Hamburg. Alle wollen aus Fehlern für die nächste Pandemie lernen. Wie und wo das geschehen soll, darüber streitet die Politik.

Es gehört nicht zu den größten Leidenschaften von Politikern, Fehler zuzugeben. Mit Selbstkritik schade man sich nur, so die feste Überzeugung der meisten Regierenden. Angela Merkel findet ihre Russlandpolitik auch im Rückblick völlig richtig, wie sie kürzlich bekräftigte – egal, wie tief sie Deutschland in die Abhängigkeit von Putin manövriert hat. Merkels SPD-Double Olaf Scholz ist sowieso klüger als alle anderen Erdenbürger zusammen – wohl deswegen lässt er sich selten dazu herab, seine Entscheidungen dem Volk nachvollziehbar zu erklären.

Stattdessen kanzlert König Olaf Menschen, die seine Politik hinterfragen, in Interviews gern mal als „Jungs und Mädels“ ab. Nun hat vor einiger Zeit auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher angedeutet, dass Fehler ihm offenbar fremd sind. Bei der Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen sagte der SPD-Politiker rückblickend auf gut zwei Jahre Pandemie: „Ich bin mit allen Entscheidungen und Empfehlungen im Reinen.“

Corona Hamburg: Linke fordert Enquete-Kommission

Dass ein führender Politiker in einer jahrelangen Ausnahmesituation nichts falsch gemacht haben will – das dürfte vielen als eine eher weltfremde Annahme erscheinen. So ging es in dieser Woche auch Abgeordneten in der Hamburger Bürgerschaft. „Wie man so jegliche Selbstkritik und Reflexion vermissen lassen kann, das hat mich schon überrascht“, quittierte der Linken-Gesundheitspolitiker Deniz Celik die Selbstgewissheit des Bürgermeisters in einer Rede am Mittwoch. „Das zeigt, dass wir eine solche mangelnde Fehlerkultur überwinden müssen, damit wir Lehren ziehen können.“

Anlass der Debatte war die Forderung der Linken nach Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Hamburger Pandemiepolitik. Darin sollten die Abgeordneten zusammen mit Wissenschaftlern genau klären, welche Schwächen es zu Beginn der Pandemie gab, welche Maßnahmen wie gewirkt haben, was in der Rückschau unzureichend und was überzogen gewesen ist. Eine baldige Aufarbeitung sei wichtig, so Celik. „Denn dass es zu weiteren Pandemien kommen wird, ist keine Frage des Ob, sondern lediglich des Wie und Wann.“

Rot-Grün lehnt Enquete-Kommission ab

SPD und Grüne lehnten den Vorschlag trotzdem ab. Sie verwiesen darauf, dass ein vom Bund eingesetzter Sachverständigenausschuss sich des Themas angenommen habe und bald seinen Bericht vorlegen werde. „Es ist nicht zielführend, dass das jedes Land vorher für sich selbst macht“, sagte SPD-Fraktionsvize Ksenija Bekeris. Und Grünen-Gesundheitspolitikerin Gudrun Schittek fragte ironisch, ob es den Bürgern denn helfe, wenn man jetzt durch eine Analyse seiner Pandemie-Politik „dem Senat ein Zeugnis ausstellt“. Als ob es darum ginge.

Dass Regierungen und die sie tragenden Fraktionen eine Begutachtung ihrer konkreten Arbeit nicht gerade herbeisehnen, ist nachvollziehbar. Es könnte ja herauskommen, dass etwas nicht perfekt gelaufen ist – was die Illusion von den fehlerfreien Führungskräften zerstören könnte. Darum aber geht es nicht. Es geht nicht um die Eitelkeiten Einzelner, sondern um den Schutz von Gesundheit, Einkommen und Bildungschancen für eine ganze Gesellschaft – konkret um die Frage, was man aus dieser Pandemie lernen kann, damit man für die nächste besser gewappnet ist.

Rot-Grün verweist auf den Bund

Es ist für Rot-Grün natürlich praktisch, nun erst einmal auf den Bund verweisen zu können, denn dort wird sicher nicht auf Hamburger Besonderheiten in der Pandemiebekämpfung geschaut – es ist also für den Senat nichts zu befürchten. Zugleich wirkt der Verweis auf die Berliner Gremien seltsam paradox. Bekanntlich hat der Föderalismus in der Pandemie eine ziemlich zwiespältige Rolle gespielt.

Jedes Bundesland hat seine eigenen Verordnungen gemacht, überall galten andere Regeln, hier gab es Maskenpflicht, dort nicht, in manchen Ländern wurden Ausgangssperren verhängt, anderswo nicht. Nun aber soll der Bund eine einheitliche Fehleranalyse für alle vorlegen – dazu noch mit wenig Personal und unter Zeitdruck? Kürzlich durchgesickerte Papiere aus dem Sachverständigenausschuss machten laut „Süddeutscher Zeitung“ keinen durchweg hochwertigen Eindruck – und wenig Hoffnung auf wirklich valide neue Erkenntnisse.

Evaluation der Corona-Maßnahmen in Hamburg "dringend" nötig

„Kaum irgendwo in Deutschland waren die Corona-Maßnahmen so lang andauernd und rigide wie in Hamburg“, sagte die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein in der Debatte am Mittwoch. „Dass dies der Pandemie besser entgegengewirkt hat als ein zurückhaltender Kurs, ist aber nicht zu erkennen. Allein deshalb bedarf es dringend einer Evaluation der Corona-Maßnahmen des Senats.“

Rot-Grün aber mauere, „offensichtlich aus Angst vor der Erkenntnis, dass die erheblichen Grundrechtseinschränkungen mindestens teilweise unnütz und unverhältnismäßig waren“. Die FDP-Politikerin plädierte für einen „knackigen kurzen Sonderausschuss“ statt einer „mehrjährigen Enquete-Kommission“.

Dennis Gladiator: Enquete-Kommission dauert zu lange

Auch CDU-Innenpolitiker Dennis Gladiator forderte, die Erfahrungen in Hamburg aufzuarbeiten. Eine Enquete-Kommission dauere aber zu lange, besser sei es, diese Arbeit im Gesundheitsausschuss zu leisten. Am Ende verfehlte der Linken-Antrag auch das für die Einrichtung einer Enquete-Kommission nötige Quorum von einem Fünftel der Abgeordneten.

Dennis Gladiator (CDU) wird von Antisemiten angefeindet.
Dennis Gladiator (CDU) spricht sich dafür aus, die Corona-Erfahrungen aufzuarbeiten (Archivbild). © Michael Rauhe | Unbekannt

Damit bleibt vorerst unklar, ob die Hamburger Erfahrungen jemals zentral und zusammenhängend aufgearbeitet werden, um Lehren daraus zu ziehen. In der Behörde von Sozial- und Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) hält man den Zeitpunkt für eine systematische und zentrale Aufarbeitung sowieso noch nicht für gekommen. Zwar würden „auf verschiedenen Ebenen Überlegungen angestellt, welche Maßnahmen sinnvoll waren, weiter erforderlich sein werden und welche Ableitungen für die Zukunft daraus zu ziehen sein werden“, so die Behörde. Für eine abschließende Bewertung sei es aber zu früh, zumal dafür auch keine wissenschaftliche Basis vorliege.

„Eine Pandemie entzieht sich der Planbarkeit"

Leonhard selbst weist auf ein grundsätzliches Problem hin. „Eine Pandemie entzieht sich der Planbarkeit, die wir uns alle oft wünschen würden – immer wieder gibt es neue, unplanbare Entwicklungen“, sagte die Senatorin dem Abendblatt. „Die Aufgabe der Politik geht in diesem Momentum der Krise darüber hinaus, vorgeplante Maßnahmen umzusetzen. Sie besteht vielmehr darin, geeignete Reaktionen abzuwägen und anschließend Entscheidungen zu treffen und dann auch zu verantworten.“

Oft müsse auch nachjustiert werden. Das gelte derzeit etwa dafür, „dass Bildungseinrichtungen geöffnet bleiben, aber auch, dass wir für eine möglicherweise erneut steigende Nachfrage an Impfungen vorbereitet sind, indem die Stadt auch weiterhin Impfzentren in Betrieb hält, die in ihrer Kapazität kurzfristig stark ausgeweitet werden können“. Zudem warnt Leonhard: „Die Pandemie ist noch nicht vorbei – und um einen Schlussstrich zu ziehen, ist es noch zu früh.“

Corona: Zu wenig Schutzkleidung in Hamburg

Auch ohne systematische Bewertung liegen einige mögliche Schwächen der Hamburger Pandemiepolitik bereits auf der Hand. So gab es, wie fast überall, auch in Hamburg und selbst in den renommierten Kliniken offenkundig viel zu wenig Schutzkleidung und Masken. Mit der öffentlichen Kommunikation wurden bestimmte Gruppen für lange Zeit kaum erreicht – etwa Menschen mit Migrationshintergrund. Auch die Datenerhebung blieb bis zum Ende suboptimal, und die Kontaktverfolgung litt neben fehlenden Daten zeitweilig auch an knappem Personal.

Bei der digitalen Infrastruktur in Gesundheitsapparat und Schulen erwies sich Deutschland fast als Entwicklungsland. Warum all das so war und welche konkreten Lehren zu ziehen wären, das müsste allerdings differenzierter geklärt werden – auch welche Rolle der Föderalismus spielte oder ob die lange Schließung von Schulen mehr Schaden angerichtet als bei der Pandemiebekämpfung geholfen hat.

„Es war schlecht, die Schulen so lange zu schließen“

„Es war schlecht, die Schulen so lange zu schließen“, sagte der Hamburger Ärztekammer-Präsident Pedram Emami dem Abendblatt. Man habe teilweise „Strategien angewandt, die aus der Zeit der Pest stammen“ – also flächendeckende Kontaktbeschränkungen statt gezieltem Schutz für anfällige Menschen. Das Ergebnis der zu langen Schulschließungen sei „paradox“ gewesen, so Emami. „Kinder und Jugendliche haben massiv unter dem Lockdown und den Schulschließungen gelitten, aber es sind gleichzeitig trotzdem sehr viele Bewohner in Pflegeheimen gestorben.“

Man hätte „viel gezielter die vulnerablen Gruppen schützen müssen“, so der Neurochirug. „Man darf solche Fragen nicht nur rein virologisch betrachten, man muss sie epidemiologisch abwägen – also mit dem Blick auf die Gesamtsituation in einer Bevölkerung. Wir kaufen mit jeder Maßnahme immer auch Nachteile ein. Wenn diese sogar überwiegen, ist die Maßnahme nicht sinnvoll. Um es plastisch zu machen: Wenn wir einen Tumor mit fünffacher Dosis bestrahlen, ist der Tumor sicher weg – aber der Patient tot.“

„Wir waren hier immer stringent“

Dabei gibt es vom Ärztekammer-Präsidenten auch Lob für die Hamburger Pandemiepolitik. „Wir waren hier immer stringent“, so Emami. „Wenn etwas sinnvoll ist, muss man es auch durchhalten, das haben wir gemacht, etwa bei der Maskenpflicht.“ Auch der langjährige Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH), Walter Plassmann, findet keineswegs, dass alles schlecht gelaufen ist. „Am besten war die Zusammenarbeit mit der Behörde“, so Plassmann. Der dortige Corona-Stab habe sehr gute Arbeit geleistet.

Allerdings hat der im Frühjahr ausgeschiedene langjährige KVH-Chef auch einiges zu kritisieren. So hätte man phasenweise „mehr Ruhe, Klarheit und Einfachheit bei den Maßnahmen“ gebraucht, sagte Plassmann. Es sei völlig unverständlich gewesen, warum auf manchen Straßen für ein paar Hundert Meter Maskenpflicht gegolten habe und direkt daneben nicht mehr. Auch brauche man für die Zukunft aktuellere und bessere Zahlen zur richtigen Bewertung der pandemischen Lage.

Rabe hinterfragt Schulschließungen und lobt Digitalisierungsschub

Eine systematische Rückschau halten sowohl Plassmann wie Emami für sinnvoll. „Vieles war improvisiert“, so Plassmann. Zumindest „zwei, drei Kernfragen“ müsse man sich „in der Rückbetrachtung noch einmal genauer anschauen“, sagt auch Emami. „Dabei könnte es etwa um die Impfkampagne gehen oder um den Schutz der Bewohner von Pflegeheimen.“

Auch Schulsenator Ties Rabe blickt mit etwas zeitlichem Abstand differenziert auf das Thema Schulschließungen. „Immer mehr Bildungs- und Sozialstudien zeigen heute die dramatischen Probleme auf, die die Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen bei vielen Kindern und Jugendlichen verursacht haben“, sagte Rabe dem Abendblatt. „Deshalb müssen wir uns kritisch mit der Frage befassen, ob der deutsche Sonderweg mit den häufigsten Schulschließungen aller westeuropäischen Länder wirklich richtig war.“

Schulsenator Ties Rabe hat seine neuen Pläne für eine Bildungsreform in Hamburg vorgestellt und erhält Kritik.
Schulsenator Ties Rabe hat die Schulschließungen in Hamburg hinterfragt. © Funke Foto Service | Mark Sandten

Corona-Pandemie: Hamburger Kliniken ziehen eigene Schlüsse

Gleichzeitig habe die Pandemie „Schwierigkeiten bei der Digitalisierung von Schule und Unterricht aufgezeigt“, so Rabe. Allerdings habe sie auch „die Digitalisierung kraftvoll angeschoben und bei allen Beteiligten auch die Bereitschaft verstärkt, sich auf die neuen Aufgaben der Digitalisierung einzulassen“, so der Schulsenator. „Für den Entwicklungsfortschritt der letzten beiden Jahre hätten wir ohne die Corona-Pandemie sicher die doppelte oder dreifache Zeit gebraucht.“

In Hamburger Kliniken hat man derweil bereits einige eigenen Schlüsse gezogen. So stellte das UKE nach eigenen Angaben im Dezember 2021 einen „Bericht zum Management der SARS-CoV2-Pandemie am UKE 2020/2021“ fertig. Das laut Klinikum rund 160 Seiten starke Papier bündelt Dutzende Aufsätze und befasst sich auch mit den Konsequenzen aus dem Corona-Ausbruch auf der Krebsstation des Universitätsklinikums im Frühjahr 2020, bei dem elf Menschen dem Virus zum Opfer fielen.

Asklepios sieht auch Verbesserungsbedarf

Im Klinikkonzern Asklepios ist man zufrieden mit der eigenen Arbeit in schwierigen Zeiten – sieht aber auch Verbesserungsbedarf. „Wünschen würden wir uns für die Zukunft eine bessere, eine koordinierte Abstimmung und Kommunikation der Gesundheitsämter in Hygienefragen, denn da gibt es ganz sicher Nachholbedarf“, sagte der medizinische Vorstand Prof. Christoph U. Herborn dem Abendblatt

Mithin: Es gibt zwar an allen Ecken und Enden lose Ansätze einer Aufarbeitung der Pandemie. Ob und wann es aber auch zu einer systematischen Evaluation der Corona-Politik kommt, ist offen. „Der Gesundheitsausschuss der Bürgerschaft muss die Versäumnisse konsequent aufarbeiten und den rot-grünen Senat auffordern, einen aktualisierten Pandemieplan zu entwickeln, um für die Zukunft besser vorbereitet zu sein“, sagte CDU-Fraktionschef Dennis Thering dem Abendblatt.

Corona Hamburg: Aufarbeitung vor nächster Welle nötig

„Um relevante Erkenntnisse zu erhalten und aus Fehlern zu lernen, ist eine sorgfältige Aufarbeitung der Pandemiebekämpfung wichtig“, betont auch Michael Gwosdz, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion. Sobald die Erkenntnisse der Berliner Experten vorlägen, werde man sie „im Gesundheitsausschuss intensiv diskutieren“, so Gwosdz.

Dann allerdings kommt schon die Sommerpause – und danach droht der dritte Pandemieherbst, der nicht unbedingt virale Entspannung verspricht und die Politik vom Aufarbeiten bisheriger Fehler abhalten könnte. Während es jetzt also manchen zu früh für eine differenzierte Evaluation der Pandemiepolitik ist, könnte es bald schon zu spät sein. So unvorbereitet, wie wir jetzt womöglich wieder in den bereits dritten Coronawinter laufen, rennen wir dann womöglich auch in die nächste Pandemie. Und die könnte – wenn es schlecht läuft – schneller beginnen als Politiker sich dreimal selbst gelobt haben.