Hamburg. Corona-Krise, Arztruf 116 117, mehr Geld für Krankenhäuser: Gesundheitsbranche schreibt Pflichtenheft für neue Senatorin.
Die Corona-Krise hat binnen weniger Wochen in Hamburg eine Nummer bekannt gemacht, für die Reklameexperten noch weitere Jahre gebraucht hätten: 116 117. Dieser Telefonanschluss war der Schlüssel in der Behandlung von Verdachts- und wirklichen Covid-19-Fällen. Über den Arztruf Hamburg der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wurden Patienten mit niedergelassenen Ärzten zusammengebracht, untersucht, in Quarantäne verfrachtet oder gleich ins Krankenhaus.
Tausende Tests haben Hamburgs Praxisärzte gemacht. Und nebenbei Werbung für die 116 117. Wer sonst „auf Verdacht“ in die Notaufnahme einer Klinik ging, griff plötzlich zum Telefon. Und immer mehr Patienten dämmerte der Unterschied: 112 für schwere Fälle, 116 117 für das Abklären: Hausbesuch vom Notarzt der KV, gleich ins Krankenhaus oder reicht es, am nächsten Tag in die Praxis zu gehen?
Hamburg: Notruf 112 und Arztruf 116 117 zusammenlegen?
Und nun sollen die Leitstellen von 112 und 116 117 zusammengelegt werden. Es ist eine gesundheitspolitische Überlegung von vielen, die der neue Hamburger Senat anstellt. Wenige Tage im neuen Amt, muss sich Sozial- und jetzt auch Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) mit heiklen Fragen auseinandersetzen. Hinterlassen wurden sie ihr wie die naturgemäß unaufgeräumte Corona-Krise von Cornelia Prüfer-Storcks, die in Rente ging.
Der Vorstandschef der KV, Walter Plassmann, schreibt Leonhard im Abendblatt ein Pflichtenheft. Dasselbe tun die Krankenkassen und die Krankenhäuser. Sie sind nicht nur große Arbeitgeber, sondern die Garanten für die Behandlung der schweren Fälle von Covid-19.
Hamburger Ärzte appellieren an Senatorin Leonhard
Ärzte-Vertreter Plassmann nimmt kein Blatt vor den Mund: „Die Zusammenlegung der Telefonzentralen des Arztrufes und des Notrufs ist Unsinn – selbst die Feuerwehr will das nicht.“ Es sei wichtig, dass die 116 117 und die 112 vom Patienten getrennt anwählbar blieben. „Sonst verstopft die 112 mit Bagatellfällen. Anfragen, die an die falsche Adresse kommen (nur ganz wenige), leiten wir heute schon ohne jeden Zeitverzug weiter – und vice versa. Eine Zusammenlegung ist also völlig überflüssig, würde aber enorme Kosten verursachen, weil die Callcenter-Strukturen ganz anders aufgebaut werden müssten, als wir das heute machen.“
Bei der Zusammenlegung der beiden Nummern sprach Plassmann von einem „toten Pferd“, das Hamburg reite. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe das erkannt. Die Forderung sei im Entwurf des Gesetzes zu „Integrierten Notfallzentren“ nicht mehr enthalten.
Plassmann mahnte Leonhard, die niedergelassenen Ärzte und ihre Arbeit gerade in Pandemiezeiten sehr ernst zu nehmen. „Wir appellieren an Senatorin Dr. Melanie Leonhard, dieser Bedeutung den ihr zukommenden Platz einzuräumen.“
Mit Prüfer-Storcks hatten sich die Ärzte über Pläne zerstritten, die die Behörde hartnäckig verfolgte: Praxen innerhalb Hamburgs zu verlegen – dorthin, wo die Behörde einen Bedarf sieht. Im Abendblatt-Interview sagte Prüfer-Storcks zuletzt: „Wir wollen die Situation in sozialschwachen Räumen verbessern – das aber ohne Verlegung. Wir werden nicht den Eppendorfer Arzt zwingen, sich in Billstedt niederzulassen.“
Koalitionsvertrag sieht Verlegung von Arztpraxen vor
Im Koalitionsvertrag steht das Gegenteil: „Dazu sind die von der Landeskonferenz Versorgung beschlossenen Maßnahmen gute Instrumente, um gezielt lokale Versorgungsprobleme zu lösen, z.B. durch Sonderbedarfszulassungen, finanzielle Förderung oder Verlegung von Arztpraxen.“
Auch die Krankenkassen entscheiden mit, wo Praxen benötigt werden. Und sie erinnern die Behörde und die „neue“ Senatorin daran, dass politische Einflussnahme hier nicht erwünscht ist. So sagte die Vorsitzende des Krankenkassenverbandes Vdek (Techniker, Barmer, DAK, HEK), Kathrin Herbst, dem Abendblatt: „Wir wünschen uns, dass die Ärztinnen und Ärzte bedarfsgerecht über das Stadtgebiet verteilt sind. Davon profitieren die Patienten. Die aktuellen und langjährigen Erfahrungen in der Hansestadt zeigen, dass die Planung der Bedarfe bei der gemeinsamen Selbstverwaltung aus Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung in guten Händen ist.“
Die Kassen loben, dass Hamburg sich in der Krankenhauspolitik an der Qualität der medizinischen Versorgung orientiert. Aber das erfordere deutlich mehr Geld als bisher, so Herbst. Es klingt erstaunlich, dass sich ausgerechnet Krankenkassen dafür einsetzen, dass mehr Geld in die Kliniken gesteckt wird.
Krankenkassen: Mehr in Hamburger Krankenhäuser investieren
Doch Verbandsfrau Herbst kann das erklären: „Kritisch zu sehen ist die Ankündigung, die Investitionen in die Krankenhäuser lediglich zu stabilisieren. Sie liegen derzeit bei rund 110 Millionen Euro jährlich. Das entspricht einer Investitionsförderquote, also der Entwicklung der Investitionen im Verhältnis zu den Klinikausgaben, von aktuell 4,8 Prozent. Benötigt werden nach Expertenmeinung aber rund acht bis zehn Prozent – und damit mindestens 185 Millionen Euro. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, um zu verhindern, dass die Kliniken aus den Versichertengeldern Investitionen finanzieren – Mittel, die dann bei der Versorgung der Patienten am Bett fehlen.“
Die Krankenkassen riefen Senatorin Leonhard dennoch dazu auf, weiter „darauf zu achten, dass nicht alle Häuser alle Leistungen erbringen, sondern vor allem schwere Fälle auf bestimmte Standorte konzentriert werden“. Sie forderten eine wissenschaftliche Studie zur Geburtshilfe und zur Versorgung besonders kleiner Frühchen. „Dies sollte die Senatorin auch im Aktionsplan ,Gesunde Geburt‘ verankern.“
Situation von Schwangeren und Babys im Fokus
Gerade die Situation Schwangerer und Neugeborener stand zuletzt im Fokus. Während Prüfer-Storcks im Wahlkampf zu Beginn des Jahres Versprechungen bei der Geburtshilfe machte, wurde zur selben Zeit dem Harburger Krankenhaus Helios Mariahilf der Status als „Perinatalzentrum Level 2“ entzogen und musste die Station des UKE von der Notfallversorgung häufiger abgemeldet werden, weil es einen Engpass in der Neugeborenenmedizin gab.
Überhaupt wünschen sich auch die Krankenhäuser mehr geglückte Kommunikation mit der Hamburger Politik. Asklepios stieß mit seinen Initiativen zu mehr Digitalisierung bislang auf wenig Resonanz. Wie wichtig neue Technologien für den Kontakt und die Informationsweitergabe zwischen Patient und Arzt und Krankenhaus sind, hat das Coronavirus deutlich gemacht.
Asklepios: Warum Digitalisierung so wichtig ist
Joachim Gemmel, der Sprecher der Geschäftsführung der Asklepios Kliniken Hamburg, sagte dem Abendblatt, es gebe vielfältige Chancen, die Versorgung der Patienten zu verbessern und man erwarte vom Senat jetzt mehr Verständnis und Hilfe: „Wir benötigen finanzielle Unterstützung, um eine gut koordinierte Digitalisierung in Kliniken und den Partnern in der Versorgung voranzutreiben.“ Asklepios hatte schon vor geraumer Zeit eine Art Digitalisierungs-Gipfel aller Beteiligten im Hamburger Gesundheitswesen angeregt. Politische Reaktion damals: abwarten.
Viele Experten erhoffen sich jetzt, dass aus dem Corona-Krisenteam richtige Schlüsse gezogen werden. Gestartet war es holprig. Als das Abendblatt Ende Februar darüber berichtete, dass Hamburg eine Taskforce Corona aufgestellt hat, dementierte der Sprecher der Gesundheitsbehörde das. Zwei Tage später sagte Prüfer-Storcks im NDR, die Taskforce sei schon vor Wochen eingerichtet worden. Möglicherweise gibt es jetzt Chancen für professionelle Kommunikation.