Hamburg. Detlef Scheele wird 2017 Chef der Behörde. Seine Schwerpunkte: Die Integration von Neuankömmlingen und Langzeitarbeitslosen.
Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Sozialsenator in Hamburg, Vorstand der Arbeitsagentur und von 2017 an auch deren Vorsitzender. Im Abendblatt-Interview spricht der Hamburger Sozialdemokrat Detlef Scheele über die schwierige Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt, über Langzeitarbeitslose und deren Kinder, die Zuwanderung von 400.000 qualifizierten Ausländern jährlich und seinen Lebensmittelpunkt Hamburg.
Herr Scheele, in Hamburg gelten Sie als Mann der unverblümten Worte. Können wir uns auf neue Töne von der Spitze der Bundesagentur in Nürnberg einstellen?
Detlef Scheele: Ich habe mich jedenfalls nicht geändert. Und wenn es die Situation erfordert, werde ich auch in meiner neuen Position klare Worte finden – das ist aber nie Selbstzweck.
Ihre große Herausforderung ist die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Was ist Ihr Plan?
Scheele: Die Arbeitgeber brauchen die Möglichkeit, einen Flüchtling erst einmal kennenzulernen – ohne große Bürokratie oder finanziellen Aufwand. Wir finanzieren zum Beispiel dreimonatige Erprobungen bei Arbeitgebern und kommen in dieser Zeit weiter für die Grundsicherung auf. Wenn sich die Zusammenarbeit bewährt, schließt sich eine sechsmonatige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit begleitender Qualifizierung an. Wir zahlen die Qualifizierung und beteiligen uns während dieser Zeit am Lohn.
Welchen finanziellen Rahmen haben Sie?
Scheele: Das kann man nicht genau beziffern. Wir haben in diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro für Qualifizierungen bereitgestellt. Aus diesem Geld werden Maßnahmen für Einheimische und Flüchtlinge bezahlt. Zudem hat unser Verwaltungsrat 250 Millionen Euro für die Integration von geflüchteten Menschen bewilligt.
In Skandinavien wird ebenfalls massiv investiert. Laut Studien ist der Erfolg nicht größer als etwa in Großbritannien.
Scheele: Das ist für mich kein Beleg, dass sich die Mühe nicht lohnt. Durch die vorhandenen Englischkenntnisse der Flüchtlinge fällt die Integration in Großbritannien schlicht leichter. In Deutschland wie in Skandinavien ist der Spracherwerb dagegen das zentrale Hindernis.
Geringqualifizierte und Arbeitslose sehen die Flüchtlinge als Konkurrenz. Zu Recht?
Scheele: Das Kooperationsmodell ist für Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose gleichermaßen konzipiert. Außerdem: Wir haben aktuell 43 Millionen Beschäftigte in Deutschland. Und wir werden etwa 220.000 arbeitslose Flüchtlinge am Jahresende haben. Das ist keine echte Konkurrenz. Im Einzelfall kann es zu einem Wettbewerb unter Flüchtlingen und anderen Migranten bei geringqualifizierten Jobs – etwa der Gastronomie, im Verkehr und in der Logistik – kommen.
Die Masse legt nahe, dass es sich um sehr viele Einzelfälle handeln könnte.
Scheele: Wir haben zur Zeit 680.000 offene Stellen gemeldet – davon sind allein 126.000 für den Helferbereich ausgeschrieben. Und der Markt ist stark in Bewegung. Zugegeben wird es dort nun etwas enger. Aber das bedeutet keine Gesamtkonkurrenz.
Wie bewerten Sie die Rolle der Wirtschaft? Die Dax-Konzerne versprachen sich sehr viel von den Flüchtlingen, stellten aber nur sehr wenige ein.
Scheele: Die Bemühungen sind viel stärker, als das öffentlich wahrgenommen wird. Natürlich muss man sich zunächst kennenlernen, zum Beispiel über Praktika. Menschen, die ihre Heimat aus humanitären Gründen verlassen haben, in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist eine Herausforderung.
Welche Probleme haben die Arbeitsvermittler?
Scheele: Wenn man etwa einer Familie aus Eritrea erklären will, dass eine Ausbildung sich lohnt, muss man viel Überzeugungsarbeit leisten. Wir treffen auf Menschen, die arbeiten wollen, aber das System nicht kennen. Und sie unterliegen häufig dem Wunsch, schnell zu arbeiten, um Geld in die Heimat zurückzuschicken. Das ist nach unseren Erfahrungen ein Hauptgrund dafür, dass eine Qualifizierung nicht zustande kommt.
Bei Frauen ist die Situation besonders schwierig, der Großteil war zuvor nicht erwerbstätig.
Scheele: Wir müssen realistisch sein: Jene Frauen, die in der Heimat nicht gearbeitet und die Kinder erzogen haben, werden in der ersten Generation wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir erleben aber auch, dass Frauen durchaus aktiv Arbeit suchen und in den Kursen manchmal engagierter sind als Männer.
Die Flüchtlinge werden das Fachkräfteproblem nicht lösen können. Muss auch die Anwerbung von qualifizierten Migranten verstärkt werden?
Scheele: Unsere Forscher sagen: Um unser Arbeitskräftepotenzial auf dem heutigen Niveau zu halten, brauchen wir jährlich eine Zuwanderung von 400.000 qualifizierten Menschen. 2015 haben 69.000 Fachkräfte aus Drittstaaten bei uns eine Beschäftigung aufgenommen, hinzu kommen die Arbeitskräfte im Rahmen der EU-Binnenwanderung. Ebenso müssen wir auch das inländische Potenzial besser ausschöpfen: zum Beispiel durch eine höhere Frauenerwerbstätigkeit oder die Weiterbildung von gering qualifizierten Arbeitslosen.
Daran haben auch Ihre Vorgänger gearbeitet – mit wechselhaftem Erfolg.
Scheele: Da gibt es inzwischen etwas Bewegung. Wir haben nun seit mehreren Monaten weniger als eine Million Langzeitarbeitslose, ein Rückgang von 60.000 Menschen im Vorjahresvergleich. Das ist noch keine Trendwende. Der Weg zurück in Beschäftigung ist lang. Wir steuern mit zwei zentralen Ansätzen gegen: In Modellregionen gibt es eine engere Betreuung durch die Arbeitsvermittler, das zeigt Erfolge. Und dann ist es gut, wenn Langzeitarbeitslose in Betrieben ihre Talente zeigen können, zum Beispiel über Praktika, Eingliederungszuschüsse von uns oder Zeitarbeit – da gibt es viele Möglichkeiten.
Wird es je wieder Vollbeschäftigung in Deutschland geben?
Scheele: Die gibt es schon in vielen Regionen und Branchen, etwa in Teilen der Sozial- und Gesundheitsberufe. Eine Dekade mit so guten Arbeitsmarktdaten hatten wir seit sehr langer Zeit nicht mehr.
Der Aufstieg rechter Parteien in Ländern wie Mecklenburg-Vorpommern wird auch an der wirtschaftlichen Lage festgemacht.
Scheele: Die wirtschaftliche Lage in Mecklenburg-Vorpommern ist sehr gut und die Arbeitslosenquote so niedrig wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Trotzdem fühlen sich einige Menschen, gerade ältere, noch als Verlierer.
Spüren Sie eine politische Verantwortung, den rechten Parteien über den Arbeitsmarkt den Wind zu nehmen?
Scheele: Wir leisten als Bundesagentur für Arbeit, insbesondere in den Jobcentern, mit großem Engagement unseren Beitrag für den sozialen Zusammenhalt. Das ist kein politisches Projekt, sondern Teil unseres Auftrags.
Sie haben sich nahezu Ihr gesamtes professionelles Leben mit Arbeitsmarktpolitik befasst. Was ist Ihr Antrieb, sich genau damit auseinanderzusetzen?
Scheele: Der große Vorteil ist: Es handelt sich um ein einzelnes Thema. Aber es gibt kaum ein Themenfeld mit derart vielen Facetten: Fachkräftesicherung, Langzeitarbeitslose, Zuwanderung, Sozialversicherung, Qualifizierung, Beschäftigungsförderung. Das reizt mich.
Welches Ihrer bisherigen Ämter hilft Ihnen am meisten bei Ihrer neuen Aufgabe?
Scheele: Jeder Teilaspekt meines Berufslebens hat etwas Besonderes. Aus meiner Tätigkeit als Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium weiß ich, wie schwer es manchmal sein kann, über Gesetzentwürfe Konsens zu erzielen. Aus der Kommune nehme ich mit, dass die Kooperation über die Rechtskreise, also etwa zwischen Arbeitsagentur, Jugendhilfe und der Sozialhilfe verbessert werden kann. Das möchte ich einbringen.
Nennen Sie ein Beispiel.
Scheele: Ein klassisches Beispiel ist ein langzeitarbeitsloses Ehepaar, das im Jobcenter gemeldet ist. Wenn dessen Kinder zum Beispiel auch Unterstützung vom Jugendamt erhalten, sollten beide Stellen ihre Maßnahmen eng abstimmen. Dies ist der sicherste Schutz gegen die Vererbung von Langzeitarbeitslosigkeit.
Heißt das, dass Sie vor allem die Jüngeren im Fokus haben werden?
Scheele: Mir liegt am Herzen, dass wir die Langzeitarbeitslosen insgesamt viel stärker in den Fokus nehmen. Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit hat einen klaren Beschluss mit Blick auf Langzeitarbeitslose und ihre Kinder gefasst. Wir müssen schon bei der Kita ansetzen. Das ist auch meine Erfahrung aus Hamburg.
Die Kommunen beklagen hohe Hürden bei der Zusammenarbeit mit der Agentur.
Scheele: Kooperation ist immer ein „Gesamtkunstwerk“. Es ist eine gemeinsame Aufgabe, das zu verbessern. Wir gestalten die Prozesse derzeit teilweise neu. Es steht in keinem Gesetz, dass man nicht kooperieren darf. Im Gegenteil – aus meiner Erfahrung weiß ich: Zusammenarbeit lohnt sich.
Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie?
Scheele: Wir wollen verstärkt mit Berufsberaterinnen und Berufsberatern an die Schulen – auch in die Oberstufen – um allen Jugendlichen ein möglichst breites Berufswahlspektrum aufzuzeigen. Außerdem wollen wir uns noch stärker um Studienabbrecher und Ausbildungsabbrecher kümmern.
Bleibt ihr Lebensmittelpunkt auch als Arbeitsagentur-Chef in Hamburg?
Scheele: Ja. Hier wohnen meine Frau und meine Kinder, selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht einfach alle Zelte abbrechen. Ich habe eine kleine Wohnung in Nürnberg – aber meistens bin ich ohnehin im gesamten Land unterwegs. Ich bin schon froh, wenn ich es schaffe, dort mal aufzuräumen (lacht).