Hamburg. Im Abendblatt-Interview begründet Ties Rabe, warum er für Noten und gegen die Absage von Abschlussprüfungen in der Coronakrise ist.

Vom heutigen Montag an wird es ernst mit dem Neustart des Schulbetriebs nach den coronabedingten Schließungen: Nach und nach kommen rund 35.000 Schülerinnen und Schüler der Abgangs- und Übergangsklassen in die Schulen. Das Abendblatt sprach mit Schulsenator Ties Rabe (SPD) über die pädagogischen Folgen der Beschränkungen und den langen Weg zurück zur Normalität, aber auch darüber, warum er für Noten und gegen die Verschiebung von Prüfungen und warum er manchmal genervt ist von seinen Amtskollegen.

Hamburger Abendblatt: Herr Rabe, niemand weiß genau, wie gut der Neustart funktionieren wird. Haben Sie ein bisschen Bammel vor der Situation?

Ties Rabe: Ehrlicherweise haben mir die letzten Tage sehr, sehr viel Mut gemacht. Was gab es nicht für eine Aufregung rund um das Thema Abitur! Und nun läuft das Abitur bislang absolut reibungslos und erstaunlich problemlos. Ich habe gerade von Schulleitern gehört, dass viele Schüler erleichtert und glücklich in diese Prüfungen gegangen sind. Es gab selten so wenig Ärger mit dem Abitur wie bislang. Wenn es schon bei den Prüfungen so gut läuft, dann bin ich auch optimistisch, dass es im Unterrichtsbetrieb gut laufen wird.

Wie viele Schüler haben denn an den bisherigen Abiprüfungen teilgenommen?

Rabe: Wir hatten erwartet, dass bis zu 20 Prozent der Schüler aus gesundheitlichen Gründen oder aus Angst nicht zum Haupttermin der Prüfung erscheinen würden. Tatsächlich sind es gerade 1,8 Prozent. Das ist fast genau die Zahl des vergangenen Jahres ohne Corona. Die Schüler gehen sehr pragmatisch und gelassen in die Prüfungen.

Um den erforderlichen Abstand zu wahren, soll nur in kleinen Gruppen von höchstens 15 Schülern und abwechselnd unterrichtet werden. Welche Modelle des „Schichtunterrichts“ bevorzugen die Schulen?

Rabe: Wir haben noch keinen genauen Überblick. Viele Schulen machen es aber so, dass die eine Gruppe montags und dienstags, die andere donnerstags und freitags in der Schule ist. Am Mittwoch wird abwechselnd eine der beiden Gruppen unterrichtet. Auch das Modell, dass jeden zweiten Tag Unterricht in der Schule ist, wird von einer Reihe von Schulen gewählt. Wichtig ist, dass die Lehrer am Anfang des Unterrichts mit den Kindern die Regeln besprechen.

Kommt am Ende doch noch der Unterricht am Sonnabend, wie es einige Ihrer Kultusministerkollegen vorschlagen, weil es organisatorisch anders nicht zu wuppen ist?

Rabe: Mich nervt es langsam, dass mit großer spielerischer Freude Politiker alles Mögliche hinterfragen, was seit Jahren zu den Säulen des Schulsystems zählt. Da werden die Sommerferien mal eben zur Diskussion gestellt, dann wird vorgeschlagen, an den Wochenenden zu lernen. Wir haben erst einmal die Pflicht, innerhalb der bewährten Rahmenbedingungen etwas Gutes zu organisieren und nicht mit unausgegorenen Vorschlägen Eltern und Schüler zu erschrecken. Deswegen rede ich über das Wochenende gar nicht. Und Menschen haben ein Recht auf ihren Sommerurlaub. Gerade nach dieser anstrengenden und belastenden Zeit. Das sollten Politiker respektieren.

Wie viele Lehrer haben beantragt, weiterhin von zu Hause aus zu arbeiten, weil sie einer Risikogruppe angehören?

Rabe: Rund 7,5 Prozent aller Lehrkräfte sind 60 Jahre und älter. Die Zahl derer, die eine Risikokrankheit haben, wird sich in einer ähnlichen Größenordnung bewegen. Aber wir haben eine Unbekannte: Wir haben Lehrern zunächst auch zugestanden, von zu Hause aus zu arbeiten, wenn die Partnerin oder der Partner einer Risikogruppe angehört. Ich hoffe, dass am Ende nicht mehr als 10 bis 20 Prozent aller Lehrkräfte für den Präsenzunterricht ausfallen. Mehr kann das Schulsystem nicht verkraften.

Welche Probleme sehen Sie bei der Rückkehr in die Schulen, wo gibt es Engpässe?

Rabe: Die Abstandsregeln lassen sich in den Klassenräumen gut einhalten, aber in den Pausen und auf den Fluren ist das schwieriger. Hier braucht es kluge Regeln und gestaffelte Zeiten. Ein zweites Problem: Ältere Schulen haben zum Teil sehr kleine Klassenräume, in denen die Abstände nur eingehalten werden können, wenn die Klasse nicht in zwei, sondern in drei Lerngruppen geteilt wird. Logistisch ist das noch schwieriger zu organisieren. Und eine weitere Schwierigkeit ist die unterschiedliche Arbeitsbelastung der Lehrkräfte: Klassenlehrer, Mathe- und Deutschlehrer werden künftig sehr beansprucht, während andere Lehrkräfte kaum oder gar nicht vom Präsenzunterricht betroffen sind, wie zum Beispiel Sportlehrer. Hier müssen wir einen Ausgleich hinbekommen.

Nach unseren Informationen ziehen nicht alle Schulen in vollem Umfang mit. Ein Gymnasium will nur die Sechstklässler in der Schule unterrichten, deren Übergang in Klasse sieben gefährdet ist, denen eine Abschulung droht, nicht den ganzen Jahrgang.

Rabe: Das ist nicht zulässig. Die Vorgabe lautet: Jeder Schüler der betroffenen Klassenstufen ist bis zu den Maiferien wenigstens einmal in der Woche in der Schule. Und spätestens nach den Maiferien startet dann das volle Programm. Für die sechsten Klassen heißt das: jeder Schüler! Und nicht nur diejenigen, deren Übergang in Gefahr ist. Die Richtlinien der Schulbehörde sind da sehr klar.

Eltern, auch die Elternkammer, fordern die Absage oder Verschiebung der Prüfungen zum ersten und mittleren Schulabschluss, weil wegen der langen coronabedingten Schulpause die Vorbereitung gerade dieser Schülergruppe zu sehr gelitten habe. In Berlin sind die Prüfungen abgesagt. Warum verfahren Sie nicht genauso?

Rabe: Alle Bundesländer haben sich darauf verständigt, die Prüfungen stattfinden zu lassen. Nur Berlin geht einen Sonderweg. Hamburg hält sich an die Verabredung und wird nicht ausscheren. Und das Abitur zeigt doch sehr klar: Am Anfang waren fast alle gegen die Abiturprüfung, forderten die Verschiebung und machten sich große Sorgen. Und nun läuft das Abitur gut. Wir sollten deshalb gelassen bleiben und uns nicht wegmogeln. Die Prüfung wird gut gehen. Außerdem sind wir den Schülern entgegengekommen: Wer nach der neunten Klasse weiter zur Schule geht – und das sind sehr viele –, der kann den Hauptschulabschluss auch im nächsten Jahr am Ende der zehnten Klasse machen. Doch viele Schüler nehmen dieses Angebot gar nicht an, sondern wollen freiwillig jetzt die Prüfung machen. Das zeigt doch: Man muss auch mal cool bleiben, das geht gut.

Trotzdem nachgefragt: Warum riskieren Sie, dass nun gerade die Schüler aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die auf regulären Präsenzunterricht besonders angewiesen sind, benachteiligt werden?

Rabe: Es stimmt leider, dass Schüler aus sozial schwierigen Verhältnissen in der Schule benachteiligt sind. Das gilt nicht nur jetzt, das gilt generell für Klausuren, Hausaufgaben, Lernverhalten und Abschlussprüfungen. Doch die Antwort kann doch nicht sein, das Leistungsniveau abzusenken, Prüfungen zu streichen und jedem die Note „Eins“ zu geben. Das hilft niemandem, es schadet sogar. Denn in der Schule muss man auch lernen, sich anzustrengen. Wer das nicht lernt, wird es in unserer Leistungsgesellschaft später schwer haben. Schule wird sozial noch ungerechter, wenn sie auf Leistungsansprüche verzichtet. Die richtige Antwort auf soziale Benachteiligung ist, Schüler gezielt zu fördern. Wir tun das. Als einziges Land haben wir – gegen erhebliche Widerstände – die Notbetreuung für alle Schüler geöffnet, nicht nur für Kinder von Polizisten und Feuerwehrleuten. Wir verleihen – auch als einziges Bundesland – Laptops und Tablets an Schüler. Lehrkräfte haben die Pflicht, mit jedem Schüler einmal pro Woche zu telefonieren oder zu skypen, um gezielt zu helfen. Und wir haben jedem die Möglichkeit eröffnet, in der Schule zu lernen, wenn es zu Hause nicht funktioniert.

Eine Rückkehr zu regulärem Schulunterricht wird es in diesem Schuljahr nicht mehr geben. Ihre Hoffnung ist, dass alle Schüler nach den Maiferien wenigstens an einem Tag in der Woche in der Schule sind. Wie regulär ist dieses Schuljahr überhaupt?

Rabe: Es ist ein ungewöhnliches Schuljahr, aber trotzdem ein reguläres. Denn die Noten am Ende des Schuljahres beziehen sich auf das gesamte Schuljahr, das 38 Unterrichtswochen hat, von denen nun einige im Fernunterricht abgelaufen sind. Fernunterricht ist weit mehr als eine E-Mail mit Aufgaben aus dem Lehrbuch. Viele Lehrer geben sich große Mühe, gestalten gute Lernaufgaben, prüfen den Lernfortschritt der Kinder und gewinnen so ein klares Bild vom Lernfortschritt. Es gibt sogar mündliche Prüfungen per Videokonferenz.

Also sind Sie für Noten in dieser Phase?

Rabe: Ja. Fernunterricht ist keine verlorene Zeit, in der man nichts lernt und auch keine Note geben kann. Natürlich ist der Fernunterricht für alle neu, und selbstverständlich darf man da von den Lehrkräften Verständnis und auch etwas Milde erwarten. Deshalb habe ich an die Lehrer appelliert, im Zweifel eher die freundlichere Noten zu geben. Wer aber die ganze Zeit zu Hause Videospiele spielt und den Unterricht kaum mitmacht, dessen Leistung ist dann eben mangelhaft. Die Kraft, das zu bewerten, dürfen Lehrer sich durchaus zutrauen.

Noch einmal zu den Schülern mit schwierigem sozialem Umfeld. Zu Hause wird nicht oder wenig Deutsch gesprochen, es fehlt an digitaler Ausstattung oder es gibt kein eigenes Zimmer. Wie viele Schüler sind Ihrer Einschätzung nach davon betroffen?

Rabe: Man kann schon sagen, dass in Hamburg ein Drittel der Schüler zu Hause schwierige Lernbedingungen hat. Das ist viel. In über 26 Prozent aller Familien wird zu Hause nicht Deutsch gesprochen. Ich sage Ihnen sehr offen: Wir müssen uns alle als Gesellschaft durchaus Sorgen machen, dass diese Zeit ohne Schule zu einer Vergrößerung des Lernabstandes zwischen den Schülern führt. Wir laufen Gefahr, größere Gruppen von Schülern abzuhängen. Wir haben vieles unternommen, um dem entgegenzuarbeiten, und sind da weit vorangekommen. Aber unter dem Strich ersetzt kein Computer und kein YouTube-Filmchen eine im Unterricht anwesende Lehrerin oder einen Lehrer.

Pädagogen und Bildungsexperten schlagen vor, diese Schüler jetzt bevorzugt in die Schulen zurückzuholen. Warum gehen Sie diesen Weg nicht, sondern gehen pauschal jahrgangsweise vor?

Rabe: Ich möchte die Schulöffnung nicht mit einer sozialen Auslese verbinden, aber wir wollen Schüler gezielt fördern, die schwache Leistungen zeigen – egal, aus welcher Familie sie kommen. Deshalb haben wir in der Kultusministerkonferenz vorgeschlagen, dass solche Schüler zusätzlichen Unterricht in der Schule bekommen. Es bedarf allerdings noch der Zustimmung der 16 Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin.

Was bedeutet zusätzlicher Unterricht denn konkret?

Rabe: Wir prüfen, wie diese Schüler nach dem Vorbild unseres Förderunterrichts mehr Stunden im Präsenzunterricht bekommen können.

Wird sich die soziale Schere in der Bildung dank Corona noch weiter öffnen, die Abhängigkeit des schulischen Erfolgs vom Elternhaus noch weiter steigern?

Rabe: Es ist in jedem Fall leichter, die soziale Schere in der Bildung der Schüler mit dem Präsenzunterricht zu verringern. Die Gefahr für eine solche Spaltung ist im Fernunterricht größer. Deshalb müssen wir den Fernunterricht weiterentwickeln und verbessern.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Sie haben den Einsatz und das Engagement der Lehrer in dieser Phase überschwänglich gelobt. Aber muss man nicht kritisch feststellen, dass viele, vor allem ältere Pädagogen mit den Erfordernissen des digitalen Unterrichts überfordert sind?

Rabe: Viele Menschen in unserer Gesellschaft, und sicherlich auch die älteren, sind mit den digitalen Veränderungen überfordert. Das gilt nicht nur für Lehrkräfte. Es ist nicht redlich, wenn immer die Lehrer als Prügelknaben herhalten müssen, als ob sie nicht einmal eine E-Mail versenden können. Diese Erfahrung haben wir in Hamburg nicht gemacht. Unter unseren 22.000 Lehrkräften sind vielleicht einige, die sich das Lob für ihre digitale Kompetenz erst noch erarbeiten müssen. Aber insgesamt bin ich froh und dankbar dafür, was Hamburgs Lehrkräfte im Fernunterricht leisten.

Sehr viele Eltern sind seit Wochen in einer Stress- und Ausnahmesituation – selbst im Homeoffice und dann auch noch Ersatzlehrer für die Kinder. Wie lange halten Sie das eigentlich noch für zumutbar?

Rabe: Das muss sich an den Gefahren orientieren, die mit der Coronakrankheit verbunden sind. Wenn es die nicht gäbe, würde ich den Fernunterricht sofort beenden. Man merkt, dass alle schon sehr durchgescheuert sind. Ich bin froh darüber, dass viele Eltern diese Kraft immer noch aufbringen, und hoffe sehr, dass nach den Maiferien wieder alle Schüler wenigstens einmal in der Woche in der Schule sein können.

Vieles wird sich in den Schulen aufgrund der Coronapandemie in Zukunft ändern. Wird es zu einer neuen Aufgabenverteilung zwischen Schule und Eltern kommen?

Rabe: Ich hoffe nicht. Ich sehe es als Aufgabe der Schulbehörde und der Schulen an, den Unterricht so zu organisieren, dass Eltern nicht von morgens bis abends ihren Kindern helfen müssen. Das dürfen sie gerne, aber wir müssen den Anspruch an uns selbst haben, dass Schüler auch ohne elterliche Hilfe gut lernen. Denn nicht alle Kinder können von ihren Eltern Rückenwind bekommen. Beim Fernunterricht müssen wir deshalb jetzt Schritt für Schritt Qualitätskriterien einziehen, damit die Beanspruchung der Eltern abnimmt.

Die wichtigste Frage lautet: Wann wird es wieder regulären Schulunterricht geben?

Rabe: Wenn es nach mir geht, so schnell wie möglich. Aber wir müssen die Infektionszahlen berücksichtigen. Die Schulen schrittweise öffnen, ja, aber mit Vorsicht. Es wundert mich schon, dass sich die Bundesländer erst mit immer rabiateren Shutdown-Maßnahmen überboten haben, während jetzt der Wettlauf in die andere Richtung zu gehen scheint. Hamburg hat da eher auf Maß und Mitte gesetzt. Die Krankheit ist nicht weg. Deswegen rechne ich auch nicht damit, dass nach den Sommerferien alles wieder so ist wie vor der Coronakrise. Wir werden noch eine Weile mit Fernunterricht und kleinen Lerngruppen leben müssen.

Auf einen Zeitpunkt, wann wieder regulärer Unterricht zu 100 Prozent stattfindet, wollen Sie sich nicht festlegen?

Rabe: Nein. Aber der Zeitpunkt wird kommen.