Hamburg. Viele kleine Läden und Cafés kämpfen gegen das Aus. Prof. Läpple fordert Aktionsplan gegen “urbanen Kannibalismus“.

Die Erleichterung steht Jan und Berit Petersdorf in die Gesichter geschrieben. Endlich wieder Umsatz. Endlich wieder Normalität. Oder zumindest so etwas in der Art. „Pessimisten hatten ja sogar befürchtet, dass der Lockdown bis nach Pfingsten andauern wird“, sagt Jan Petersdorf, macht eine Pause und setzt dann nach. „Aber das wäre womöglich das Aus gewesen.“ Das Ehepaar Petersdorf führt das Bekleidungsgeschäft Angelo’s am Eppendorfer Weg. Die vergangenen Wochen waren für sie – wie für alle anderen Einzelhändler auch – im Grunde nur das: ein Desaster.

Modegeschäfte wie das Angelo’s sind in besonderem Maße betroffen. Denn die Frühjahrskollektion, die in den vergangenen Wochen nur durch das Schaufenster betrachtet werden konnte, ist mit jedem Tag älter geworden. Vieles kann schon jetzt nicht mehr verkauft werden.

Lockdown hat Hamburger Einzelhändler empfindlich getroffen

Der Lockdown hat die Einzelhändler in einer empfindlichen Phase getroffen. „Das Frühjahrsgeschäft zählt zu den wichtigsten des Jahres“, sagt Berit Petersdorf. „Das kann man nicht einfach überspringen und weitermachen, als wäre nichts gewesen.“ Die beiden befürchten, dass die sichtbaren Folgen der wochenlangen Schließungen noch kommen werden. „Das Viertel wird in einem halben Jahr wohl anders aussehen, als wir es kennen.“

Das Viertel, das ist in ihrem Fall Hoheluft-West und damit ein Stadtteil, der durch seine Struktur – viele kleine, inhabergeführte Geschäfte, hohe Restaurant- und Cafédichte und viel Charme – ein klassisches Hamburger Quartier ist. Genau wie die Sternschanze, Ottensen oder Eimsbüttels Osterstraße.

Gefahr für die Kieze ist groß

Hamburgs Quartiere haben gemeinsam, dass sie ein bisschen funktionieren wie ein Dorf – nur in hipper. Jeder kennt jeden, die Läden sind inhabergeführt und nicht aktiennotiert; Wohnen, Leben und Arbeiten gehen lässig urban ineinander über. Aber „Dorf“ heißt eben auch: Das ganz große Geld wird hier nicht gemacht. Jedenfalls nicht auf dem Niveau, dass die Rücklagen mal eben für ein paar Wochen oder Monate reichen können.

Dieter Läpple  ist Professor an der Hafen City Universität.
Dieter Läpple ist Professor an der Hafen City Universität. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Die Frage ist nun: Kam das Ende des Shutdowns gerade noch rechtzeitig oder zu spät? Klar ist: Die Gefahr für die Kieze ist groß. Und es steht mehr auf dem Spiel. Denn die Quartiere erfüllen innerhalb der Stadt wichtige Funktionen, wie Städteforscher Dieter Läpple von der HafenCity Universität Hamburg (HCU) erklärt: „Stadtteil- und Quartiersbetriebe prägen die Versorgungsqualität, Nutzungsvielfalt und urbane Kultur von Stadtteilen. Gleichzeitig bieten sie wohnungsnahe Arbeits-, Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten und erfüllen damit wichtige Aufgaben der sozialen Integration und stärken die gesellschaftliche Teilhabe“.

Rahmenbedingungen sind nicht ideal für eine große Aufholjagd

Vor allem die gewachsenen Strukturen der Gründerzeitviertel stünden nun auf dem Spiel, in denen traditionell das Erdgeschoss für Gewerbe genutzt wurde. „Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, dass uns diese Formen der Nahversorgung und der Nutzungsmischung nicht verloren gehen.“

Aber wie soll das gehen? Die Rahmenbedingungen sind nicht gerade ideal für eine große Aufholjagd. Wirtschaftliche Unsicherheit trübt die Shoppinglust, die Hygieneregelungen lassen nicht beliebig viele Kunden in den Geschäften zu, und nahezu alle Anlässe, für die man sonst Kleidung oder Geschenke einkaufen würde, fallen aus.

Gemeinsam neue Strukturen aufbauen

Viele Einzelhändler haben sich in den vergangenen Wochen innerhalb ihrer Stadtteile und darüber hinaus vernetzt, um gemeinsam neue Strukturen aufzubauen. Haben innerhalb kürzester Zeit für Online-Präsenz gesorgt und mit vereinter Stimme appelliert: „Support you local Business.“ Sie haben durch geöffnete Fenster verkauft, haben Waren zum Anprobieren und Anschauen per Auto oder Fahrrad durch die halbe Stadt zum Kunden gebracht, haben Lunch­pakete zum Abholen angeboten und vakuumverpackte Abendessen zum Aufwärmen – während sich die Rechnungen im Hintergrund stapelten. Der Lieferant, der Vermieter, der Stromanbieter. Der Druck wächst. Noch immer. An jedem Tag.

Auch Arlette Andrae, Quartiersmanagerin der Osterstraße in Eimsbüttel, sagt: „Das wird für viele noch ein harter Kampf.“ Zwar ist sie begeistert von der Solidarität, die nun viele mit dem lokalen Einzelhandel zeigen, aber auch sie hat Zweifel, ob es tatsächlich alle schaffen. „Der kleine Einzelhandel ist besonders betroffen“, sagt sie. „Und das ist bitter, weil eben dieser Einzelhandel ja den Stadtteil ausmacht.“

Enge Bindung zu den Kunden

Optimistisch stimmt sie der Eindruck, dass zum Wochen- und Verkaufsstart viel los war an der Osterstraße. „Nach all den Wochen der Schließungen freuen sich nun viele, wieder bummeln zu können“, sagt sie. Aber sie weiß auch, dass viele Menschen auf der Straße, nicht zwangsläufig auch Umsatz bedeuten: „Aus Österreich etwa wissen wir, dass die Einzelhändler nach der Öffnung längst nicht an die Umsätze von vor dem Lockdown herangekommen sind.“

Nur wenige Kilometer weiter hat in der Sternschanze in dieser Woche auch Jimmy Blum sein Geschäft „Jimmy Hamburg“ wieder eröffnet. Blum verkauft „lauter schöne Dinge“, wie er sagt. Schuhe, Einrichtung, Accessoires und Wein. Auch er hat harte Wochen hinter sich, sieht aber die positiven Seiten: „Ich habe eine enge Bindung zu meinen Kunden aufgebaut, die mich wirklich stolz und glücklich macht“, sagt er. Seine Waren hat er selbst durch die Stadt transportiert und in Hausfluren, Treppenhäusern oder an geöffneten Küchenfenstern mit den Kunden noch einen Plausch gehalten – auf Abstand natürlich.

Viele Geschäfte sind auch auf Touristen angewiesen

Aber klar ist auch: Auf Dauer hätte das nicht gereicht. Blum sagt: „Auch nach dem Ende des Lockdowns werden die nächsten Wochen für viele hart.“ Besonders hier in der Sternschanze. Denn hier seien viele nun doppelt gestraft. „Viele haben sich gerade erst von G 20 erholt, mussten Schäden beseitigen und die Umsatzeinbußen wieder reinbekommen. Das war für viele zu wenig Zeit, um Rücklagen zu bilden.“ Auch Blum hat der Lockdown mit „voller Breitseite“ getroffen. Wie viele andere auch, hatte er kurz vor der Zwangsschließung noch eine große Lieferung erhalten, die er quasi nicht mehr verkaufen konnte – aber natürlich bezahlt hat.

Wie er auf die kommenden Wochen blickt? „Verhalten optimistisch.“ Mit Infektionsmittel und Masken sei er zwar ausgestattet, um den Betrieb coronagerecht aufrechtzuerhalten. Aber: „Für die Sternschanze sind als Kaufkraft auch Touristen von großer Bedeutung. Und die fallen ja nun leider weg.“ Was also wird aus Sternschanze, Ottensen und Co.? Bleiben nur ein paar Kratzer oder doch viel mehr?

Kreditmöglichkeiten gefordert

Berit Petersdorf von Angelo’s in Hoheluft-West glaubt, dass das an vielen Faktoren hängen wird. Einer davon ist der Kunde, der mit seinem Kaufverhalten mitentscheidet. Ebenso wichtig: Auch für den Einzelhandel müsse es endlich Kreditmöglichkeiten geben. Und: „Vieles wird auch davon abhängen, ob die Vermieter ihren Mietern entgegenkommen. Das ist längst nicht bei allen der Fall“, so Petersdorf.

Diesen Punkt erachtet auch Städteforscher Läpple für wichtig. „Der Einzelhandel hat unabhängig vom Shutdown mit zwei zentralen Problemen zu kämpfen. Eins ist der Onlinehandel, und das andere sind die hohen Mieten.“ Diese Problematik dürfe nicht allein dem Markt überlassen werden, da sie früher oder später zu einer Verödung der Quartiere führen würde. Dieser Form des „urbanen Kannibalismus“, durch die die Vielfalt aufgefressen wird, müsse eine Grenze gesetzt werden. Läpple verweist etwa auf Paris. Dort hätte die Stadtregierung einen Aktionsplan gegen die zunehmende Verödung von Quartieren beschlossen. Eine solche Strategie brauche zwar Zeit. Aber: „Jetzt wäre der Zeitpunkt, aktiv zu werden und einen Zukunftsplan zu entwickeln.“

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden