Hamburg. Nach einem tragischen Unfall am Elbstrand wurde ein 16-Jähriger lebensgefährlich verletzt. Anklage: versuchter Mord. Über den Prozess.
Am 18. Juni ertrinkt Selcin S., 15 Jahre alt. Der Junge geht an diesem sommerlich-heißen Tag am Elbstrand mit zwei Freunden schwimmen, wird von der Strömung erfasst und verschwindet. Ein Motorbootfahrer sieht drei Tage später bei Wedel eine Leiche im Wasser treiben – nach der Obduktion steht fest: Es ist der vermisste Junge.
Am Donnerstag, ein halbes Jahr später, steht sein Bruder wegen versuchten Mordes vor Gericht. Selciuc S. hat einem Freund seines ertrunkenen Bruders ein Messer in den Rücken gerammt und ihn lebensgefährlich verletzt. Vier Stiche hat die Staatsanwaltschaft angeklagt. Memati I., damals 16, war dabei, als Selcin von der Strömung fortgerissen wurde. Selciuc S. glaubte, dass Memati seinen Bruder hätte retten können, es aber nicht tat – und nahm blutige Rache an ihm.
Prozess Hamburg: „Ich möchte meine Strafe bekommen“
Beim gestern gestarteten Prozess handelt es sich um ein sogenanntes Sicherungsverfahren: Die Staatsanwaltschaft strebt dabei keine Gefängnisstrafe, sondern die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Im Fall von Selciuc S. gibt es offenbar Hinweise darauf, dass er unter hebephrener Schizophrenie leidet.
Kaum hat die Staatsanwältin die Antragsschrift verlesen, bricht es aus ihm heraus: Er habe das alles für seinen Bruder getan. „Ich möchte meine Strafe bekommen“, sagt er. Vor allem aber wolle er „in den Knast“ und nicht ins Krankenhaus. Später sagt er: Er habe keine „Stimmen im Kopf“ gehört, die ihm den Angriff befohlen hätten – nicht vor, nicht während der Tat. Erst in der Haftanstalt, habe er „Stimmen“ gehört.
15-Jähriger von Strömung fortgerissen
Vor Gericht sitzt ein schmächtiger junger Mann. 19 Jahre, Undercut, enges weißes Shirt. Spricht der Beschuldigte rumänisch-türkischer Herkunft deutsch, verstolpert er die Sätze. Immer wieder muss ihn der Vorsitzende Richter Georg Halbach bitten, auf rumänisch fortzufahren. Der Angriff auf Memati, sagt er etwas ungelenk auf deutsch, gehe auf „eine türkische Tradition“ zurück. „Es war Blutrache“, präzisiert er dann auf rumänisch. Dafür, dass der 16-Jährige seinem Bruder in höchster Not nicht geholfen habe, habe er ihn gemäß des „Kodex“ verletzen dürfen, aber eben nicht töten.
Selciuc S. nennt sein Opfer „das Kind“. Am 18. Juni geht Memati zusammen mit Selcin in der Elbe schwimmen. Als sich der 15-Jährige auf Höhe des Falkensteiner Ufers zu weit herauswagt, reißt ihn die Strömung fort. Kurz darauf macht sich ein Großaufgebot auf die Suche nach dem Vermissten. Vergebens.
„Er hätte meinen Bruder retten können“
Memati I. hatte noch versucht, Selcin zu retten. So habe er es erzählt, als er wenige Stunden später bei ihm zuhause aufgetaucht sei, sagt der Beschuldigte. Zunächst habe der 16-Jährige aber behauptet, er sei bei dem Badeunfall gar nicht dabei gewesen. Erst bei einem weiteren Besuch kurz darauf habe er erzählt, dass er Selcin „festgehalten“, dann aber losgelassen habe, um nicht selbst in Lebensgefahr zu geraten. „Das war eine Lüge“, sagt Selciuc S. „Ich war so wütend, er hätte meinen Bruder retten können.“
Die Wut ist auch am nächsten Tag nicht verraucht. Am Nachmittag läuft er, etwas bekifft, zum Kalischerplatz, einem zentralen Treffpunkt junger Migranten im Harburger Phoenix-Viertel. Er rechnet damit, hier auf Memati zu treffen. Er habe den Jungen bestrafen wollen und sei von einer Schlägerei ausgegangen, sagt Selciuc S..
Prozess Hamburg: Opfer lebensgefährlich verletzt
Warum er dann ein Messer eingesteckt habe?, fragt Richter Halbach. „Keine Ahnung, zu meinem Schutz“, sagt der Beschuldigte. Dann habe er Memati gesehen, wie er auf einem Stein saß und einen Döner aß. „Ich habe ihn gefragt „,Wie geht’s’, er sagte ,Gut’“, so Selciuc S. Dass Memati I. so wenig Mitgefühl gezeigt habe, habe seine Wut noch gesteigert. Er habe von hinten am T-Shirt des Jungen gezogen und zugestochen. Er sei sich sicher gewesen, ihn nur einmal am Rücken „erwischt“ zu haben. „Ich wollte ihn nicht kaputt stechen.“
Memati I. erlitt einen beidseitigen Pneumothorax, eine Leber- und eine Rückenmarksverletzung. Eine Not-OP rettete sein Leben, es war knapp. Ob ihm die Tat leid tue, fragt der Richter. „Als ich zugestochen habe, fand ich es richtig“, sagt Selciuc S. Erst in der Haft habe er gemerkt, „dass es falsch war“ – auch, weil ihn die Tat hinter Gitter gebracht habe. Der Prozess wird fortgesetzt.