Hamburg. Hamburg lag in Trümmern, als die verwegene Idee aufkam, ein Rundfunkorchester zu gründen. Erstes Konzert im November 1945.
Es war einer dieser Momente, in denen Geschichte entsteht. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf einem Bauernhof in den Elbmarschen, in Holm. Hamburg war ein Trümmerhaufen. Katastrophe, Nullpunkt, Nichts. Der spätere Bürgermeister Herbert Weichmann sollte 1948 in seinen „Briefen aus Hamburg“ fassungslos berichten: „Die Zerstörung ist so grenzenlos, so meilenlang, ohne Unterbrechung, dass ich mich die ganze Zeit fragen musste, wo überhaupt die Menschen wohnen.“
Die Idee, ausgerechnet in dieser Situation ein Rundfunkorchester gründen zu wollen, um der Kultur auf die hauchdünnen Beinchen zu helfen, hatte etwas Verwegenes. Und dann – und dennoch – sagte ein Dirigent zwei britischen Offizieren: „Falls Sie an ein Radioorchester nach dem Muster der BBC, der NBC in New York oder des Orchestre National in Paris denken, stehe ich Ihnen sehr gern zur Verfügung.“ Sein Name: Schmidt-Isserstedt. Hans Schmidt-Isserstedt. Und er erhielt tatsächlich seine Lizenz zum Tönen, von Jack Bornhoff, dem Leiter der Abteilung Wort und Musik des NWDR.
Der Rest wurde, wie es so schön heißt: Geschichte. Eine Geschichte, wie sie in dieser dramatischen Form kein anderes deutsches Orchester zu bieten hat. Von Anfang an dachte Schmidt-Isserstedt groß: Seine Streicher stellte er sich „als Kreuzung aus Berliner und Wiener Philharmonikern vor, die Bläser als glückliche Hochzüchtung aus Concertgebouw- und Philadelphia-Orchester (um auf der Erde zu bleiben)“. Seine Ansprüche waren so hoch, dass sein „Wunschtraumorchester“ zwei Jahre nach seiner Gründung noch immer nicht komplett war.
Vor 75 Jahren waren Kultur, Kunst, Musik vor allem verstummt
Pausentaste. Heute ist Musik – auch klassische Musik – überall verfügbar. Ein Knopfdruck, ein Klick, ein Wischen nur, schon ist sie da. Bis vor wenigen Monaten war die Konzertlandschaft in diesem Land weltweit einzigartig. Vor 75 Jahren jedoch, als es an allem fehlte, waren Kultur, Kunst, Musik vor allem verstummt. Ausgelöscht. Nur noch eine Erinnerung an bessere Zeiten. Die Vorstellung, schon bald wieder in einem Raum mit dem lebendigen Klang eines Orchesters zu sein? Unvorstellbar.
Wer war dieser Schmidt-Isserstedt? 1900 in Berlin geboren, Kompositionsschüler von Franz Schreker, von 1935 bis 1943 als Erster Kapellmeister an der Hamburger Oper und danach Generalmusikdirektor an der Deutschen Oper Berlin, politisch über jeden Zweifel erhaben gewesen. Als er grünes Licht bekam, fahndete er in Gefangenenlagern nach Musikern, die überlebt hatten und dort „stumpf vor sich hin brüteten“; er fand unter anderem Mitglieder der Berliner Philharmoniker. Eines war klar: Wer während der vorangegangenen 1000 Jahre Parteigenosse gewesen war, musste draußen bleiben.
Die Probespiele wurden in Kneipen, Kinos oder auf Bauernhöfen abgehalten. Über einen Kontrabassisten, der eine Passage aus Verdis „Otello“ vorspielte, berichtete Schmidt-Isserstedt: „Wie dieser Mann auf seinem eigenartigen Instrument bei den gefühlvollen Glissandi über die oft geflickten und geknoteten Darm- und Drahtsaiten rutschte und holperte, da nickten wir uns ergriffen zu und sagten: Den Mann müssen wir haben.“ Mit dem Mut der Verzweiflung spielten sich diese Musiker zurück in ihr Leben, in die Musik. In der „Hamburger Allgemeinen Zeitung“ schrieb Schmidt-Isserstedt zur Jahreswende 1946/47: „Nicht nur Beethovens, sondern die ganze, wirklich große Musik hat die Macht, den Menschen ihre Elendslast zu erleichtern.“
Gespielt wurde, wie passend, Beethovens „Egmont“-Ouvertüre
Den Auftrag einer Orchestergeburt aus dem Nichts hatte Schmidt-Isserstedt am 13. Juni 1945 erhalten. Bereits am 3. Juli wurde das erste Konzert gesendet, unter dem damaligen Namen NWDR-Orchester. Gespielt wurde, wie passend, Beethovens „Egmont“-Ouvertüre; Musik über das Schicksal eines Mannes, der sich gegen das Schicksal stellt. Wenige Tage später wurde Mahlers 1. Sinfonie aufgenommen. Ein Stück, das einige noch gar nicht kannten, weil der frühere Hamburger Opern-Kapellmeister von den Nazis aus dem Musikleben verbannt worden war.
Nun waren es die Briten, die Vorgaben machten, aber gänzlich andere: Wagner und Bruckner, die liebsten Lieblinge des Führers, waren off limits. Stattdessen kamen Neutöner wie Berlioz und Bartók, Schostakowitsch und Strawinsky in die Programme. Für die erste Saison waren zwölf Konzerte geplant, in einem Artikel über den Start stand: „Möge das neue Orchester zur weiteren Hebung des künstlerischen Ansehens unserer Vaterstadt wirken.“ In der Chronik zum zehnten Geburtstag hieß es so süffisant wie froh: „Nach der fünften Spielzeit stellen die Vertreter der Kulturpflege fest, dass das Orchester ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des Musiklebens geworden ist.“
In seinen Jugenderinnerungen schrieb der legendäre Kritiker Werner Burkhardt über jene ersten Jahre, dass Schmidt-Isserstedt ihm mit seinen Konzerten in der Musikhalle „die Ohren für eine völlig unverschmockte Welt der Klassik“ geöffnet habe. Schmidt-Isserstedt war ein eleganter Techniker, kein Schaumschläger, kein Dompteur mit Ego-Problemen. Sein Motto als Tutti-Wegweiser lautete, ganz einfach und doch so schwer: „Ein Dirigent, der schwitzt, ist kein Dirigent.“
Der erste Auswärts-Solist war der große Humanist und Musiker Yehudi Menuhi
Der erste Auswärts-Solist war der große Humanist und Musiker Yehudi Menuhin, für eine Studio-Aufnahme des Violinkonzerts von Felix Mendelssohn Bartholdy, einem weiteren berühmten Sohn der Hansestadt, noch einer jener Komponisten, deren Musik die Nazis verboten hatten. Auf der Rückreise aus Bergen-Belsen kam Menuhin am 29. Juli 1945 nach Hamburg, ins Studio 1 an der Rothenbaumchaussee.
Beim ersten öffentlichen Konzert im „Broadcasting House Musikhalle“, am 1. November 1945, 18 Uhr, trug das „Sinfonie-Orchester des Nordwestdeutschen Rundfunks“ geliehene Fräcke oder Anzüge, die aus alten Uniformen geschneidert waren. Egal, so was von egal. Auf den Notenpulten lagen erneut der „Egmont“, Tschaikowskys Fünfte und das Doppelkonzert des Hamburger Ehrenbürgers Johannes Brahms. Am 30. Oktober hatte es einen Probelauf gegeben, nur vor Studenten, am 31. Oktober waren ausschließlich Engländer das Publikum.
Zum 25. Geburtstag des NDR-Sinfonieorchesters setzte Schmidt-Isserstedt diese drei Stücke wieder aufs Programm. Zum 50. hatte Günter Wand Beethovens Neunte dirigiert. Für das Jubiläumskonzert zum 75. plant der aktuelle Chefdirigent Alan Gilbert für das Konzert am 30. Oktober mit dem Dreiklang Beethoven / Tschaikowsky / Brahms, Corona erzwang allerdings den Umzug von der Laeiszhalle in die Elbphilharmonie.
Doch jetzt wieder zurück in die Nachkriegszeit. Mehr und mehr ging es hinauf, ins Freie. 1946 kam es für manche Orchestermitglieder zu einem Wiedersehen mit dem großen Dirigenten Wilhelm Furtwängler. 1948 bremste die Währungsreform kurz und überraschend die Idee einer ersten Deutschland-Tournee, die kam dann eben ein Jahr später. Die erste Auslandsreise ging nach Paris, für zwei Konzerte im Théâtre des Champs-Élysées. Und natürlich war allen in den ersten Lebensjahren der Bundesrepublik klar, dass so ein Orchester mehr war als ein Orchester, sondern ein Politikum.
1956 wurde der Name des Klangkörpers in „NDR-Sinfonieorchester“ geändert
Ein Beispiel: 1953 in der Londoner Royal Festival Hall, Beethovens Neunte sollte gespielt werden, begann das Konzert mit den Nationalhymnen, also auch der deutschen, und man stand auf im Publikum. Mit gemischten Gefühlen. „Schmisserstedt“, berühmt bis berüchtigt für seinen schnittig treffsicheren Humor, raunte seinen Musikern zu: „Dass ihr mir ja nicht die erste Strophe spielt …!“ Ein weiterer seiner Oneliner-Klassiker, nach Probenende und vor Feierabend: „Kinder, damit könnten wir fast öffentlich auftreten!“
1956, wegen der Teilung des NWDR in NDR und WDR, wurde der Name des Klangkörpers in „NDR-Sinfonieorchester“ geändert, für Reisen ins Ausland kam die Ortsmarke „Hamburg“ ans Ende. Ein Kommentar des „Alten“: „Wenn wir nicht die Besten sind, brauchen wir gar nicht erst loszufahren.“ Eine historisch große Ehre war 1961 die Einladung, als erster West-Klangkörper in die Sowjetunion zu reisen. 1963 ging es nach Westen, in die USA. Zwei wichtige Etappen auf der Langstrecke zu internationalem Renommee. Die „New York Times“ schrieb damals bewundernd: „Herr Schmidt-Isserstedt ist ein Dirigent der alten Schule, mit Kultur und Musikalität. Ein ruhiger Dirigent, der mehr aus der Schulter heraus dirigiert als aus der Hüfte. Eine Aura von Autorität umgibt ihn.“
Hörenswertes, Lesenswertes, Sehenswertes
- In der Reihe „Hamburger Köpfe“ erschien 2009 Hubert Rübsaats Biografie über den Orchester-Gründer „Hans Schmidt-Isserstedt“ (Ellert & Richter, 168 S., 19,95 Euro). Einen Eindruck seiner Klasse vermittelt die Aufnahme der zwei Brahms-Klavierkonzerte mit Claudio Arrau als Solist (NDR Klassik, ca. 20 Euro). Eine Repertoire-Rarität: Das Busoni-Klavierkonzertmit Männerchor im Finale, der Solist ist Gunnar Johanssen (Music & Arts, ca. 10 Euro).
- Aufschlussreich erzählend ist Wolfgang Seiferts Biografie „Günter Wand: So und nicht anders“, die 2007 überarbeitet wurde (Schott, 562 S., 19,50 Euro). Klassiker sind unter sich bei „Brahms: Sinfonie Nr. 1–4“ (RCA, 2 CDs, ca. 30 Euro). Ähnlich zeitlos: Wands Aufnahme von Bruckners 5. (RCA, ca. 26 Euro). Extrafein: John Eliot Gardiner dirigiert „Die sieben Todsünden“ und mehr von Weill, mit der großartigen Anne Sofie von Otter („Speak Low“, DG, ca. 12 Euro).
- Als Zeitdokument bietet sich „Elbphilharmonie Hamburg – Das Eröffnungskonzert“ an, der Mitschnitt des von Thomas Hengelbrock dirigierten Programms und die Doku „Hamburgs neues Wahrzeichen“ (Unitel, 2 DVDs, ca. 22 Euro).
Im Orchester-Lebenslauf jener Jahre waren drei Daten besonders: Am 12. März 1954 fand in Hamburg die konzertante Uraufführung von Schönbergs Oper „Moses und Aron“ statt, dirigiert von Hans Rosbaud. Am 15. Mai 1959 begleitete man ein Konzert von Maria Callas in der damaligen Musikhalle, damals noch am Karl-Muck-Platz. Und am 9. Dezember 1968 war es ebenfalls das NDR-Orchester, das in Planten un Blomen die Uraufführung von Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ spielen sollte, das dem Revolutionär Che Guevara gewidmet war. Die Stimmung war in diesen Tagen der Studentenunruhen aber derart aufgeheizt, dass es zu Tumulten kam. Konzertabbruch, die Premiere wurde vertagt, der NDR sendete nur den Mitschnitt der Generalprobe.
Eine Zahl macht deutlich, wie wichtig und prägend Schmidt-Isserstedt als Chefdirigent gewesen war: 26 Jahre. Länger als ein Vierteljahrhundert ausschließlich Schmidt-Isserstedt. In den vergangenen 25 Jahren waren es nicht weniger als fünf Dirigenten (und übrigens nicht eine einzige Dirigentin), die kamen und gingen. Erst und einzig der Tod konnte Schmidt-Isserstedt und sein Orchester voneinander trennen. Seinen Posten als Chefdirigent verließ er am 31. Juli 1971, als Ehrendirigent auf Lebenszeit blieb er dem Orchester verbunden. Eine Ära endete damit, eine Legende war Schmidt-Isserstedt längst. Er starb am 28. Mai 1973 in Holm bei Wedel, eine Woche nachdem er bei den Hamburger Brahms-Wochen Brahms’ Vierte und das 1. Klavierkonzert dirigiert hatte.
Mehrere Stabwechsel folgten, jeder für sich war der Beginn einer interessanten Phase
Nach Isserstedt ging es einige Jahre lang eher drunter und drüber. Mehrere Stabwechsel folgten, jeder für sich war der Beginn einer interessanten Phase. Doch ein Ära-Beginner war nicht dabei. Zunächst, 1971, kam Moshe Atzmon. Er blieb nur vier Jahre, in etwa das Mindestmaß einer Vertragslaufzeit. Seinen erfüllte er in Hamburg nicht; einen Beethoven-Zyklus in der Musikhalle beendete er noch, dann war es das auch. Drei Jahre ohne einen festen Chefdirigenten folgten, bis Klaus Tennstedt kam. Ein faszinierender, aber im Umgang nicht ganz einfacher Charakter soll er gewesen sein. Tennstedt blieb zwei Jahre.
Für die zweite große Blütezeit sorgte ein älterer Herr aus dem Rheinland. Günter Wand. Kleine amüsante Info am Rande: Wand war 70, als er seinen Posten beim NDR antrat, also nur ein Jahr jünger als Schmidt-Isserstedt bei seinem Abschied. Und Wand war ein – allerdings sensationeller – Spätblüher. Nach gut drei Jahrzehnten in Köln hatte man ihn dort als Gürzenich-Kapellmeister nicht mehr haben mögen. Nach einigen Zwischenspieljahren in Bern und Gastdirigaten hier, da und dort kam Wand nach Hamburg, zum NDR. In einem „Abendblatt“-Interview hatte er damals erklärt, warum: „Vielleicht war es der Wunsch, mich noch einmal so zu Hause fühlen zu können, wie ich das in Köln erlebt habe. Aber das ist ein sehr vermessener Gedanke. Ich vermag fast nicht zu glauben, dass man so etwas zweimal in seinem Leben erfahren könnte.“ Doch es kam so.
Nach fünf Dienstjahren, als besonderes Geschenk zu seinem 75., wurde Wand vom Orchester zum zweiten Ehrendirigenten auf Lebenszeit ernannt. Der Beleg einer zweiten großen Liebe, die das Orchester mit einem Dirigenten verband, der zwar immer gut für die Belegschaft war, aber dabei längst nicht immer nett mit ihr umging. Wands unbequeme, nervensägende Detail-Pingeligkeit war gefürchtet. „Nicht ich brauche diese Proben, wir brauchen sie gemeinsam – und die Musik brauchte noch mehr Proben“, sagte er einmal.
Jahre mit Auf- und Abwärts- und sogar Absetzbewegungen an der Spitze
Auch schön ist diese Ansage, aus einer Probe von Bruckners Fünfter: „Ich will ja nur das, was ich vor zwölf Jahren gesagt habe.“ Doch das Ergebnis veredelte nun mal die Methoden – immer großartiger, je länger diese Verbindung hielt. Anders als so mancher anderer Künstler war Wand nicht nur in Hamburg weltberühmt, sondern auch im Rest der Welt. Besonders bei Gastspielen in Japan wurde der alte Herr wie ein Popstar gefeiert. Als jüngerer Dirigent war Wand für abenteuerliche Repertoire-Vielseitigkeit bekannt, doch in fortgeschrittenem Alter konzentrierte er sich mehr und mehr auf einige wenige, für ihn ganz Große: Brahms, Bruckner, Schubert, Beethoven. Seine Interpretationen waren Tiefenbohrungen, Suchen nach dem Kern, dem Wesentlichen. Nach Wands Tod 2002 musste sich das Orchester ein weiteres Mal neu erfinden.
Und wieder folgten Jahre mit Auf- und Abwärts- und sogar Absetzbewegungen an der Spitze. Sir John Eliot Gardiner wurde mit dem Orchester nicht warm, er blieb nur kurz und wurde stattdessen zum Meister der historisch informierten Aufführungspraxis. Herbert Blomstedt hielt es noch weniger lang aus und nutzte nach nur zwei Jahren die Gelegenheit, als Nachfolger von Kurt Masur zum Gewandhausorchester nach Leipzig zu wechseln. Doch während Gardiner nie den Weg zurück nach Hamburg fand, ist Blomstedt – inzwischen überaus rüstige 93 Jahre jung – zu einem Lieblingsgast des Orchesters gereift. Ähnlich erging es Christoph Eschenbach, der als Ex-Chef regelmäßig zurückkehrte. Der nächste Christoph hieß mit Nachnamen von Dohnányi. Ein Orchesterleiter, der sich nie gern gegen seinen Willen vorschreiben ließ, was wie zu sein habe. Und auch bei ihm endete seine Amtszeit vorzeitig mit einem Beethoven-Zyklus, für den er nicht die Arbeitsbedingungen und Besetzungen erhielt, die ihm vorschwebten. Er war es, der viele Weichen bei der Planung des Großen Saals in der Elbphilharmonie stellte. Und auch er wird inzwischen vom Orchester respektvoll verehrt.
Diese Harmonie hoch über der Elbe hielt nicht allzu lang
Auftritt Thomas Hengelbrock. Er war jünger, vielseitig interessiert, ehrgeizig, kam aus der Welt der selbst verwalteten freien Ensembles und der Alten Musik; er sollte es sein, der das Rundfunkorchester elbphilharmoniefein polieren sollte. Denn durch clevere Schachzüge während der Bauphase hatte sich der NDR den Status des dortigen Residenzorchesters gesichert, für zehn Jahre, mindestens, beginnend mit der Eröffnung. Und damit niemand am Ausmaß dieser Ansage zweifeln sollte, folgte 2016 die nächste Umbenennung, in „NDR Elbphilharmonie Orchester“.
Happy End also, als das Konzerthaus im Januar 2017 eröffnet wurde, mit Hengelbrock am Pult? Bedingt. Denn diese Harmonie hoch über der Elbe hielt nicht allzu lang. Orchester, Vorgesetzte und Chef hatten sich auseinandergelebt, und das ziemlich presto. Der Erfolgsdruck hatte noch nicht jene Weltklasse hervorgebracht, die man sich von ihm erhofft und immer wieder versprochen hatte. Hengelbrock warf entnervt und vorzeitig hin. Der nächste „Neue“ war ein alter Bekannter des Orchesters: der Amerikaner Alan Gilbert, von 2004 bis 2015 als Erster Gastdirigent die Nummer zwei in der Hierarchie und später Chef des New York Philharmonic.
Nach seinen ersten dauerausverkauften Spielzeiten in der Elbphilharmonie ist Gilbert es, der nun, trotz der Corona-Katastrophe, das Orchester und sein Publikum wieder zusammenbringen muss. Eine komplexe Aufgabe, die – mit anderen Vorzeichen – an die Aufbauarbeit von Schmidt-Isserstedt erinnert. „Es ist ein besonderes Geschenk, dass sich aus der Asche des Kriegs eine wirklich wichtige musikalische Instanz entwickelt hat“, sagt Gilbert dazu. „Daraus leiten wir auch jetzt unsere Legitimation ab. Unsere Musik ist gerade auch in diesen Zeiten da für die Menschen. Jetzt hat gerade die Tatsache, dass wir ein Rundfunkorchester mit digitalen Verbreitungsmöglichkeiten sind, viel Kraft. Wir sollten das also feiern und diesen Teil unseres Erbes wertschätzen.“
Ob und wie das gelingt, nachdem in den vergangenen Monaten drastische Sparpläne des Senders bekannt wurden, die auch auf die Zukunft des NDR-Chors abzielen, bleibt abzuwarten. Wie gut, dass über die Bedeutung des in Hamburg Erreichten bereits 1950 in einer Kritik aus Paris dieser Satz zu lesen war: „Es handelt sich um ein Orchester von außergewöhnlichem Wert.“
Jubiläumsveranstaltungen: 30.10, 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Alan Gilbert dirigiert Beethovens „Egmont“-Ouvertüre, Tschaikowskys Fünfte und Brahms‘ Doppelkonzert, Solisten: Julia Fischer (Violine), Daniel Müller-Schott (Cello). Evtl. Restkarten Das Konzert wird live auf NDR Kultur übertragen. 1.11., 19 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Turnage „Time Flies“ (dt. Erstaufführung), Mendelssohns Violinkonzert und Tschaikowsky 5. Sinfonie. Solist: Frank Peter Zimmermann. Evtl. Restkarten.