Niedersachsen. Natalia Merk ist Ukrainerin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Die Rentnerin aus Seevetal hat drei Familien aufgenommen.

Natalia Merks Haus ist voller Leben: Die 67 Jahre alte Ukrainerin, die schon seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt, hat zehn Menschen bei sich aufgenommen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten. Noch vor ein paar Wochen kannten sich die drei Familien nicht, die jetzt in Seevetal auf knapp 200 Quadratmetern zusammenleben. Bei Pfannkuchen und Tee wird gelacht und viel geredet. Doch der Weg hierhin, an den gemütlichen Esstisch im Dachgeschoss, war kein leichter. Zusammengebracht hat sie alle die Angst vor dem Tod.

Merk war selbst in der Ukraine, um ihren an Krebs erkrankten Bruder zu pflegen, als der Angriffskrieg auf ihre Heimat begann. Dann blieb sie Ende Februar bis zu seiner Beerdigung, obwohl die Situation bereits gefährlich war. Am 28. Februar machte sich Merk schließlich auf den Rückweg. Fünf Tage lang war sie unterwegs, schlief zeitweise mit mehreren Menschen im Auto, weil alle Hotels besetzt waren, und hatte Glück, in Polen auf freiwillige Helfer zu treffen, die sie weiter mit nach Deutschland genommen haben. Auf ihrem Weg traf Merk mehrere Bekannte: die Frau ihres Neffens und ehemalige Nachbarn aus ihrem Heimatdorf in der Ostukraine – und lud sie ein, mit in ihr Haus in Seevetal zu kommen, in dem sie seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren allein lebt.

Flucht aus der Ukraine: Unterkunft in Seevetal

Eine von Merks Gästen ist Tatjana. Ihr Heimatdorf liegt in der Nähe von Mariupol, der Stadt, aus der aktuell immer wieder Bilder der Zerstörung um die Welt gehen. Die 33 Jahre alte Bäuerin, die mit Merks Neffen verheiratet ist, hat sich mit ihren Kindern alleine auf den Weg gemacht. Erst ist sie mit einem Lkw getrampt und dann mit dem Zug weitergefahren. Dabei hatte sie nur einen kleinen Koffer mit dem Allernötigsten wie Unterhosen und Shirts für die Kinder. Aus Angst, dass sie mit mehr Gepäck nicht mitgenommen worden wäre.

Neben ihr am Tisch sitzt Maria. „Viele Leute möchten nicht fliehen und sind zuerst nur in die Westukraine gegangen. Sie wollten warten und haben gehofft, dass bald alles vorbei ist und sie zurückkönnen“, erzählt die 36 Jahre alte Näherin aus der westukrainischen Stadt Czernowitz. Auch sie wollte nicht gehen, berichtet von der großen Hilfsbereitschaft ihrer Landsleute: Viele hätten Geflüchtete aus anderen Teilen des Landes bei sich aufgenommen, Essen verteilt und sich um Waisen gekümmert. „Wir sind Ukrainer, so sind wir“, sagt sie. Letztendlich war es die Sorge um ihre eigenen Kinder, wegen der sie floh. Nach Deutschland, wo ihr Mann Sascha, mit dem Merk schon seit Jahren Kleiderspenden in die Ukraine organisiert, gerade als Fahrer gearbeitet hat.

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Täglich erreichen weiter etwa 1000 weitere Geflüchtete aus der Ukraine die Hansestadt. Viele kommen a Hauptbahnhof an.
Von Christoph Heinemann, Ulrich Gassdorf und Johannes Kramer

Große Unterstützung von den Nachbarn

„Alle Leute fahren ins Ungewisse, wissen nicht, wo sie schlafen können. Meine Mutter und ich waren während der Flucht ruhig, weil wir wussten: Bei der ehemaligen Nachbarin meiner Mutter, Natalia, gibt es Platz und Sicherheit für uns und unsere Kinder“, sagt die 31 Jahre alte Ballettlehrerin Anastasia. Sie hat in ihrem Heimatdorf im Osten der Ukraine bis vor Kurzem jeden Tag Sirenen und russische Flugzeuge gehört. Besondere Sorge machte ihr ein nahe liegendes Atomkraftwerk, alle Menschen im Ort hatten Angst vor einer möglichen radioaktiven Verseuchung.

Tatjana, Maria, Anastasia und ihre Kinder haben bei ihrer gemeinsamen Bekannten Merk ein Zuhause für den Übergang gefunden, können hier auf unbestimmte Zeit bleiben – und erhalten große Unterstützung: Über WhatsApp organisieren Merks Nachbarn Badezimmersachen, ein Skateboard für die Kinder oder privaten Deutschunterricht. Die Frauen sind dankbar für die Hilfsbereitschaft in Deutschland, möchten schnell arbeiten und die Sprache lernen, um hier keine Last zu sein. Aber die Situation ist schwer: „Sie können nichts planen, wissen nicht, wie lange sie hier sind. Es geht ihnen nicht gut damit. Und die Kinder fragen, wo Papa ist, sagen, sie möchten mit Papa spielen“, erzählt Merk.

„Sie denken nicht mehr an den Krieg“

Alle telefonieren jeden Tag mit ihren Verwandten und Bekannten, versichern sich immer wieder, dass Anastasias Vater und Tatjanas Mann noch leben. „Die Situation ist schrecklich“, erzählt Merk, deren Sohn und zweiter Bruder ebenfalls in der Ukraine sind. Alle Frauen warten auf die Entscheidung ihrer Angehörigen: Werden sie das Land ebenfalls verlassen? Wird das überhaupt möglich sein?

„Ich habe große Sorge um meinen Sohn. Er sagt, sein Herz würde brechen, wenn er schießen müsste“, sagt Merk. „Wir wollen diesen Krieg nicht. Ich kann nicht glauben, dass er in der heutigen Zeit möglich ist. Wir sind alle Menschen, wir sprechen oft dieselbe Sprache, wir sollten einander helfen und uns lieben.“

Nach dieser Einstellung scheinen Merk und ihre Gäste zu leben: Sie kochen füreinander, machen gemeinsam Reparaturarbeiten am Haus und pflanzen neues Gemüse im Garten. Abends sitzen sie zusammen und lernen beim Uno-Spielen die Farben und Zahlen auf Deutsch. Und während die Erwachsenen am Esstisch sitzen und auf dem Handy Videos von Trümmern in Mariupol anschauen, liegen die Kinder auf den Sofas in der Mitte des Raumes und hören laut Musik. „Für unsere Kinder hier ist das jetzt vorbei“, sagt Merk. „Sie denken nicht mehr an den Krieg.“