Hamburg. Vor 40 Jahren wurde das Hanseviertel eröffnet. Die Passage krönte einen Boom. Glaskuppeln erzeugen den Eindruck himmlischer Weite.
Die Schrift ist unklar, die Entstehung geheimnisvoll, die Bedeutung umstritten: Fällt das Licht bei bestimmter Wetterlage passend auch in Stärke und Winkel auf die Backsteinfassade des Hanseviertels am Eingang unter dem Glockenspiel, lesen die meisten dort das Wort „POLEN“. Für andere Betrachter aber reihen sich die Großbuchstaben nur zu einem kommerziellen „ROLEX“.
Die bessere Story steckt hinter dem Namen des Nachbarlandes: Dort führt vor 40 Jahren, als in Hamburg das Hanseviertel gebaut wird, die Gewerkschaft Solidarnosc ihren legendären Kampf gegen die kommunistische Diktatur. Die 120 Maurer, die der bundesdeutsche Bauboom aus Krakau an die Alster lockt, setzen die Klinker als politisches Zeichen: Hellere Ziegel bilden den Hintergrund, dunklere den Namen ihrer Heimat, im Sinne des berühmten „Noch ist Polen nicht verloren“.
Nachträgliche Camouflage
„Hartgebrannter Klinker ist ja nie gleichfarbig“, erklärt Architekt Volkwin Marg. Er bemerkt die Buchstaben erst, als das Gerüst abgebaut ist. „Wir haben uns darüber amüsiert“, sagt er heute. „Aber ich glaube, dass die Steine auf Geheiß des Bauherrn noch einmal nachbearbeitet wurden, damit der Schriftzug nicht mehr so deutlich sichtbar ist.“ Durch die nachträgliche Camouflage wirkt das politische Statement unauffällig genug, keinen Ärger zu provozieren. Und bleibt trotzdem spannender als der desillusionierende Verdacht, es handele sich nur um die Spur einer profanen Uhrenreklame, die dort einst geglänzt habe.
Als die vergoldeten Buchstaben abmontiert wurden, heißt es, mussten die durch Bohrlöcher beschädigten Ziegel darunter ausgetauscht werden. „Quatsch!“ sagt Marg dazu, dessen Vater Pfarrer an der Danziger Marienkirche war. Den Architekten stört etwas ganz anderes: „Unter dem Glockenspiel sollten sich eigentlich mannsgroße Holzfiguren bewegen, wie es in allen Hansestädten üblich war. Thema sollte die Enthauptung Störtebekers sein. Aber“, so Marg, „der Bauherr war eine Lebensversicherung. Die fand das zu blutrünstig angesichts ihres Geschäfts.“
Konjunktur stößt einen totalen Umbau der City an
Eröffnet wurde die Einkaufspassage zwischen Poststraße und Großen Bleichen am 14. November als Ensemble der Postmoderne: Hotel, Büros, Wohnungen und Parkhaus auf 45.000 Quadratmetern, davon 9000 für 60 Geschäfte, in Werk gesetzt von der Allianz-Versicherung. Aus gutem Grund: Nach wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit Ölpreisschock und Rezession brummt der Handel in Hamburg damals wieder. Die Konjunktur stößt einen totalen Umbau der City an: „Es hat in der Weltgeschichte große Städte gegeben, die ohne äußere Einwirkung zerfielen und verwüsteten, es hat viele Städte gegeben, die nach Naturkatastrophen oder Kriegszerstörungen wieder aufgebaut wurden“, sagt der damalige Oberbaudirektor Prof. Klaus Müller-Ibold, „aber in den 80er-Jahren wird sich eine schrittweise Erneuerung Hamburgs von innen heraus vollziehen, die geplant ist und die es in dieser Form in der langen Geschichte der Städte noch nie gegeben hat.“
In der Tat: Bis 1990 (da ist Müller-Ibold schon längst nicht mehr im Amt) entstehen in der Innenstadt allein neun große Einkaufspassagen. Das Hanseviertel zählt zu den dicksten Brocken. Die Idee ist meteorologisch begründet: Ziel ist eine Einkaufsstraße, durch die man ohne Regenschirm flanieren kann. Den Eindruck himmlischer Weite erzeugt das Architektenteam Gerkan, Marg und Partner durch große Glaskuppeln über den 115 Meter langen Gängen. Boden und Wände sind aus Klinker, dazu kommen grüne Stahlstützen. Seit 1978 grub sich das Hanseviertel, so Abendblatt-Autor Erik Verg, „durch die Eingeweide verfallener alter Häuser“. Mit 220 Millionen D-Mark war Hamburgs erste Shoppingmall fünfmal teurer als der Umbau des Rathausmarktes, der damals ebenfalls zum Reanimierungskonzert zählte.
Der Denkmalschutz stoppte aufkommende Abrisspläne
Über das Resultat auch der anderen Operationen am offenen Herzen schrieb Verg erfreut: „Die City lebt wieder. Es lohnt sich, ‚in die Stadt zu fahren‘. Sie strahlt Eleganz und Großstadtatmosphäre aus. Sogar am Wochenende promenieren Zehntausende durch das glänzende ‚Gängeviertel‘. Und die lebendige City wächst weiter. Die im Bau befindliche ‚Fleetinsel‘ setzt den heute schon größten Geschäftspromenadenkomplex Europas in Richtung Neustadt fort.“
Allein in der Außenfassade sind eine Million rote Ziegel verbaut. Der traditionelle Lauenburger Backstein gibt auch dem Fußboden hanseatische Gediegenheit. Das gläserne Tonnengewölbe mit zwei Glaskuppeln öffnet den Blick in den Hamburger Himmel. Das Grün der Stahlträger kontert die im Stadtbild überall herrschenden Kupferdächer. Auch am Rathaus, das, so Susanne Holz in einem Inhouse-Magazin über die Passage, „nur wenige Flügelschläge jener Möwen entfernt ist, die das Hanseviertel fröhlich umkreisen“. „Hamburg eben!“, heißt es dort weiter. „Dass man im Hanseviertel nur einen Katzensprung vom Hafen entfernt flaniert, erkennt man auch an den markanten Leuchten, die die roten Backsteinwände zieren. Sie erinnern an Schiffsleuchten und passen perfekt zu den bronzefarbenen Schriftzügen im Fußboden.“
Mövenpick-Restaurant ist seinerzeit die Hauptattraktion
Hauptattraktion seinerzeit ist das Mövenpick-Restaurant. Die Schweizer Systemgastronomie macht das Hanseviertel zum Hotspot: „So was gab es in ganz Deutschland nicht“, erinnert sich Marg. „Es herrschte unglaubliches Leben dort, die Tische waren immer voll. Das Mövenpick war schnell eine Legende!“ „Sehen und gesehen werden, ganze Nachmittage verklönen, Eisbecher schlemmen, dem Regen auf der Glaskuppel lauschen und zugleich ganz heimelig sitzen – diesem Charme konnte sich ganz Hamburg nicht mehr entziehen“, schildert Autorin Holz. Auch den Umsätzen der Läden tat die Gastro-Gala gut.
Hamburg 1980:
- Die Wirtschaft boomt: 50 der 500 größten deutschen Unternehmen werden aus Firmenzentralen in Hamburg gemanagt. Esso, Shell, BP und DEA sitzen in der City Nord Tür an Tür. Die Stadt hat mit Otto das größte Versandhaus und mit Rothfos den großen Kaffeeimporteur Europas. Für Hightech stehen Flugzeugbau, Solartechnik und auch schon erste Mikrochips. Hamburg wird Deutschlands Medienhauptstadt und nach Frankfurt die zweitgrößte Bankenstadt. Allerdings ist die Innenstadt nun Geschäftszentrum und keine Wohngegend mehr: Im Jahr 1881 lebten 171.000 Menschen in der City, 100 Jahre später nur noch 12.000.
Heute kämpft der Einzelhandel gegen das Onlinebusiness ums Überleben. Doch das Hanseviertel will dem Trend trotzen und wird, so Sprecher Rüdiger Straub, im kommenden Jahr zudem gründlich aktualisiert. Mancher Investor hatte zwischendurch womöglich gar auf einen Abriss gehofft, schließlich ist die bebaute Fläche ein Filetstück Hamburgs. Doch seit Januar 2018 steht das Ensemble nun unter Denkmalschutz – inklusive der geheimnisvollen Inschrift, die zudem überraschend gut zum Namen passt: Zu den sechs polnischen Mitgliedsstädten der mittelalterlichen Hanse zählt mit Krakau auch die Heimat der wackeren Maurer.