Hamburg. An der Irena-Sendler-Stadtteilschule spielt Leistung eine wichtige Rolle: Im Schnitt machen 45 Prozent der Schüler Abitur.

Am Ende wird Deutschlehrer Jens-Frederik Eckholdt nur etwa die Hälfte des Pensums geschafft haben, das er sich für anderthalb Stunden vorgenommen hatte – und trotzdem mit einem guten Gefühl aus der Klasse gehen. Warum auch hätte er stoppen sollen, was im besten Fall im Schulunterricht geschieht: dass Schüler nicht nur zuhören, sondern die Sitzung mitgestalten und vorantreiben.

Dabei hatte der Tag für die Zwölftklässler von der Irena-Sendler-Stadtteilschule in Wellingsbüttel nicht gerade aufmunternd begonnen. Ihre Schule wird derzeit saniert, deshalb muss ein Teil der Oberstufe zweieinhalb Kilometer weiter in einer Grundschule in Sasel lernen. Dort beginnt Eckholdts Unterricht an diesem verregneten Freitagmorgen um acht Uhr. Die meisten Schüler sind pünktlich, aber noch 15 Minuten später trifft ein Nachzügler ein, der mit den Worten „Ich hab den Raum nicht gefunden“ auf seinen Platz huscht. Eckholdt runzelt die Stirn.

Am Fenster steht eine Kaffeemaschine; daneben lädt ein hellbraunes Sofa zum Hinfläzen ein. Doch die Schüler sollen sich jetzt mit „Finsterworld“ beschäftigen. So heißt ein deutscher Spielfilm aus dem Jahr 2013, dessen Handlung zwischen Tragik und absurder Komik pendelt und Themen wie Einsamkeit, Ausgrenzung und alltäglichen Faschismus behandelt, wie es in einer Kritik hieß. Es gibt leichtere Stoffe für die erste Schulstunde.

Die Schüler kennen den Film, nun sollen sie Handlung und Charaktere analysieren. „Jetzt bitte das Gemurmel einstellen“, ruft Eckholdt. „Los geht’s!“

Vier, fünf Finger recken sich gleichzeitig in die Höhe. Lehrer Eckholdt lobt die Beiträge („supergut aufgepasst“), hakt nach („Wer findet Argumente, die das unterstützen?“), notiert Beschreibungen und Thesen auf der Tafel und versucht humorvoll, eine kleine Gruppe schweigender Schüler links von ihm zu motivieren: „Ich krieg langsam einen steifen Hals in die eine Richtung – andere Leute dürfen sich auch mal melden.“

Damit es nicht zu Längen kommt, fordert der Lehrer die Schüler auf, sich gegenseitig dranzunehmen. So fließt das Gespräch durch die Klasse, auf Rede folgt Gegenrede, nach und nach fördert die Klasse immer mehr Details zutage, die sich zu einem Bild fügen.

Auch von den Stadtteilschulen in Hamburg entstehe gerade ein Bild, sagt Matthias Greite, Direktor der Irena-Sendler-Schule. „Die Stadtteilschule gilt als Problemschule, während das Gymnasium in der Elternschaft als die gute Schulform angesehen wird“, ist sein Eindruck.

Seine Schule will aber nur bedingt in dieses Bild passen. Die Anmeldezahlen sind seit Jahren relativ stabil. Zuletzt gab es zwar einen leichten Rückgang, aber das dürfte hauptsächlich mit der Sanierung zu tun haben, vermutet Greite. Im Schnitt rund 45 Prozent der Irena-Sendler-Schüler machen Abitur. Schulsenator Ties Rabe (SPD) hatte vor Kurzem von den Stadtteilschulen ein eindeutiges Bekenntnis zum Leistungsprinzip gefordert. „Wir sind schon längst leistungsorientiert“, sagt Matthias Greite.

Der Unterricht von Jens-Frederik Eckholdt kann das belegen. Der Deutschlehrer ist sehr gut mit seinem Stoff vertraut – aber seine Schüler sind es an diesem Morgen auch. Erst fünf Minuten vor dem Ende der 90-Minuten-Einheit droht die Konzentration einzubrechen. Schnell notiert Eckholdt das Fazit an der Tafel. „Es waren ja eigentlich noch Präsentationen geplant“, ruft er in die Klasse, „aber ich fand die Diskussionen sehr ergiebig und wollte dem auch Raum geben.“

Wir sprechen mit seinen Schülern. Fast alle haben mitbekommen, dass über die Stadtteilschulen gerade viel diskutiert wird, dass es dort an leistungsstarken Schülern mangeln soll – und dass die Stadtteilschulen deshalb ein Imagepro­blem haben.

Zu stören scheint die Schüler das nicht. „Ich bin mit dem Unterricht hier insgesamt zufrieden“, sagt Niklas (18). „Man lernt hier genau das Gleiche wie auf einem Gymnasium, nur dauert es halt ein Jahr länger“, sagt Antonia (17). „Wichtiger als die Schulform ist doch, dass die Lehrer gut sind und Lust haben, ihren Unterricht vorzubereiten“, sagt Marleen (18). „Man kann auch auf einem renommierten Gymnasium sein und trotzdem wenig Spaß am Lernen haben“, sagt Sascha (21).

Die Irena-Sendler-Stadtteilschule mag leistungsorientiert sein – dennoch hat auch sie wie andere Stadtteilschulen stärker mit bestimmten Herausforderungen zu kämpfen als Gymnasien. „Ab der elften Klasse kann ich vor allem fachlich arbeiten, weil das Leistungsniveau recht homogen ist“, sagt Lehrer Eckholdt nach seinem Unterricht mit den Zwölftklässlern. „In der Mittelstufe dagegen haben unsere Schüler sehr unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, nicht alle kommen aus stabilen Elternhäusern. Deshalb muss ich dort viel stärker pädagogisch arbeiten.“

Sein Kollege Ulrich Meyer, Lehrer für Mathematik und Gesellschaft, wird deutlicher: „Es gibt einige Schüler, die große Schwierigkeiten mit Regeln und Autorität haben. Es sind nur wenige, aber sie bringen uns manchmal an unsere Grenzen.“

Matthias Greite drückt es so aus: „Als Lehrer an einer Stadtteilschule ist man von der fünften bis zur zehnten Klasse teilweise mehr Sozialpädagoge als Fachlehrer. Ich brauche einen engen menschlichen Zugang zu den Schülern.“

Wichtig ist dem Direktor aber: „Der Umstand, dass wir heterogenere Schülergruppen haben als am Gymnasium, ist nicht nur mit Herausforderungen verbunden – vielmehr steckt darin auch eine große Chance: Die Schülerschaft ist ein Abbild der Gesellschaft“, sagt Greite. Das bedeute: „An einer Stadtteilschule können Schüler mehr soziale Kompetenzen erwerben als an einem Gymnasium.“

Den Herausforderungen begegnen Greite und seine Kollegen mit mehreren Maßnahmen. So sind in der Mittelstufe im Projektorientierten Unterricht, der sechs Stunden pro Woche umfasst, zwei Lehrer pro Klasse im Einsatz. Dabei geht es darum, ein Thema – etwa das Mittelalter – aus verschiedenen fachlichen Perspektiven zu beleuchten (Politik, Wirtschaft, Ernährung, etc.).

Innerhalb eines Faches bieten die Lehrer mindestens zwei Lernniveaus an. So gibt es Checklisten, vergleichbar mit dem Wochenplan in der Grundschule. Einige Punkte auf den Listen müssen alle Schüler pflichtmäßig abarbeiten. Darüber hinaus können sie aber entscheiden, ob sie zusätzliche Aufgaben angehen möchten. „Die Schüler wählen meist automatisch das Niveau aus, das zu ihnen passt“, sagt Greite. Wer sich zu viel zumute oder sich zu wenig zutraue, werde von den Lehrern ermuntert, die Sache neu anzugehen.

Starke Schüler sollen schwächeren helfen

In manchen Klassen liegen die stärksten und schwächsten Schüler extrem weit auseinander. „Ich habe in einer achten Klasse die Schulsiegerin eines Wettbewerbs in Mathe, aber auch Kinder, bei denen ich mir Sorgen mache, ob sie den Hauptschulabschluss schaffen“, erzählt Ulrich Meyer. Enorm wichtig sei, auch den schwächeren Schülern Wertschätzung entgegenzubringen. „Wir müssen oft ganz viel Motivationsarbeit leisten.“

Es gibt Frontalunterricht, aber auch Gruppenarbeit. Während der Gruppenarbeit sollen die starken Schüler ihren schwächeren Mitschülern helfen. Wirkt das nicht leistungsmindernd auf die Besseren? Im Gegenteil, sagt Meyer: „Die starken Schüler haben den größten Lernzuwachs.“ Erklären lasse sich das unter anderem damit, dass die starken Schüler die Lerninhalte besser verinnerlichten, wenn sie den Stoff anderen Kindern vermitteln müssten.

Aber nicht nur die starken Schüler profitierten von dem Lernen mit verschiedenen Leistungsniveaus, sagt Direktor Matthias Greite. Er erzählt von den aktuellen Entlassungsfeiern für die Zehntklässler. „Von diesen 176 Schülern hatten zwölf eine Gymnasialempfehlung, als sie zu uns kamen. Nun gebe ich fast der Hälfte von allen ein Zeugnis, das sie befähigt, in die 11. Klasse zu gehen.“ Diese Chance nutze ein Großteil.

Zwar stünden die wenigsten am Ende mit der Abschlussnote 1,1 da. Aber: „Hätten wir dieses System nicht“, sagt Greite, „würden diese Schüler auf anderen Wegen, die länger dauern, Richtung Abitur gehen. Oder eben gar nicht.“