Hamburg/Berlin. Weinberg, Rüdiger Kruse und Matthias Bartke gehörten (zusammen) 36 Jahre dem Parlament an. Nach den Wahlen hieß es: Was kommt jetzt?

Sie sind erfahrene Parlamentarier und hätten gern weitergemacht, aber die Wählerinnen und Wähler haben anders entschieden: Marcus Weinberg (16 Jahre im Bundestag), Rüdiger Kruse (zwölf Jahre, beide CDU) und Matthias Bartke (acht Jahre, SPD) gehören dem Parlament seit Ende Oktober 2021 nicht mehr an. Ein Gespräch über das, was nach dem Bundestag kommt.

Hamburger Abendblatt: Wie war Ihre Gefühlslage, als klar war, dass Sie nicht mehr dem nächsten Bundestag angehören werden? Was ging Ihnen durch den Kopf?

Matthias Bartke: Die Gefühlslage war mäßig. Im Vorfeld war es für mich schon ein Wechselbad der Gefühle. Als die SPD im Juli immer noch bei etwa 16 Prozent dümpelte, habe ich eigentlich meine Perspektive für das Mandat negativ eingeschätzt. Aber dann gab es ja eine fulminante Aufholjagd, und alle Umfrageinstitute haben den Wahlkreis Altona als sicher für die SPD angesehen.

Rüdiger Kruse: Spätestens nach der Änderung des Wahlrechts war klar, dass die Hamburger CDU nicht wieder vier Abgeordnete in den Bundestag entsenden würde. Für mich hieß das: Es musste der Wahlkreis sein. In Eimsbüttel betrug der Abstand zur SPD immer so um die drei Prozent. Bis zur Sommerpause war das zwar sportlich, aber machbar. Dann hat sich die Lage geändert, und am Ende ist unser Ergebnis in Hamburg überraschend stark ins Negative gegangen. Die Nachricht selbst, dass es nicht gereicht hat, war keine absolute Schmerzsituation. Das kommt erst hinterher. Dann blickt man auf einen sich löschenden Terminkalender und hat viel Zeit nachzudenken.

Herr Kruse, Sie haben einen ungewöhnlich eigenständigen Wahlkampf mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit geführt, unabhängig von der Bundespartei und teilweise auch von Landespartei. War das im Nachhinein richtig?

Kruse: Es war richtig, aber es war egal. Es wäre anders auch nicht anders ausgegangen. Frecherweise hätte man auch gar keinen Wahlkampf machen müssen. Es gab einen Punkt, an dem sich die Stimmung so gedreht hatte, dass es eine bundespolitische Entscheidung war und nicht mehr um einzelne Kandidaten in den Wahlkreisen ging.

Herr Weinberg, wie war es bei Ihnen?

Marcus Weinberg: Erwartet enttäuscht, würde ich sagen. Es war eigentlich schon Wochen vorher klar, dass es bei mir im Wahlkreis Altona nicht klappen würde. Trotzdem denkt man im Wahlkampf von Tag zu Tag und verdrängt alles auch ein bisschen. Dann kommt der Schnitt, und man denkt plötzlich darüber nach, was man in den nächsten Jahren machen will. Ich hätte gern weitergemacht. Das Entscheidende ist wahrscheinlich die „Fremdbestimmtheit“ durch den Wählerwillen in dieser Situation. Wahrscheinlich wäre die Gefühlslage eine andere, wenn man selbstbestimmt gesagt hätte, ich kandidiere nicht mehr.

Bartke: Das ist gut formuliert. Das Fremdbestimmte des Aufhörens war das Missliche. Das war von hundert auf null, und ich habe tendenziell nicht damit gerechnet, dass es passiert. Dennoch war mir natürlich klar, dass es in Altona ein großes grünes Potenzial gibt.

Herr Weinberg, Herr Kruse, Sie hatten gar keinen bzw. keinen sicheren Listenplatz. Verspüren Sie jetzt Ressentiments gegenüber dem einen oder anderen in Ihrer Partei?

Weinberg: Es gab manchmal das Gefühl, dass eine andere Unterstützung denkbar gewesen wäre. Das ist manchmal auch eine Stilfrage oder eine Charakterfrage. Ich war Mitglied im Bundes- und Fraktionsvorstand, und ich hatte das vierthöchste Amt im Staate inne – ich war Kapitän des FC Bundestages. (lacht) Das war bis 2019. Dann geht man 2021 zwar hochmotiviert in den Wahlkampf, aber nur im Wahlkreis, nicht mehr auf der Liste. Das ist schon ein Bruch innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne.

Kruse: Wenn ich Groll empfinden würde, würde ich mein Leben beschweren und nicht das Leben derjenigen, denen gegenüber ich Groll empfinden würde. Das ist nicht meine Strategie, weil es auch nichts ändert. Hätte ich zu mehr Grillfesten in der Partei in anderen Kreisverbänden gehen sollen? Aber man muss es auch einmal so sehen: Zwölf Jahre sind schon mehr als die durchschnittliche Überlebensquote. Und: Wenn man sich immer anpasst an die gerade angesagte Meinung, dann erreicht man ja auch nichts. Insofern ist die Bilanz so besser, und ein anderes Verhalten hätte nicht zwingend dazu geführt, dass man die letzte Runde auch noch bekommt.

Weinberg: Ich bin für die 16 Jahre dankbar. Die Partei gibt und die Partei nimmt, der Satz ist schon wahr. Ich sehe rückblickend immer mehr das Positive.

Herr Bartke, Sie können sich nicht bei der eigenen Partei beklagen ...

Bartke: Bei mir war es so, dass ich nach der Nicht-Wiederwahl unglaublich viele Messages, WhatsApps und E-Mails bekam. Alle sagten, es sei ja so furchtbar, dass ich nicht mehr im Bundestag bin. Was ich auch fand. Ich habe alle beantwortet, was meine Stimmung nicht gehoben hat. Andererseits war das auch eine wunderbare Bestätigung für meine Arbeit. In der ersten Zeit überwog die Trauer, nicht weitermachen zu können. Später wird eine große Dankbarkeit überwiegen.

War es das jetzt mit Ihren politischen Karrieren?

Kruse: Die Frage beantwortet schon das Schicksal von Friedrich Merz. Es ist immer erst dann zu Ende, wenn derjenige tot ist und die Todesanzeige im Abendblatt vergilbt. Man bleibt ein politisches Tier. Unsere Partei braucht jetzt inhaltliche Beiträge von Marcus Weinberg und mir. Und dann muss man gucken, was kommt.

Herr Weinberg, Sie haben ja nach wie vor Parteiämter inne. Sie sind CDU-Kreisvorsitzender in Altona und Ortsvorsitzender in Ottensen/Bahrenfeld.

Weinberg: Ich werde weiter politisch sein und mich einbringen. Ich kann gar nicht anders. Aber die Struktur, die Formation wird sich verändern. Ich werde mich persönlich neu aufstellen. In den nächsten Monaten wird es zu Veränderungen kommen, auch was die Funktionen angeht, die Sie ansprechen.

Bartke: Ich habe sehr bewusst nicht erneut als stellvertretender Landesvorsitzender der SPD kandidiert, weil ich fand, dass jüngere Leute ranmüssen. Als Sozialdemokrat trittst du erst aus der Partei aus, wenn du stirbst. Die SPD wird für mich immer eine gewisse Heimat sein. Nicht in der SPD aktiv zu sein ist für mich nicht vorstellbar.

Der Bundestag sitzt im Reichstagsgebäude in Berlin. 
Der Bundestag sitzt im Reichstagsgebäude in Berlin.  © FUNKE Foto Services | Joerg Krauthoefer

Worin besteht das Aktivsein?

Bartke: Momentan besteht es ehrlicherweise in gar nichts. Ich habe für mich erst mal einen Strich gezogen und muss sehen, wie es beruflich für mich weitergeht. Ansonsten wird es der Kreisverband Altona sein, in dem ich aktiv sein werde, aber nicht mehr auf Landesebene.

Stichwort berufliche Tätigkeit: Herr Weinberg, Sie hatten angekündigt, erst einmal eine Auszeit zu nehmen.

Weinberg: Es war wichtig, nach dem Wahlkampf herunterzukommen. Bei mir ist es so, dass ich jetzt als Partner bei der Hamburger Agentur Guru eingetreten bin. Wir machen strategische Beratung, Kampagnenentwicklung. Nach den Erfahrungen in der Politik waren für mich Professionalität, Kreativität, ein sympathisches Team und gesellschaftlicher Spirit wichtig. Und das ist in der Agentur gegeben. Ich werde für den Bereich Public Affairs, also die Kontakte in die Politik, verantwortlich sein.

Kruse: Ich habe mir bis Ostern Zeit gegeben. Bis dahin lege ich mich nicht fest, auch nicht inhaltlich. Es wird aber nichts sein, wo man nur von 9 bis 17 Uhr arbeitet und sich freut, dass man so die Zeit bis zur Rente überbrückt. Es soll eine Aufgabe sein, von der ich mir vorstellen kann, sie die nächsten zehn Jahre auch auszufüllen. Sie muss in den Kanon passen, den man mit dem Begriff der Nachhaltigkeit beschreibt. Und sie muss mich inhaltlich reizen. Dazu zählt auch der Bereich der Kultur. Es freut einen natürlich auch, wenn Leute zwei Tage nach der Wahl anrufen und einen Job anbieten. Den muss man nicht annehmen, aber es zeigt eine Wertschätzung.

Bartke: Bei einem Urlaub in Griechenland habe ich erst einmal den Kopf freibekommen. Was mir dabei erstmals aufgefallen ist, wie sehr mich die aggressiven und polemischen Schreiben – und das waren als Abgeordneter knapp 100 am Tag – belastet haben. Eine Kollegin ist wegen dieser Belastung zur Wahl nicht mehr angetreten. Dass ich diesen Schmutz nicht mehr bekomme, der gern begann mit „Sie Trottel“ oder „Sie Idiot“, hat mein emotionales Wohlbefinden gesteigert. Zurück in Hamburg habe ich mich dann meinem wichtigsten Ehrenamt gewidmet: Ich bin Vorsitzender der Hamburger Lebenshilfe. Da liegt derzeit viel an. Beruflich ist bei mir noch nicht klar, wie es weitergeht. Ich war bis zu meiner Abgeordnetentätigkeit Leitender Regierungsdirektor in der Sozialbehörde und zuletzt Leiter der Rechtsabteilung. Das habe ich immer total gern gemacht. Gut möglich, dass ich in den Staatsdienst zurückkehre. Aber das ist noch nicht entschieden.

Sie haben gerade gesagt, was Sie nicht vermissen. Aber was vermissen Sie denn?

Bartke: Was ich vermisse, ist, dass Leute in einem so etwas wie einen Hoffnungsträger sehen, dass sie sich mit einem Problem melden und hoffen, dass man das lösen kann. Und wir haben viel erreicht. Allein der Briefkopf mit Bundesadler hat bei vielen Adressaten eine positive Grundstimmung ausgelöst zu helfen. Anderen Menschen ihre großen Sorgen zu lösen ist schon ein sehr glücksbringendes und befriedigendes Gefühl.

Gibt es das Gefühl des Bedeutungsverlusts?

Bartke: Das weiß ich nicht. Es war auf jeden Fall eine unglaublich intensive Arbeit, die wir geleistet haben.

Kruse (der als Mitglied des Haushaltsausschusses mit Millionen-Zuschüssen Kulturförderung betrieb): Man muss unterscheiden zwischen der Person und dem Amt. Das sind zwei verschiedene Dinge. Das Amt ist weg. Wenn ich Leute treffe, reden wir wie zuvor und haben den gleichen Spaß wie zuvor. Der Unterschied ist natürlich, das ich jetzt finanziell nichts machen kann. Es war für mich immer ein Reiz, Sachen zu ermöglichen. Der Bundestag bietet da wunderbare Chancen. Das kann man aber auch woanders. Insofern: Ich vermisse nichts, auch weil die Zeit sehr erfüllt war. Vermissen würde ich die Bedeutung, wenn ich keine Zukunftsperspektive hätte. Die zwölf Jahre waren eine Superphase, es hätten auch gern 16 werden können oder 20. Aber jetzt kommt etwas anders.

Weinberg: Zum Bedeutungsverlust: Wir sind ja nicht vom Himmel abgestiegen zurück auf die Erde. Wir waren und wir sind Teil des normalen Lebens. Für mich ist die Frage entscheidend: Was bleibt? Wir haben viel bewegt. Briefe, wie sie Matthias Bartke beschreibt, haben wir alle bekommen. Ich war familienpolitischer Sprecher der Union. Eltern haben sich gemeldet, die ihre Kinder nicht mehr sehen durften, oder Großeltern ihre Enkel. Es gab Briefe, da hätten sie heulen können. Was bleibt? Wir konnten helfen. Zum Beispiel, indem eigene Formulierungen in Gesetzestexte eingeflossen sind im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Stolz trifft es nicht, aber es war schon schön, positive Dinge mitbewegt zu haben. Ich konnte Dinge verändern. Und damit möchte ich gern weitermachen – und etwas für Kinder- und Jugendliche tun.

Jetzt haben Sie einige Argumente dafür geliefert, dass es doch das Gefühl des Bedeutungsverlustes gibt.

Bartke: Ich bin dankbar, dass ich nicht in ganz jungen Jahren in den Bundestag gewählt wurde. In meinem Alter kann man das Aus ganz anders verarbeiten. Wenn Menschen Sie hofieren, machen sie es nicht, weil Sie ein netter Kerl sind. Sie machen es wegen des Amtes als Bundestagsabgeordneter.

Wie sah Ihr Abschied in Berlin aus?

Bartke: In Berlin herrschte nach der Wahl Aufbruchstimmung, nur du gehörst nicht mehr dazu. Das muss man erst verarbeiten. Ich habe am Tag nach der Wahl mit unserem Fraktionschef Rolf Mützenich telefoniert, aber mich noch nicht von der Fraktion selbst verabschiedet. Das steht noch aus. Ich habe aber alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hamburg und Berlin in die Parlamentarische Gesellschaft eingeladen. Das war ein sehr schöner Abschluss.

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Weinberg: Die Verabschiedung auf Berliner Bühne ist leider noch verschoben. In der Union gibt es eine eigene Arbeitsgruppe Familie, der ich als familienpolitischer Sprecher angehörte. Wir waren 18 Abgeordnete, hinzu kamen die Mitarbeiter. Die Idee war, dass wir uns noch einmal alle treffen, das hat wegen Corona leider nicht geklappt. Dann habe ich mit unserem Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus gesprochen, dass die Ehemaligen zur Weihnachtsfeier der Fraktion eingeladen werden. Die wurde auch abgesagt. Das ist bitter und traurig. Ich habe mich zumindest mit meinem Wahlkreisteam noch einmal getroffen. Beim Aussortieren der Unterlagen habe ich das eine oder andere, muss ich gestehen, archiviert. Vielleicht kann ich es ja nochmals gebrauchen. Zum Beispiel für das neue Grundsatzprogramm der CDU. (lacht)

Kruse: Ich habe recht zügig mein Büro geleert. Das nicht zu tun wäre unfair gegenüber den Leuten, die nachkommen. Und es wäre auch ein schwieriger Prozess, wenn sich das lange hinziehen würde. Dann habe ich entschieden, mir die E-Mails aus diesen zwölf Jahren nicht ausdrucken und sie stattdessen löschen zu lassen. Von den Mitarbeitern habe ich mich persönlich verabschiedet. So groß sind die Teams ja auch nicht, das ging also auch unter Corona-Bedingungen. Alle haben auch einen neuen Job gefunden, da konnte ich was machen. Beim Zapfenstreich für AKK (Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die Red.) habe ich mich in die Kälte gesetzt und gedacht: Das ist jetzt dein Zapfenstreich! Das Bittere war, dass wir so knapp die Regierungsführung verloren haben. Das tut weh. Vor allem tut es weh, wenn nicht die hohe Qualität des Gegners wahlentscheidend war, sondern die eigene Unfähigkeit.