Hamburg. 100 große Fragen des Lebens: Heute erklären Wissenschaftler, was beim Schlummern, Träumen und Schnarchen im Körper passiert.

Der Mensch lebt im Schnitt etwa 80 Jahre – und verschlummert ganze 24 Jahre davon. Aber nicht immer gerät der wohlverdiente Schlaf auch erholsam. Im Interview erklären der Allgemeinmediziner Prof. Martin Scherer und der Psychologe Mathias Kammerer, was sich beim Schlafen, Träumen und Schnarchen im Körper abspielt – und wie man besser schläft.   

Hamburger Abendblatt: Herr Scherer, Herr Kammerer, schlafen Schlafexperten besser als Normalsterbliche?

Dr. Martin Scherer: Ärzte sind leider nicht die besseren Patienten. Wenn man sich über etwas ärgert, zu spät E-Mails liest oder Kaffee trinkt, kann es trotzdem Probleme geben.

Mathias Kammerer: Das ist richtig. Immerhin hat man aber mehr Werkzeuge an der Hand, um den eigenen Schlaf zu verbessern.

Was spielt sich in Kopf und Körper ab, wenn wir schlafen?

Kammerer: Die Annahme, das Schlaf ein passiver Zustand sei, ist so nicht mehr haltbar. Es spielen sich  einfach andere Prozesse als im wachen Zustand ab. Im Schlaf findet sowohl körperliche wie psychische Erholung statt. Vor allem emotional gefärbte Areale im Gehirn agieren dabei sehr stark miteinander.

Welche Schlafphasen gibt es?

Kammerer: Die erste Phase ist eine Art Übergang, dann folgt ein bereits tieferer Schlaf, gefolgt von dem, was man Tiefschlaf nennt. Abschließend geschieht die sogenannte REM-Phase, in der das Nervensystem besonders aktiv ist. Etwa 90 bis 120 Minuten nach dem Einschlafen beginnt der Zyklus von Neuem. 

Einige Menschen brauchen mehr Schlaf, manche weniger. Warum?

Scherer: Das ist individuell und genetisch definiert. Aber wir Menschen setzen uns beim Schlaf deutlich von anderen Lebewesen ab. Kaum ein Tier hat einen so tiefen Schlaf. Und er ist ganz entscheidend dafür, dass unser Immunsystem funktioniert. 

Was passiert mit dem Körper, wenn man zu wenig schläft?

Scherer: Es gibt dazu einen spektakulärer Versuch aus den 60er-Jahren. Ein junger Kalifornier wurde an der Universität Havard insgesamt elf Tage lang wach gehalten und alles protokolliert. Und alle körperlichen und kognitiven Werte brachen extrem ein. Er konnte sich schon am nächsten Tag deutlich schlechter konzentrieren, war gereizt, hatte Probleme beim Sehen. 17 Stunden nicht zu schlafen hat eine ähnliche Wirkung auf den Körper wie 0,5 Promille Alkohol im Blut. Als ich früher Nachtschichten in der Chirurgie hatte und am nächsten Morgen noch Blut bei Patienten abnehmen musste, habe ich auch mal daneben gepikst. Man ist kognitiv und motorisch einfach nicht fit. Über längeren Zeitraum wirkt sich das Schlafdefizit auch massiv auf das Immunsystem und das Herz-Kreislauf-System ein.

Wie lautet Ihre Empfehlung?

Kammerer: Grundsätzlich ist es sinnvoll, sich am Tag-Nacht-Rhythmus zu orientieren. Diese zwölf oder dreizehn Stunden von Sonnenaufgang bis zur Dunkelheit sind eine gute Richtlinie. 

Rund drei Viertel der Hamburger haben laut Studien Probleme beim Ein- oder Durchschlafen. Wie entstehen Schlafstörungen?

Kammerer: Stress ist ein massiver Faktor. Das betrifft sowohl den Stress, der am Tage passiert ist, als auch die Einschlafsituation selbst. Viele Menschen leiden schon darunter, nicht ad hoc einschlafen zu können. 

Scherer: Somit wird das Bett dann auch zum Ort des Schreckens, das Stress auslöst, wenn man es nur ansieht. In der Therapie begegnen wir dem mit Stimuluskontrolle. Wir sagen dem Patienten ganz eindeutig: Das Bett ist nur zum Schlafen und für Sex da. Nicht zum Essen, zum Trinken oder zum Fernsehen. Das ist oft ein längerer Prozess, bis das Bett wieder eine positive Konnotation erhält.

Vor dem Gang zum Arzt setzen Menschen oft auf Hausmittel: Schafe zählen oder Techniken zur Muskelentspannung.

Kammerer: Eine Technik allein ist meist nicht die Lösung. Die Psyche funktioniert nicht über Schalterdruck. Stattdessen ist ein Vorlauf über zwei bis drei Stunden vor dem Schlafengehen wichtig. In dieser Zeit sollte man nicht mehr Sport machen, die Lichter eher gedimmt sein und möglichst nichts Aufregendes tun. Einigen hilft auch eine warme Dusche oder ein Bad.

Scherer: Alle diese Dinge zielen darauf ab, dass der Schlafdruck aufrechterhalten wird. Das man das Bedürfnis zu schlafen auch spürt. Dabei hilft auch, keinen ausgedehnten Mittagsschlaf zu machen und keine zu großen Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Der letzte Kaffee und die letzte Zigarette des Tages sollten mindestens einige Stunden zurückliegen. Wer oft Probleme im Kopf wälzt, dem hilft möglicherweise ein Heft neben dem Bett, in das man seine Sorgen schreibt und dann wörtlich beiseitelegt. Elementar sind feste Einschlafzeiten, um eine gesunde Rhythmik in Gang zu bringen. Generell empfehlen wir die Schrotschussstrategie: Das bedeutet, so gut wie alles, was hilft, einfach auszuprobieren.

Kammerer: Es darf dabei kein Zwang herrschen. Stattdessen sollte man so gut wie möglich versuchen, die Werkzeuge für guten Schlaf in den normalen Rhythmus zu integrieren.

Fast alle Menschen gucken im Alltag immer wieder aufs Handy. Führt das insgesamt zu schlechterem Schlaf?

Scherer: Das hat zwei Aspekte. Einmal kann beim Blick in das E-Mail-Postfach immer eine Mail sein, die einen ärgert. Der zweite Aspekt ist das Licht des Displays. Wenn ich an zu hellen Lichtquellen sitze, dann kann das auch die Schlafregulation stören. Das gilt auch bei modernen Geräten, die dies bereits besser berücksichtigen. Insgesamt muss man einen Puffer zwischen Medienkonsum und Schlaf einbauen.

Also das klassische Buch als Einschlafhilfe.

Scherer: Möglichst kein Thriller. Wenn man das Buch nicht aus der Hand legen kann, ist die Nacht auch weg.

Kammerer: Neue Medien sind eher zu vermeiden. Fachlektüre kann bestimmt beim Einschlafen helfen (lacht). 

Sind bestimmte Einschlafpositionen von Vorteil?

Scherer: Das ist eine fast theoretische Frage, weil wir das nicht wirklich beeinflussen können. Die Bewegung im Schlaf ist unbewusst. Wir haben oft Patienten, die schildern, dass ihre Kinder nachts ins Bett kommen und sie selbst dann am nächsten Morgen wie gerädert sind. Es ist sicherlich wichtig, Platz für Bewegung zu haben. Diese ständigen Lageveränderungen vermeiden Stress auf bestimmte Wirbelgelenke. 

Auch der Partner nimmt Platz im Bett weg. 

Scherer: Man braucht eine Umgebung, die reizfrei ist und schlaffördernd. Die meisten empfinden die Anwesenheit des Partners als angenehm und beruhigend. Andere sagen: „Ich liebe meinen Partner, aber er schnarcht, dass sich die Balken biegen.“ Man kann auch getrennt schlafen und eine gute Ehe haben.

Was ist Schnarchen aus medizinischer Sicht?

Scherer: Eine Druckerhöhung im Nasen-Rachen-Raum. Man atmet über bestimmte Widerstände aus. Das Gaumensegel gerät in Schwingung und macht diesen Klang. Das kann dazu führen, dass man nicht erholsam schläft.

Auch frühes Aufstehen der Kinder kann Schlafqualität mindern. Würde es etwas bringen, den Schulunterricht erst um 9 Uhr beginnen zu lassen?

Kammerer: Das kommt stark auf das Alter der Kinder an. Bei Jugendlichen ändert sich oft der sogenannte Chronotyp,  und es ist wichtig für sie, viel zu schlafen. Da wäre es mit Blick auf die neuroplastischen Prozesse durchaus sinnvoll, ihnen eine Stunde mehr zu geben.

Um 8 Uhr morgens sind Lehrer und Schüler oft noch gleichermaßen müde.

Kammerer: Das hängt auch von den Jahreszeiten ab, weil wir uns auch am Licht orientieren. Im Winter könnte es da hilfreich sein, die Unterrichtszeiten nach hinten zu verschieben.

Ab 2021 soll die Zeitumstellung abgeschafft werden. Einige Forscher haben vor negativen Folgen auf die Gesundheit gewarnt, andere sehen dort kaum ein Problem. 

Scherer: Ich würde mich zu den Letzteren zählen. Das steckt ein Organismus durchaus weg. Ein Jetlag nach einer Flugreise ist da deutlich schlimmer.

Kammerer: Der Mensch ist da wirklich sehr robust, auch aus meiner Sicht gibt es kaum einen Grund zur Sorge. 

Können Sie den sogenannten Powernap empfehlen?

Scherer: Der Powernap ist sehr effektiv, wenn man es kann. Mir gelingt das sehr gut, im Alltag einmal zehn bis zwanzig Minuten die Tür zu schließen und kurzzeitig einzuschlafen. Wer es sehr gut geübt hat, wacht sogar nach 20 Minuten ohne Wecker wieder auf. Von einem ausgedehnten Mittagsschlaf würde ich dagegen abraten, weil er den Schlafdruck am Abend mindert.

Kammerer: Es gibt Studien, die zeigen, dass die Lernfähigkeit und das Gedächtnis durch den Powernap gefördert werden. Wenn ich in der Bibliothek einmal 30 Minuten geschlafen habe, hatte ich das Gefühl, das Gelesene besser gespeichert zu haben. Das ist auch neurophysiologisch nachzuvollziehen.

Warum fühlt man sich gerädert, wenn man zu viel schläft?

Scherer: Wir wissen, dass Erschöpfungszustände oft erst dann wahrgenommen werden, wenn dem Körper Ruhe gegeben wurde. Wenn etwa Menschen in eine Reha-Einrichtung und somit in einen geschützten Raum kommen, in dem alle die Stressoren und die Aufregung weg sind, lassen sie häufig körperlich erst einmal alle Flügel hängen. Das kann Teil einer Erholungsphase sein, sich erst einmal schwach zu fühlen. 

Kammerer: Das Beste wäre wohl, auch am Wochenende beim normalen Wochenrhythmus zu bleiben. Andernfalls setzt der Körper deutliche Signale, wenn Erholung durch mehr Schlaf angezeigt ist. Da kann es schon mal über den gewöhnlichen Nachtschlaf hinausgehen.

Einige stellen sich nur einen Wecker, manche zehn. Macht das Sinn, noch zu snoozen?

Kammerer: Der Schlaf ist nicht mehr so stabil, sobald man einmal geweckt wurde. Trotzdem ist das eine Typfrage. 

Scherer: Es soll nichts krampfig sein und in Zwang ausarten. Auch aufzuwachen  darf nicht angstbesetzt sein.

Kurz vor dem Einschlafen dreht das Gehirn richtig auf. Man hat die wildesten Ideen.

Kammerer: Ja, das berichten viele Menschen. Das hängt mit dem Raum zusammen, der sich dem Gehirn im Gegensatz zum Wachsein bietet. Am besten wäre es wohl, noch einmal aufzustehen und diese Gedanken abzuhaken – oder sich bereits während des Tages den Raum für die eigenen Ideen zu nehmen.

Es fühlt sich manchmal gar wie eine eigene Welt an zwischen Wachsein und Schlaf. 

Kammerer: Man spricht dann von assoziationsgelockertem Denken. Das Gehirn funktioniert anders als im Wachsein. Der Frontalcortex wirkt im Alltag unterdrückend auf einige andere Areale, damit wir auch funktionieren. Dies nimmt im Schlaf deutlich ab.

Scherer: Die Gehirnrinde als Ort des logischen Denkens ist im Schlaf praktisch ausgeschaltet. Somit eröffnet sich Raum für die wildesten Ideen und Träume.

Sind Träume ein Nebenprodukt davon?

Kammerer: Sie gehören zu den Lern- und Gedächtnisprozessen. Träume sind förderlich, Erinnerungen in emotionaler Form und episodenhafter Form zu verarbeiten. 

Einige Menschen sagen, sie träumten nie.

Scherer: Wir träumen alle, und zwar in allen Schlafphasen. Auch das kann man kultivieren. Es kann helfen, ein Traumtagebuch zu führen und ganz direkt nach dem Aufwachen noch nach zwei bis drei Bildern zu greifen.

Schläft man bei Albträumen schlechter?

Kammerer: Grundsätzlich ja. Für gewöhnlich wacht man davon in starker Erregung auf und hat erst einmal Schwierigkeiten, wieder einzuschlafen.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Ernährung und Schlaf?

Scherer: Man sollte nicht hungrig, aber auch nicht übersatt ins Bett gehen. Es gibt da vielfältige Stoffwechselzusammenhänge. Unterzuckerung kann Menschen etwa aufwecken. 

Lässt sich trainieren, mit weniger Schlaf auszukommen oder tiefer zu schlafen?

Kammer: Es hat schon seine Berechtigung, dass wir schlafen. Solange man die Schlafhygieneregeln einhält, sollte das von alleine funktionieren. 

Scherer: Wir neigen meiner Ansicht nach immer mehr dazu, uns unsere Körper im Alltag untertan zu machen. Es ist aber wichtig zu schauen, dass Belastung und Erholung in der Balance bleiben. Das bedeutet, eher Maß und Mitte zu finden, als noch zu versuchen, mit weniger Schlaf auszukommen. Das Wohlbefinden ist ein sehr instabiler Zustand und guter Schlaf dafür ein wichtiger Faktor.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Was macht uns süchtig?