Hamburg. Physiker sieht “schwerwiegende Indizien“. WHO hält These für unwahrscheinlich. Auch Wissenschaftsbehörde reagiert.

Eine Untersuchung der Universität Hamburg hält es für wahrscheinlich, dass die Corona-Pandemie ihren Ursprung in einem Labor in der chinesischen Stadt Wuhan genommen haben könnte. „Seit mehr als einem Jahr sorgt das Coronavirus für eine weltweite Krise.

In einer Studie hat nun der Nanowissenschaftler Prof. Dr. Roland Wiesendanger den Ursprung des Virus beleuchtet“, teilte die Uni am Donnerstag mit. „Er kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärtigen Pandemie sprechen.“

Die Studie sei „im Zeitraum von Januar 2020 bis Dezember 2020 durchgeführt“ worden. Sie basiere „auf einem interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatz sowie auf einer umfangreichen Recherche unter Nutzung verschiedenster Informationsquellen“, teilt der Mediendienst der Hamburger Universität mit. „Hierzu gehören unter anderem wissenschaftliche Literatur, Artikel in Print- und Online-Medien sowie persönliche Kommunikation mit internationalen Kolleginnen und Kollegen.“

Schwerwiegende Indizien: Coronavirus bei Laborunfall entstanden

Zwar liefere die Untersuchung keine „hochwissenschaftlichen Beweise“, teilte die Hochschule mit, „wohl aber zahlreiche und schwerwiegende Indizien“, und zwar vor allem folgende:

Erstens habe bis heute „im Gegensatz zu früheren Coronaviren-bedingten Epidemien wie SARS und MERS“ bis heute „kein Zwischenwirtstier identifiziert werden können, welches die Übertragung von SARS-CoV-2-Erregern von Fledermäusen auf den Menschen ermöglicht haben könnte“. Die „Zoonose-Theorie als mögliche Erklärung für die Pandemie“ besitze „daher keine fundierte wissenschaftliche Grundlage“.

Zweitens könnten SARS-CoV-2-Viren „erstaunlich gut an menschliche Zellrezeptoren ankoppeln und in menschliche Zellen eindringen“. Ermöglicht werde dies durch „spezielle Zellrezeptor-Bindungsdomänen verbunden mit einer speziellen (Furin-)Spaltstelle des Coronavirus-Zacken-Proteins“. Beide Eigenschaften zusammen seien bislang bei Coronaviren nicht bekannt gewesen und wiesen „auf einen nicht-natürlichen Ursprung des SARS-CoV-2-Erregers hin“, so die Uni.

In Wuhan gebe es eine große Sammlung von Fledermauserregern

Drittens seien Fledermäuse nicht auf dem in Verdacht geratenen Fischmarkt im Zentrum der Stadt Wuhan angeboten worden. Im virologischen Institut der Stadt Wuhan gebe es jedoch „eine der weltweit größten Sammlungen von Fledermauserregern, welche von weit entfernten Höhlen in südchinesischen Provinzen stammen“, so die Mitteilung der Uni. „Es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich Fledermäuse aus dieser Entfernung von nahezu 2000 Kilometer auf natürliche Weise auf den Weg nach Wuhan begeben haben, um dann in unmittelbarer Nähe dieses virologischen Instituts eine weltweite Pandemie auszulösen.“

Viertens habe eine Forschungsgruppe am virologischen Institut der Stadt Wuhan „über viele Jahre hinweg gentechnische Manipulationen an Coronaviren vorgenommen mit dem Ziel, diese für Menschen ansteckender, gefährlicher und tödlicher zu machen“. Dies sei in der wissenschaftlichen Fachliteratur durch zahlreiche Publikationen belegt.

Fünftens existierten „erhebliche Sicherheitsmängel im virologischen Institut der Stadt Wuhan bereits vor Ausbruch der Coronavirus-Pandemie, welche dokumentiert sind“.

Junge Wissenschaftlerin aus Wuhan soll sich als erste infiziert haben

Und sechstens gebe es „zahlreiche direkte Hinweise auf einen Laborursprung des SARS-CoV-2 Erregers“, schreibt die Universität. „So soll sich eine junge Wissenschaftlerin des virologischen Instituts in Wuhan als erste infiziert haben. Es gibt ferner zahlreiche Hinweise darauf, dass sich bereits im Oktober 2019 der SARS-CoV-2 Erreger ausgehend von dem virologischen Institut in der Stadt Wuhan und darüber hinaus verbreitet hat.“

Zudem gebe es Hinweise auf eine entsprechende Untersuchung des virologischen Instituts durch die chinesischen Behörden in der ersten Oktoberhälfte 2019, so die Uni Hamburg.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

„Die gegenwärtige Coronavirus-Pandemie beherrscht nicht nur die derzeitigen Schlagzeilen, sondern wird uns noch über viele Jahre hinweg beschäftigen – nicht zuletzt aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen“, sagte Prof. Roland Wiesendanger laut Mitteilung der Universität. „Seit Monaten steht verständlicherweise der Umgang mit und die Bewältigung von der Corona-Krise im Vordergrund der Themen in der Politik und in den Medien.

Von großer Bedeutung ist jedoch schon heute die kritische wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung der derzeitigen Pandemie, denn nur auf Basis dieses Wissens können adäquate Vorkehrungen getroffen werden, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten ähnlicher Pandemien in Zukunft so klein wie möglich zu halten.“

WHO hält Ursprung von Corona in Labor für unwahrscheinlich

Die Studie sei im Januar 2021 fertiggestellt und zunächst in Wissenschaftskreisen verteilt und diskutiert worden. Mit der Veröffentlichung solle nun eine breit angelegte Diskussion angeregt werden, insbesondere im Hinblick auf die ethischen Aspekte der sogenannten ‚gain-of-function‘-Forschung, die Krankheitserreger für Menschen ansteckender, gefährlicher und tödlicher mache. „Dies kann nicht länger nur Angelegenheit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bleiben, sondern muss dringend Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden“, so Studienautor Prof. Wiesendanger.

Der vielfach und regelmäßig mit Preisen für seine Arbeiten ausgezeichnete und sogar schon als Hamburger Aspirant auf den Nobelpreis gehandelte Roland Wiesendanger ist allerdings kein Virologe, sondern Physiker. Sein Schwerpunkt ist die Nanotechnologie und die Rastertunnelmikroskopie. In seinen Aussagen zur möglichen Quelle der Corona-Pandemie bezieht er sich nicht auf eigene virologische oder epidemiologische Forschung, sondern ausschließlich auf die Auswertung von Literatur und Medien sowie persönliche Gespräche.

Führende Virologen und andere Untersuchungen hielten es bisher für eher bis sehr unwahrscheinlich, dass das Virus aus einem Labor stamme. Auch das Forscherteam der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das den Ursprung der Pandemie in China untersucht, kam kürzlich zu diesem Schluss. Es sei extrem unwahrscheinlich, dass die Pandemie durch einen Laborunfall ausgelöst worden sei, so die Einschätzung.

Wissenschaftsbehörde geht auf Distanz zu Veröffentlichung

Nach Veröffentlichung der Studie wurde am Donnerstag in sozialen Medien die Frage diskutiert, wie seriös eine Untersuchung sei, die fast nur auf Literaturauswertung beruhe und warum die Uni sie gerade jetzt veröffentliche und über die Pressestelle bewerbe. Zudem sei der Autor zwar ein hoch dekorierter und renommierter Physiker, aber eben kein Virologe.

Am Abend ging auch die Wissenschaftsbehörde von Senatorin Katharina Fegebank (Grüne) vorsichtig auf die Distanz zu der Veröffentlichung der Uni. "Die heute vorgelegte Studie ordnet selber ein, dass sie keine Befunde, sondern nur Indizien liefert", sagte Behördensprecher Jon Mendrala auf Abendblatt-Anfrage. "Wissenschaftsfreiheit ist ein unverrückbares Gut. Gleichwohl gilt für alle Form wissenschaftlicher Forschung, dass bei unklarer oder unsicherer Datenlage Zurückhaltung in der Bewertung angebracht ist."

Weltgesundheitsorganisation zeigt andere Szenarien auf

Ein Team der Weltgesundheitsorganisation habe erst vor wenigen Tagen einen umfangreichen Bericht zum Ausbruchsgeschehen in Wuhan vorgelegt und komme zu anderen möglichen Szenarien, so Mendrala. "Es bedarf mehrerer Studien, um die Ursprünge der Pandemie zu ergründen und für die Zukunft zu lernen. Darum ist es gut, dass eine breite Erforschung der Pandemie stattfindet."

Die Uni antwortete auf die Frage, warum sie eine lediglich mit "Indizien" arbeitende und aus ihrer eigenen Sicht "nicht hochwissenschaftliche" Studie über eine Pressemitteilung vermarktet habe: "Die Hochschulleitung und die Pressestelle der Universität Hamburg üben keine Zensur zu Forschungsgegenständen und -ergebnissen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus. Diese sind vielmehr zur Publikation ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse verpflichtet. Insofern steht für entsprechende Pressemitteilungen die zuständige Abteilung den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verfügung." 

Die Studie der Uni Hamburg ist hier veröffentlicht.