Hamburg. In der HafenCity hat sie einen Ort geschaffen, an dem Start-ups neue Konzepte für Gastronomie und Lebensmittelhandel entwickeln können.

An der Decke hängen Filzservietten. Sie sehen aus wie kleine Segel, die in der Luft zu schweben scheinen. Als seien die Boote von draußen nach drinnen geholt worden. Durch die riesigen Fenster des Watermark-Gebäudes hätte man vor Corona ein Kreuzfahrtschiff nach dem anderen gesehen – jetzt tuckert verhalten eine Barkasse vorbei, immerhin.

Nicht bedauern, was fehlt, sondern das sehen, was möglich ist! Christin Siegemund lächelt. Mitten in der größten Krise hat die 39-Jährige eine 1200 Quadratmeter große Fläche in der HafenCity gemietet, um dort einen Versuch zu wagen. Sie wollte einen Ort der Chancen schaffen, des Probierens. Food-Start-ups können hier ihre Konzepte testen: Wird meine Idee, mein Produkt bei den Leuten ankommen? Welches Feedback bekomme ich? Was kann ich noch verbessern? Das Foodlab ist wie ein Freibad, in dem die Wassertiefe so eingestellt wurde, dass alle stehen können. Niemand ertrinkt. Keiner wird ins kalte Wasser geschmissen. Erst mal ein bisschen paddeln, bevor es dann später aufs Meer und zu den Haien geht.

Die Segel-Servietten an der Decke sind eine Familienarbeit. Am Abend vor der Eröffnung Mitte Juli fiel Christin Siegemund auf, dass die hohen Räume nach oben hin noch etwas nackig wirkten. Der Wirtschaftssenator hatte sich unerwartet angekündigt, nach irgendetwas sollte das Foodlab da schon aussehen. Ideen allein sind ja unsichtbar, das reicht beim ersten Eindruck vielleicht nicht.

Den Blick für das große Ganze behalten

Zum ersten Mal fiel Siegemund das dicke rote Rohr auf, das wie ein roter Faden neben vielen Kabeln unter der Decke verläuft. Egal, kann man als Industrie-Schick verkaufen. Die Hausherrin jedenfalls faltete den Filz, ihre sechsjährigen Zwillingstöchter fädelten ihn auf die Schnüre, Ehemann und Schwiegermutter hängten die Mini-Segel auf. Hätte eine teure Designer-Arbeit sein können, verkörpert aber im Grunde schon die Botschaft der Foodlab-Gründerin: Gemeinsam geht’s besser.

Als sie noch den eigenen Blog „Hamburger Deern“ führte, wurde es ihr klar: Man wurschtelt zu oft für sich alleine rum und verliert so den Blick für das große Ganze. Auf einer Food-Messe beispielsweise berichtete ihr jemand von seinen Problemen mit dem Abfüller. Siegemund bemerkte, dass der Typ am Stand nebenan genau die gleiche Flasche verkaufte. „Frag den doch mal, ob er auch so ein Problem hat“, schlug sie vor. „Vielen fehlt die Vogelperspektive. Als Gründer bist du in einer Blase und musst dich ständig selbst motivieren“, erklärt die Hamburgerin. „Bei uns arbeitet man an einem Platz mit Gleichgesinnten, da verzweifelt man weniger und kommt schneller voran.“

Moderne Coworking-Spaces

Die Coworking-Spaces sehen so modern aus, dass umgehend eine TV-Produktionsfirma vor Ort ihre nächste große Serie drehen könnte. So stellt man sich das Arbeiten von heute vor – coole Schreibtische, viel Licht, ruhige Nischen für das wichtige Telefonat mit dem ersten großen Kunden. In der TV-Soap könnte an diesem Rückzugsort herrlich der verbotene Kuss stattfinden zwischen ihr, der jungen Nachwuchsköchin, die einen neuen bahnbrechenden Fleischersatz kreiert hat, und ihm, dem Star-Koch, der seine vielen Sterne und Eroberungen gar nicht mehr zählen kann, der längst von allem genug hat und Vegetarier eigentlich indiskutabel findet. Erst wirkt es so, als würde ER IHR zum Durchbruch verhelfen, doch in Wirklichkeit verhält es sich natürlich anders herum. Zum Showdown kommt es dann in der glutenfreien Testküche …

Zurück zu der Frau, die das Foodlab erschaffen hat. Warum eigentlich? Weil sie durch ihren Blog mit vielen Start-ups zu tun hatte und als studierte Marketing- und Kommunikationswirtin bei der ein oder anderen Aufgabe unterstützte. Siegemund gab Tipps für die Verpackung oder die Website, kümmerte sich um den Social-Media-Auftritt der neuen Firma, stellte Kontakte her. Irgendwann sagte sie: „Ihr habt alle dasselbe Problem, stoßt alle irgendwann auf die gleichen Schwierigkeiten.“ Wo finde ich eine Küche, in der ich produzieren kann? Was muss ich machen, um ein Bio-Siegel zu bekommen? Welche Dinge gehören auf ein Etikett? Wie bekomme ich die Kaffeebohnen aus dem Zoll, was ist mit Mindesthaltbarkeit, Allergenen, Zertifizierern? „Es gibt kein Handbuch für Unternehmensgründungen in der Gas­tronomie“, erklärt die Foodlab-Geschäftsführerin. „Und das Ende vom Lied: Nach zwei Jahren ist dir die Puste oder das Geld ausgegangen, und du bist maximal frustriert.“

Die Test-Küchen sind perfekt ausgestattet

Im Foodlab gibt es unterschiedliche Gastro- und Gewerbeküchen, die pro Tag, Woche oder Monat gemietet werden können, um Testings in größeren und kleineren Mengen durchzuführen. Die Küchen sind perfekt ausgestattet (Eismaschine! Fermentationsstudio! pinke und goldene Kaffeemaschinen!) und genügen selbstverständlich dem Stichwort Nachhaltigkeit. Fast alle Reste werden in einem eigenen Komposter entsorgt. Der entstandene Humus geht dann weiter an die Lieferanten, die ihn in ihrer Landwirtschaft einsetzen.

Neben den Küchenplätzen zum Testen, Kreieren und Produzieren gibt es ein Studio für Foto-Shootings und Events sowie eine Pop-up-Fläche, auf der alle vier Wochen ein neues Restaurantkonzept Platz findet. „Wir brauchen verschiedene Ideen, um möglichst viele Leute anzusprechen“, sagte Siegemund.

3 Fragen

  • 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre? Das Foodlab bekannt machen, um innovative Start-ups zu fördern und einen Platz zu bieten, an dem der Austausch im Vordergrund steht und die Foodszene zusammenkommt. Ganz privat: die Sommerferien mit meiner Familie jedes Jahr an einem anderen Ort, der nicht zu Hause ist, verbringen.
  •  2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Das Foodlab zu einem gesunden Unternehmen etablieren, Arbeitsplätze schaffen, die 30-Stunden-Woche einführen. 
  • 3. Was wünschen sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Dass das Thema „Food“ und „Start-ups“ mehr Raum einnimmt, dass hier Förderungen auch fernab von Tech und Digitalisierung stattfindet. Außerdem wünsche ich mir, dass Hamburg endlich aus dem Schatten der anderen Städte als relevanter Ort für Wirtschaft, Innovation und neue Ideen heraustritt.

Den Anfang machten „The Food by gleem“ mit rein pflanzlichen Süßigkeiten und Daily Greens, ein veganer Liefer- und Cateringservice. Ein Koch aus Los Angeles präsentierte thailändisches Streetfood, ein veganer Italiener stellte sich vor – und dann kam auch noch Heiko Antoniewicz, der „Godfather der Molekularküche“, wie Siegemund sagt. Neun Tage lang wird er seine Kunst im Foodlab präsentieren, das natürlich auch über eine eigene Küchenchefin verfügt.

Business ist allgemein zu männlich geprägt

Diese Position besetzte die Gründerin bewusst weiblich, denn das Business sei allgemein zu männlich geprägt. „Männer ticken in der Küche anders, da fallen komische Sprüche, und ob ein Arbeitstag gut wird, hängt zu sehr von der Laune des Küchenchefs ab“, sagt Siegemund. Sie kennt Frauen, denen in der Küche auf den Hintern gehauen wurde, und weist darauf hin, welchen Unterschied Sprache macht. Wenn jemand sage: „Da kommt das Mädel“, dann findet die 39-Jährige das nicht angemessen: „Ich bin kein Mädel. Und auch Schreien in der Küche ist nicht cool!“

Gastronomie sei „ein Verein von weißen, alten Männern“, sagt Siegemund. Man erkenne das auch an den Auszeichnungen des Rolling Pin, einem anerkannten Award für die Gastronomie und Hotellerie. Unter den Gewinnern befinden sich lediglich vereinzelt Frauen, die Männer beherrschen das Business. Die hierarchischen Verhältnisse in der Küche wollte die Foodlab-Gründerin in ihrem eigenen Laden unbedingt aufbrechen, und die Aufmerksamkeit, die ihre gerade entgegengebracht wird, nutzen: „Es geht auch anders. Der Chef in der Küche kann eine Frau sein, sogar in Teilzeit, und es ist außerdem möglich, dass sich zwei Chefs die Position teilen.“

Gründerin hat sich eine „Frauschaft“ zusammengestellt

Neben der Küchenchefin sind auch alle anderen Angestellten weiblich, die Gründerin hat sich eine „Frauschaft“ zusammengestellt. Stellenanzeigen musste sie nicht schalten, das Akquise-Tool der gelernten Werberin heißt Instagram. Gearbeitet wird nach dem New-Work-Prinzip, jeder agiert sehr selbstständig, alle verdienen das Gleiche, die Gehälter sind transparent. Das verhindere Konkurrenzgerangel, erklärt die Gründerin, kein Getuschel, keine Neider. In ihrem vorherigen Job als Marketingleiterin bei Golfino hatte sie bereits ein Team geführt; die Zielgruppe war jedoch eine ganz andere als jetzt, wesentlich älter. „Ich bin lieber da, wo sich Neues entwickelt, wo ich Impulse geben kann.“ Und wo es notfalls auch ohne sie läuft.

Feste Arbeitszeiten passen ohnehin nicht zu Gründern. „Wichtige Entscheidungen treffe ich nicht konzentriert von 9 bis 19 Uhr, sondern überall: auf Spielplätzen, in der zweiten Schicht, wenn die Kinder abends im Bett liegen, beim Kochen in meiner Küche oder unterwegs“, sagt die Mutter, die ihren Mann als wichtigsten Ratgeber nennt. Der Unternehmensberater sah seine Frau zuletzt selten. Zum Start des Foodlabs war sie 16 bis 18 Stunden am Tag dort, perspektivisch möchte sie zwei Nachmittage die Woche bei ihren Töchtern in Winterhude sein.

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Immerhin hinderte die Gebundenheit den Food-Fan daran, ein eigenes Café oder Restaurant zu eröffnen. Für einen freiheitsliebenden Menschen unmöglich, so Siegemund: „Dann bereitest du um 6 Uhr vor und spülst um 20 Uhr ab, weil erst mal kein Geld für Personal da ist – und andere können gerade zum Start deine Vision nicht gut erzählen.“