Chefredakteur Lars Haider hält beim 32. Neujahrsempfang des Hamburger Abendblattes diese Rede vor 900 Gästen.

Liebe Freunde des Hamburger Abendblatts,

wir bleiben beim Thema Alter. Dies ist meine erste große Rede mit 50. Ja, ich weiß, man sieht es nicht, aber die jugendliche Leichtigkeit ist dahin, es wird Zeit, dass meine Reden intellektueller werden und ich selbst mehr wie Giovanni di Lorenzo.

Das wollte ich schon bei meinem allerersten Neujahrsempfang 2012. Damals hatte ich mir zur Vorbereitung einen unfassbar teuren Rhetorik-Trainer genommen. Der hörte sich die ersten drei Absätze meiner – wie ich fand – sehr klugen Rede an, um dann zu sagen: „Sie müssen gar nicht versuchen, intellektuell zu wirken. Das nimmt ihnen eh keiner ab, das sind Sie nicht.“ Motivierend für 500 Euro die Stunde, oder? Was ich denn sei, fragte ich zaghaft. Der Rhetoriktrainer überlegte lange, und antwortete: „Das Einzige, was Sie vielleicht ein bisschen sind, ist lustig. Versuchen Sie es damit doch mal.“

Das mache ich jetzt im neunten Jahr, vielleicht hat es der eine oder andere von Ihnen bemerkt. In der Zeit hat sich viel geändert: Der HSV spielt nicht mehr direkt um die deutsche Meisterschaft, Olaf Scholz ist nicht mehr Erster Bürgermeister – und meine Manuskripte sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Dies hier ist das Original-Manuskript der Rede von 2012. Und das hier ist das von heute. Ja, die Buchstaben sind einen Tick größer geworden. Trotzdem habe ich mir sicherheitshalber eine Lesebrille bei Budni gekauft, für 3,90 Euro. Und dafür großen Ärger mit meiner Frau bekommen: Du kannst dir doch keine Brille für 3,90 Euro kaufen, wenn du merkst, dass du nicht mehr richtig lesen kannst, du machst dir die Augen kaputt, hat sie gesagt, du gehst sofort zur Augenärztin.

Die nette, junge Augenärztin bescheinigte mir, schlimm genug, dass meine Augen „altersgemäß“ entwickelt seien und dass das in den kommenden Jahren auf jeden Fall alles noch viel schlechter werde. Ich fragte: Was soll ich denn nun machen? Und was sagte die Augenärztin? Sie sagte tatsächlich: „Also ich an Ihrer Stelle würde zu Budni gehen und mir eine Lesebrille für 3,90 Euro kaufen …“

Sie lachen, aber damit ist jetzt Schluss. Die Zeiten, dass ich für Sie den Entertainer gegeben habe, sind vorbei, heute müssen Sie selbst richtig ran. Denn wir haben die einmalige Chance, gemeinsam die Stimmung in Hamburg so kurz vor der wichtigen Wahl herauszufinden.

Beim Händeschütteln fragte ich übrigens einen sehr, sehr bekannten Hamburger Unternehmer, wer denn aus seiner Sicht die Wahl gewinnen wird. Der Mann überlegte nicht lange und sagte: „Norbert Aust, wer denn sonst?“ Ist das nicht rührend? Dass die Hamburger Kaufleute beim Stichwort Wahl immer noch zuerst an die Wahl zum Plenum der Handelskammer denken – und das, obwohl von der nach drei Jahren Kammerrebellen nicht mehr viel übrig ist.

Zurück zur richtigen, zur Bürgerschaftswahl, der mit Abstand wichtigsten Landtagswahl in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr. Okay, es ist auch die einzige, aber was für eine: Zum ersten Mal in der langen Geschichte Hamburgs kandidiert eine Frau für den Posten des Ersten Bürgermeisters, zum ersten Mal haben die Grünen die Chance, stärkste Partei zu werden. Und zum ersten Mal treten zwei Spitzenkandidaten gegeneinander an, die in den vergangenen fünf Jahren sehr erfolgreich miteinander regiert haben und die mit großer Mehrheit weiterregieren könnten.

All das macht die Wahl so spannend. Mein Glück ist, dass ich heute hier 1000 Menschen vor mir habe, die ich genau dazu befragen kann. Sie, liebe Freunde des Hamburger Abendblatts, sind locker repräsentativ – auch, wenn Sie vom Einkommen eher unter dem Hamburger Durchschnitt liegen und vom Alter … egal. Also, die Umfrage beginnt, einfaches Handzeichen reicht.

Wer von Ihnen weiß schon, wen oder was er wählen will?

Wichtig: Wer von Ihnen glaubt, dass der nächste Senat aus zwei Parteien bestehen wird?

Gegenprobe: Wer von ihnen glaubt, dass der nächste Senat aus drei Parteien bestehen wird?

So, und jetzt eine Teilbefragung, an der bitte nur die Ministerpräsidenten im Saal teilnehmen: Wer glaubt, dass die CDU der nächsten Regierung in Hamburg angehören wird?

Lieber Herr Günther, schön, dass Sie da sind … Und lieber Herr Tschentscher, habe ich bei Ihnen ein leichtes Zucken gesehen?

Übrigens: Falls Ihnen meine Reden zu langweilig sind, müssen Sie sich unbedingt mal eine der Reden von Daniel Günther anhören, die sind wirklich großartig – auch wenn er darin immer wieder behauptet, dass Sylt und Timmendorfer Strand nicht zu Hamburg gehören würden … Merken Sie selber, Herr Ministerpräsident, oder? Ist aber immer ein Riesenlacher!

Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Am Ende meiner Rede, also in gut zwei Stunden, gibt es noch eine echte Wahlumfrage.

Ich glaube, dass die Wahl am 23. Februar nicht nur wegen der geschilderten Konstellation etwas Besonderes ist. Es geht um mehr, es geht darum, die Chance zu nutzen, die die Klimakrise Hamburg bietet. Ja, Sie haben richtig gehört: Ich habe von einer Chance gesprochen. Stellen Sie sich vor, wenn alle nach Hamburg blicken würden, weil wir uns trauen, die großen Fragen dieser Zeit endlich anzugehen. Weil wir handeln, während andere noch reden, weil wir unser Verhalten ändern. Es gibt so viele Ideen: Innenstadt autofrei, 365-Euro-Ticket für jeden Hamburger, große, sichere Fahrradstraßen, Wohnungen, wo früher Parkplätze waren, Landstrom im Hafen, Moias, in denen mehr als ein Passagier sitzt, und so weiter und so weiter …

Einiges  ist schon angeschoben worden, da haben unsere klugen Politiker in den vergangenen Jahren viel richtig gemacht. Jetzt müssen wir den nächsten großen Schritt gehen, mal wieder Vorreiter werden, so wie vor knapp zehn Jahren bei den kostenfreien Kita-Plätzen oder beim Wohnungsbau. Lassen Sie uns gemeinsam den Wettbewerb um den besten Klimaschutz gewinnen! Lassen Sie uns vormachen, wie es geht: Hamburg for Future.

Jetzt fragen Sie sich: Warum hat der Haider das eigentlich in den vergangenen Jahren nicht gesagt? Ganz ehrlich: Ich frage mich das auch. Die Klimakrise hat in meinen Reden keine Rolle gespielt, genauso wenig wie in der öffentlichen Diskussion – obwohl wir alle seit mehr als 30 Jahren wissen, was da auf uns zukommt.

War es uns egal? Wollten wir das alles einfach nicht hören? Oder sind wir nur zu bequem, an unserem Lebensstil etwas zu ändern? Ich weiß es nicht, ich weiß nur: Die Kombination aus dem Sommer 2018, aus Greta Thunberg und Fridays for Future hat bei mir und vielen Menschen in Hamburg etwas verändert, und ich hoffe sehr, dass es noch rechtzeitig ist!

Und ich verspreche: Wenn Hamburg es schafft, eine klimaneutrale Stadt zu werden, bevor der HSV sich erstmals wieder für die Champions League qualifiziert hat, lade ich Sie alle ins Dreisternerestaurant von Kevin Fehling zum Essen ein – Mittagstisch, versteht sich.

Sie müssen wissen: Ich bin Vegetarier, seit 30 Jahren, und will deshalb auch die Gelegenheit nutzen, der dankenswerterweise komplett anwesenden Spitze des grünen Vorstands einen wichtigen Rat mitzugeben: Kommt bitte nie wieder auf die Idee, einen Veggie-Day zu machen, den braucht wirklich keiner. Was wir brauchen, ist ein Veggie-Monat! Musste mal gesagt werden. Ach, und wo ich gerade so radikal bin: Lasst uns doch die Innenstadt erst mal für E-Scooter und dann für Autos sperren! Danke!

Ich sehe in Ihren Gesichtern, dass es Zeit für eine kleine Geschichte über den wundersamen Verein mit den drei Buchstaben ist, der im vergangenen Jahr komplett verrückt gespielt hat. Lieber Bernd Hoffmann, bleib bitte ganz ruhig – ich meine nicht den HSV. Um den mache ich mir schon deshalb keine Sorgen, weil es Bielefeld ja gar nicht gibt …

Nein, ich spreche von der SPD, die Älteren werden sich erinnern: Das war mal eine große deutsche Volkspartei. Während die Deutschen sich 2019 Sorgen wegen des Klimas machen, beschäftigte sich die SPD – auf Bundesebene, ausdrücklich nicht in Hamburg! – mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens: nämlich mit sich selbst.

Bei der Suche nach einem neuen Vorsitzenden-Duo sah es zeitweise so aus, als könnte es mehr Kandidaten als verbliebene SPD-Wähler geben. Und dann hat mit Kevin Kühnert auch noch einer gewonnen, der gar nicht antreten ist … Ja, und es ist auch nicht mehr ausgeschlossen, dass bei der nächsten Bundestagswahl die Kanzlerkandidaten Norbert Walter-Borjans und Annegret Kramp-Karrenbauer aufeinandertreffen – da wünsche ich Pinar Atalay und den anwesenden Kollegen von „Tagesschau“ und „Tagesthemen“  schon einmal viel Glück.

Ein Chefarzt erzählte mir im Zusammenhang mit der SPD übrigens, dass man sich im Krankenhaus bei schwierigen Operationen immer für den Arzt entscheiden würde, der so was schon mal gemacht, und nicht für einen, der gar nicht Medizin studiert hat …

Vielleicht ist das jetzt die Gelegenheit, den Vizekanzler zu begrüßen: Lieber Olaf Scholz, schön, dass Sie heute hier sind, eine Ehre! Ein herzliches Willkommen auch an Franziska Giffey und Bernd Riexinger und natürlich an Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Der Vorstand der Grünen hat extra für unseren Neujahrsempfang seine Klausurtagung nach Hamburg verlegt, das freut mich sehr. Die FDP-Spitze musste dagegen wegen des Dreikönigstreffens in Fellbach absagen – dafür waren sowohl Wolfgang Kubicki als auch Christian Lindner in meinem Podcast „Entscheider treffen Haider“ zu Gast.

Christian Lindner hat dort erklärt, hören Sie gut zu Frau Baerbock und Herr Habeck, dass er der einzige Spitzenpolitiker sei, der Fridays for Future ernst nehme. Zitat: „Für die anderen sind das vor allem Kinder.“ Und Wolfgang Kubicki hat auf meine Frage, ob es in der Berliner Politik wirklich so brutal und hart zugeht, wie man sich immer erzählt, geantwortet: „Ich habe 15 Jahre Ralf Stegner hinter mir, mich kann nichts mehr beleidigen.“ Das Gespräch müssen Sie sich anhören.

Überhaupt, die Podcasts. Heute vor einem Jahr hatten wir einen, inzwischen sind es zehn, und es kommen in den nächsten Monaten jede Menge neue dazu. Wir haben uns gedacht: Wenn Hören das neue Lesen ist, sind Podcasts die neuen Zeitungen, deshalb wird es bald ein komplettes Abendblatt-Audio-Programm geben.

Und nicht nur das: Für 2020 planen wir neue Magazine über und mit Klaus von Dohnanyi, Ralf Dümmel und Philipp Westermeyer; sechs Reporter zwischen 16 und 20 Jahren werden für uns erstmals auf Youtube über die Bürgerschaftswahl berichten.

Und, jetzt kommt es: Ab heute gibt es den Abendblatt-Thinktank, ein maßgeschneidertes, rein digitales und einmaliges Angebot für alle, die in Hamburg wichtige Entscheidungen zu treffen haben. Die Leitung hat mein lieber Kollege Matthias Iken übernommen, und ich befürchte, dass er damit großen Erfolg haben wird. Probieren Sie es mal aus, es lohnt sich!

Liebe Freunde des Hamburger Abendblatts, Sie und ich stünden heute nicht hier, wenn es Peter Kruse nicht gegeben hätte. Er hat den Neujahrsempfang zu dem gemacht, was er ist, und er war sowieso einer der bedeutendsten Chefredakteure des Hamburger Abendblatts. Peter Kruse ist jetzt nicht mehr unter uns, aber er wird immer ein Teil unserer Zeitung bleiben. Das Abendblatt ist ihm zu großem Dank verpflichtet – und ich auch. Es war nämlich Peter Kruse, der mich 1996 als Volontär einstellte. Und das, obwohl ich im Allgemeinwissenstest auf die Frage, wo das Seebad Binz liegt, geschrieben hatte: in der Schweiz … Sie sehen, es ist gar nicht so schwer, Chefredakteur des Abendblatts zu werden.

So, bevor ich zur Wahlumfrage komme, muss ich Sie noch um Entschuldigung bitten. Ich habe im vergangenen Jahr doch tatsächlich zum insgesamt dritten Mal bei einem Neujahrsempfang die Geschichte von meiner Herkunft aus Harburg erzählt. Dabei gibt es zu der Marotte der Hamburger, Menschen ausschließlich danach zu beurteilen, wo sie genau wohnen, eine viel schönere Geschichte von Alexandra von Rehlingen. Die geht so:

Alexandra von Rehlingen war aus München nach Hamburg gezogen.

Fragt sie ein Kaufmann: Wo wohnen Sie denn in Hamburg?

Sagt sie: in Rotherbaum.

Fragt der Kaufmann: in welcher Straße?

Alexandra von Rehlingen sagt den Namen der Straße.

Und was fragt der Kaufmann allen Ernstes. Na? Genau: „Und welche Höhe?“ Das ist Hamburg!

Und das sind die Ergebnisse unserer Wahlumfrage: Wenn in Hamburg am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, kämen die Grünen auf 26 Prozent, die CDU auf 22 Prozent und die SPD auf 17 Prozent. Es ist aber nicht Bundestags-, sondern Bürgerschaftswahl. Und dafür sehen die Ergebnisse so aus: AfD 7, FDP 7, Linke 10, CDU 16, Grüne 26, SPD 29 Prozent.

Ich wünsche uns allen einen spannenden Wahlkampf und ein schönes, klimafreundliches neues Jahr. Seien Sie dabei!

Danke!