Leute sollen nicht losziehen, alles abrupfen, plündern oder sogar stehlen“, sagt Kai Gildhorn. Vielmehr wollen die Initiatoren zeigen, welch schlummerndes Potenzial das Land hat – die Großstadt eingeschlossen. Die Leute sollen die Augen aufmachen, ihre Umwelt wahrnehmen. Unter anderem gelte es, etwa 1000 Apfelsorten zu bewahren.

Dabei sei den Betreibern bewusst, dass fast jeder Baum einen Besitzer hat. Deshalb werden die Einträge geprüft, nur registrierte Nutzer dürfen Fundorte einstellen. Zudem, so steht es in den Regeln, soll nur mit Einverständnis des Bundes, der Kommune oder einer Privatperson gemundraubt werden, und zwar maßvoll. Die Idee der Mundräuber imponierte sogar dem Deutschen Rat für Nachhaltige Entwicklung. Das Gremium aus Wissenschaftlern und Politikern würdigte die Initiative mit einer Auszeichnung.

Kritik an der Seite, die pro Jahr von zwei Millionen Menschen besucht wird und inzwischen nicht nur Kartenfunktionen bietet, sondern auch Erntecamps und Baumpflege im Programm hat, gibt es immer wieder. „Vor allem Obstbauern werfen uns Anstiftung zum Diebstahl vor“, sagt Gildhorn. Doch nur 0,05 Prozent der Fälle seien tatsächlich in der Mundraub-Karte vermerkt und würden danach gelöscht. Grundsätzlich sei Obst eben toll: „Die Leute stehen drauf.“