Hamburg. Pandemie hat die politische Arbeit verändert und Bürgern die Teilnahme erleichtert. Nun wird diskutiert, was davon bleiben soll.

Im Anfang hatten alle so ihre Probleme mit diesem unerwarteten Digitalisierungsschub – sogar der Heiland. So jedenfalls suggerierte es eine dieser Karikaturen, die zu Beginn der Lockdown- und Homeofficezeiten im Internet kursierten. Da sitzt Jesus ein wenig verlassen an seiner großen Abendmahltafel und die Jünger sind per Zoom zugeschaltet. „Sind jetzt alle da? Könnt ihr mich sehen?“, fragt der Messias noch ein wenig ungeübt in die digitale Runde.

15 Monate nach Pandemiebeginn haben sich weltweit Hunderte Millionen Menschen in Zoom-, Teams- oder Skype-Experten verwandelt. Das Virus hat gezeigt, was sich in diesem Leben alles per Videokonferenz erledigen lässt, welche Flüge und Fahrten man sich und der Umwelt ersparen kann – und wie sehr das Digitale auch die politische Arbeit vereinfachen und für mehr Beteiligung in der Demokratie sorgen kann.

 Nach der letzten Bürgerschaftssitzung vor der Sommerpause am vergangenen Mittwoch und dem gestrigen „Digitaltag“ lässt sich mittlerweile eine erste Bilanz ziehen, wie die Corona-Digitalisierung auch Hamburgs Politik verändert hat.

Landespressekonferenz auf YouTube oder Facebook

Schon die nackten Zahlen zeigen, mit welcher Macht das Virus die Welt auch in Behörden und Bürgerschaft verändert hat. Fanden Ende 2019 noch 800 Videokonferenzen pro Tag in Hamburgs Behörden statt, so sind es mittlerweile 8000.

 Mehr als 100-mal tagten Fachausschüsse der Bürgerschaft seit Pandemiebeginn digital und dennoch öffentlich – jeder Interessierte konnte sich zuschalten, wenn die Abgeordneten über neue Verkehrsprojekte, Schulpolitik oder die Finanzen der Stadt berieten und entschieden. Auch die dienstägliche Landespressekonferenz (LPK) über die wichtigsten Senatsentscheidungen verfolgten Zehntausende, seit diese wegen der Pandemie auf YouTube oder Facebook gestreamt werden. So zeigen Senatsauswertungen, dass die LPK im März 2021 bei Facebook von bis zu 85.000 Menschen wahrgenommen wurden. Um die 20.000 Zuschauer schalteten sich pro Konferenz zumindest kurz ein oder sahen einen Teil des Videos.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

„Ich freue mich, wenn wir wieder in die Präsenzform der LPK zurückkehren können, weil der unmittelbare Austausch im Journalismus wichtig ist“, sagt Peter Ulrich Meyer, LPK-Vorsitzender und Leiter der Abendblatt-Landespolitik-Redaktion. „Andererseits sehe ich als großen Vorzug des Live-Streamings an, dass auch unsere Arbeit als Rathausjournalisten sichtbarer geworden ist.“

Linke: „Riesenschritt in Richtung mehr Öffentlichkeit, Transparenz und Beteiligung“

Auch Bürgerschaftsabgeordnete machten die Erfahrung, dass sie im Videoformat mit mehr Wählern ins Gespräch kamen. „Ich habe mit digitalen Veranstaltungen zuletzt deutlich mehr Menschen erreicht als mit Präsenzveranstaltungen. Viele schalten sich schneller mal digital zu, als lange Wege in Kauf zu nehmen“, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion, Dennis Gladiator. „Das kann auch zu mehr demokratischer Partizipation führen.“

Linken-Digitalpolitiker Metin Kaya unterstreicht diesen Aspekt noch dicker: „Etwas Besseres als der Lockdown hätte uns in dieser Hinsicht gar nicht passieren können“, sagt er. „Das letzte Jahr war ein Riesenschritt in Richtung mehr Öffentlichkeit, Transparenz und Beteiligung.“ Bei der SPD ist man nicht ganz so begeistert.

Sitzungen sollen wieder in Präsenz stattfinden

„Die digitalen Prozesse haben dazu beigetragen, dass die Bürgerschaft auch in Hochphasen der Pandemie voll handlungsfähig war“, sagt SPD-Fraktionschef Dirk Kienscharf zwar. Als „Notbehelf“ hätten sich Videokonferenzen für die Ausschüsse bewährt. „Sobald es die Lage zulässt, werden die Sitzungen jedoch wieder in Präsenz stattfinden“, so Kienscherf. „Wir debattieren in den Ausschüssen der Bürgerschaft die Zukunft unserer Stadt – dafür braucht es einen entsprechenden Rahmen.“

SPD-Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit sieht das ähnlich. „Es ist eine Grundlage von Demokratie, dass die gewählten Abgeordneten zusammenkommen und gemeinsam über die Themen beraten“, so Veit. „Dass Ausschusssitzungen oft als Videokonferenzen und häufig im Livestream stattgefunden haben, war eine Ausnahmeregelung für die Pandemie-Zeit. Ob für bestimmte Situationen auch weiterhin diese Ausnahme möglich sein soll, muss beraten werden.“

Unterausschuss soll klären, wie man künftig arbeiten will

Das soll nun wohl vor allem der „Unterausschuss Parlament und Geschäftsordnung“ diskutieren, der sich am kommenden Dienstag konstituiert – zunächst einmal digital. Dabei sind nicht alle für eine radikale Rückkehr zu den Vor-Corona-Zeiten. „Videositzungen führen nach meiner Erfahrung zu einem deutlich effizienteren Arbeiten“, sagt etwa CDU-Mann Gladiator.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

„Ich kann mir vorstellen, dass Hybridsitzungen der neue Standard werden, dass also Teilnehmer bei Präsenzsitzungen dazugeschaltet werden, die nicht vor Ort sein können oder für die diese Art der Teilnahme praktischer ist.“ Brisante Themen sollten aber „wieder in Präsenzsitzungen besprochen werden, dabei ist eine andere Form der Debatte möglich“, so Gladiator. Auch Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg kann sich eine „Hybridform“ des Arbeitens in der Fraktion vorstellen. Zunächst müsse man aber genau darauf schauen, wie sich die Infektionszahlen angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante entwickelten.

Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) will erst einmal dafür sorgen, dem „durch Corona ausgelösten Digitalisierungsschub noch mehr Schubkraft“ zu geben. „Wir stellen dafür in den Jahren 2020 bis 2022 rund 200 Millionen Euro zusätzlich bereit“, sagte Dressel dem Abendblatt. Viel Geld fließe in die digitale Modernisierung von Kliniken, Polizei, Hochschulen und Schulen. Das sei ein „Turbo-Boost“ für die Digitalisierung, formulierte der Senator beim Digitaltag.

Hamburg als Labor für mehr digitale Demokratie?

Dabei weist aber auch Dressel darauf hin, „dass Demokratie von Präsenz lebt“. Er habe sich gefreut, kürzlich endlich wieder an einem Infostand mit Bürgern zu sprechen. „Echte Begegnungen sind nicht zu ersetzen“, so Dressel. „Das heißt aber nicht, dass wir zum Vor-Corona-Zustand zurückkehren werden.“

Das sieht auch CDU-Politiker Gladiator so: „Persönliche Kontakte dürfen nicht darunter leiden, Politik lebt vom persönlichen Gespräch. Man muss beides anbieten.“ Gerade ältere Menschen seien mit digitaler Technik oft überfordert, betonen Abgeordnete parteiübergreifend. Ein Übermaß an digitaler Politik würde sie ausschließen.

Linke: Volk besser schulen

Linken-Politiker Kaya fordert dagegen, das Volk besser zu schulen und auszustatten, um an digitalerer Demokratie teilhaben zu können. „Selbst viele Abgeordnete kommen mit der Technik nicht klar“, beklagt Kaya. „Der nächste Schritt muss sein, allen Bürgern einen einfachen Zugang zum Internet zu gewährleisten – mit entsprechenden Endgeräten, WLAN und Schulungen.“

Womöglich hätte Hamburg ja das Zeug dazu, eine Art Labor für die weitere Stärkung von Demokratie, Transparenz und Bürgerbeteiligung durch die Digitalisierung zu werden. Die Hansestadt war schließlich nicht nur deutscher Vorreiter bei direkter Demokratie und Transparenzgesetz. Sie ist bei der Digitalisierung auch „in vielen Bereichen Spitzenreiter in Deutschland“, wie SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher in seinem Grußwort zum Digitaltag betonte – und zwar „bei schnellem Internet, Glasfasernetz, digitaler Ausstattung unserer Schulen und den Online-Dienstleistungen“.

Dramatische Veränderungen

Da passt es, dass Senatskanzleichef Jan Pörksen (SPD) am kommenden Mittwoch die Sitzung des IT-Planungsrates von Bund und Ländern leitet, bei der wegweisende Entscheidungen für „Verwaltungsmodernisierung, Bürokratieabbau und einen Kulturwandel im öffentlichen Sektor“ fallen könnten, wie es heißt. Erst die Pandemie habe dafür die Möglichkeiten eröffnet – weil jetzt der Wille zu echten Veränderungen da sei, ebenso wie das nötige Geld.

„Corona wird dramatische Veränderungen hinterlassen“, prognostiziert Finanzsenator Dressel schon jetzt. „Wie sich das Analoge und das Digitale dabei austarieren – das wird eine der spannendsten Fragen der nächsten Zeit.“