Hamburg. Helfen nur Beitragssteigerungen gegen das Milliarden-Loch der Krankenkassen? Nein, sagt TK-Chef Jens Baas im Exklusiv-Interview.
Mitten in der Corona-Pandemie steht die Gesetzliche Krankenversicherung vor einem Milliarden-Finanzloch. Doch was tun, wenn man die Beiträge nicht erhöhen oder noch mehr Steuergeld hineinpumpen will? Der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, über das Sparen gegen die Krise, neue Chancen für Patienten und die Frauenquote.
Hamburger Abendblatt: Herr Baas, die Finanzlage von Deutschlands größter gesetzlicher Krankenkasse muss fantastisch sein. Jedes Jahr mehr Versicherte, im vergangenen Jahr vermieden Patienten den Arztbesuch aus Angst vor einer Corona-Infektion. Krankenhäuser sagten planbare Operationen ab. Wie sieht ihre Rechnung aus?
Dr. Jens Baas: Corona hat dafür gesorgt, dass es vor allem in der ersten Welle eine geringere Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen gab, zum Beispiel bei Kuren, Zahnersatz und bestimmten Krankenhausaufenthalten. Gleichzeitig entstanden durch die Pandemie natürlich auch hohe Kosten. Vor allem aber haben wir durch die Gesetzgebung der vergangenen Jahre ungebremst steigende Ausgaben in Milliardenhöhe.
Stimmt es, dass die Initiativen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wie das zweifelhafte Terminservicegesetz allein in diesem Jahr fünf Milliarden Euro kosten sollen?
Baas:Die Gesetze der vergangenen Legislaturperioden summieren sich laut aktuellen Prognosen allein dieses Jahr auf rund 14 Milliarden Euro Mehrkosten.
Spätestens in Corona-Zeiten hat sich gezeigt, dass der Politiker-Spruch „Krankenkassen sind keine Sparkassen“ unangebracht war. Es ist wichtig, dass die Sozialversicherungen Reserven haben, um Krisen abpuffern zu können. Bereits vor Corona hatte die Politik uns aber gezwungen, diese Rücklagen kräftig abzubauen – das war ein Fehler.
Also werden die Beiträge zur Krankenversicherung steigen?
Baas: Wenn wir beim 40-Prozent-Deckel vom Bruttoeinkommen für alle Sozialversicherungen bleiben wollen, dann können sie nicht steigen. Aber dann brauchen wir erheblich mehr Steuergelder für die Krankenversicherung. Mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz ist vereinbart, im September zu schauen, ob die bereits zugesagten sieben Milliarden für die GKV noch ausreichen. Meine Prognose ist: Wir werden mehr Geld brauchen.
Das kann aber nicht die Lösung sein, immer mit Zuschüssen aus dem Gesamtsteuertopf die Defizite der Kassen zu stützen.
Baas: Stimmt, wir brauchen nachhaltige Lösungen! Ich möchte auch kein Spahn-Bashing betreiben. Er hat eine Menge angepackt. Die zahlreichen Gesetze machen die Versorgung in Teilen besser, aber das muss auch alles bezahlt werden. In der nächsten Legislaturperiode müssen wir den anstrengenderen Weg gehen und die Frage stellen: Wo kann man effizienter werden, statt immer mehr auszugeben? Wo wird im Gesundheitssystem Geld verschleudert?
Was wären heute Ihre Antworten darauf?
Baas: Wir haben in Deutschland ein zu großes Angebot an Krankenhaus-Betten. Und da die Krankenhäuser diese aus ökonomischen Gründen natürlich auch belegen, führt das zu vielen Behandlungen und Operationen, die gar nicht notwendig wä-ren. An dieses Problem traut sich die Politik aber nur sehr ungern heran, ich erwarte von der nächsten Regierung, hier endlich aktiver zu werden. Krankenhausplanung muss überregional stattfinden und mit dem ambulanten Sektor verzahnt sein. Nehmen Sie Hamburg mit seiner großartigen Spezialversorgung. Das große Angebot macht nur Sinn, weil das Umland mitversorgt wird. Im Umkehrschluss kann dann aber nicht jede Region im Umland ein UKE haben.
Wir haben auch noch immer eine viel zu starke Trennung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Das treibt die Kosten ebenfalls weiter. Und die Preise für neue Arzneimittel steigen auch Jahr für Jahr.
Sie stehen aber auch für den medizinischen Fortschritt, von dem wir alle profitieren.
Baas: Natürlich dürfen und sollen Pharmafirmen Gewinne machen, denn nur dann forschen sie auch. Neuerdings läuft die Preisfindung aber oft so: „Wie wären die Kosten, wenn es dieses Medikament nicht gäbe?“ Als Gesellschaft kann man sich das nicht gefallen lassen. Denn dann kostet ein Antibiotikum plötzlich 30.000 Euro, weil es vielleicht einen Intensivaufenthalt für diesen Preis verhindert. Diese Diskussion ist doch absurd. Aspirin kann eingesetzt werden, um einem erneuten Herzinfarkt vorzubeugen. Soll das jetzt auch Tausende Euro kosten? Wir können nicht irgendwann 50 Prozent unseres Gehaltes für die Krankenversicherung ausgeben, weil Arzneimittel Unsummen kosten.
Was lesen Sie aus den Wahlprogramen der Parteien?
Baas: Pauschal finde ich, dass keine Partei erkannt hat, dass wir im Bereich Gesundheit ein gewaltiges Kostenproblem haben. Das Thema mag unangenehm sein, weil man ja gerne Leistungen verspricht, aber es muss angegangen werden. Und es gibt einen Trend, der heißt: mehr Staat im Gesundheitswesen! Das macht mir Sorgen. Dazu gehört die Tendenz, unsere Selbstverwaltung Schritt für Schritt zu entmachten. Dabei gibt es gute Gründe, warum unser Gesundheitssystem eben nicht staatlich ist wie der britische National Health Service.
Die Corona-Pandemie hat die Fixierung auf den Staat und die Regierungen als vermeintlichen Problemlöser aber eher noch verstärkt. Wo sehen Sie die größten Fehler?
Baas: Man hätte von Anfang an besser kommunizieren müssen. Als Arzt ärgert mich, dass es zunächst hieß: Masken helfen nicht. Warum habe ich Jahre meines Lebens hinter einer Maske im Operationssaal verbracht? Natürlich helfen Masken, Infektionen zu verhindern. Das ärgert mich fast mehr als die Maskenbeschaffungsskandale, wenn wir die kriminelle Energie Einzelner da mal rausnehmen. Es wäre besser gewesen zu sagen: Wir brauchen Masken, wir haben sie jetzt nicht, kaufen sie aber ein, auch zu hohen Preisen. Die Kommunikation war teilweise schlimmer als die faktischen Fehler in der Corona-Pandemie.
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Welche waren das aus Ihrer Sicht?
Baas: Große Fehler wurden z.B. bei den Schulen gemacht. Da galt zu lange das Motto: Das wird schon wieder. Man hätte viel früher die Klassenräume sicher machen müssen, Lüftungsanlagen einbauen, mit Wechselunterricht die angespannte Lage entzerren.
Gab es durch die Pandemie wenigstens einen Schub für die Digitalisierung im Gesundheitswesen?
Baas: In der TK hatten wir im vierten Quartal 2019 genau 23 Versicherte, die sich von ihrem Arzt ausschließlich per Video behandeln ließen. Gut ein Jahr später waren es schon 15.000. Es war beeindruckend, wie viele Ärzte plötzlich mitgemacht haben, dabei hieß es von deren Verbänden immer: Ärzte wollen das nicht.
Hat das auch die elektronische Patientenakte (ePA) vorangebracht, in der man künftig alle Behandlungen sammeln kann?
Baas: Bei der Patientenakte ist die Funktionalität entscheidend. Sie muss Nutzer durch praktische Funktionen für ihre Gesundheit überzeugen. Hier kommen nach und nach immer mehr Funktionen dazu. Die TK Versicherten haben unsere Akte gut angenommen, wir haben derzeit einen Marktanteil von über 70 Prozent.
Trotzdem gibt es Vorbehalte von Ärzten und Datenschützern gegen die Gesundheitsdatensammlung
Baas: Wichtig ist, dass die Patienten selbst darüber entscheiden, ob sie die Akte nutzen möchten oder nicht. Die ePA ist freiwillig und niemand außer dem Patienten selbst hat darauf Zugriff – auch wir als Krankenkasse nicht. Man muss aber auch klar sagen, dass wir derzeit im Gesundheitswesen Chancen liegen lassen, wenn vorliegende Daten für Diagnosen und Behandlungen nicht genutzt werden. Man darf Datenschutz nicht pauschal über den Schutz der Gesundheit stellen.
Kann der Patient Daten „schwärzen“?
Baas: Ja, Patienten entscheiden selbst, welche Informationen in der Akte gespeichert sind und ob ein Arzt Zugriff darauf bekommt. Auch wenn dann die Möglichkeit besteht, dass bestimmte Informationen – etwa eine psychiatrische Behandlung – anderen Fachpraxen vorenthalten werden, obwohl es vielleicht medizinisch klug wäre, alle Daten bereitzustellen.
Die Ärzte können nicht alle Befunde der vergangenen Jahre lesen. Übersehen Sie aber eine wichtige Information, kann eine Therapie fehlschlagen und sie haften mitunter für eine Falschbehandlung.
Baas: Wenn jemand mit fünf Aktenordnern zum Arzt kommt, kann es genauso passieren, dass eine wichtige Information übersehen wird. Aber daraus können Sie nicht schließen, dass es besser ist, keine Informationen über einen Patienten zu haben. Ärzte brauchen Daten, um besser behandeln zu können. Die Lösung ist: in der ePA strukturierte Daten und Kurzübersichten für Ärzte bereitzustellen, sodass sie wichtige Informationen auf einen Blick erfassen können. Und auch nur dafür haf-ten. Diese Übersichten teilweise sogar automatisch zu erzeugen, ist wiederum nur digital möglich.
Woran hakt die ePA noch?
Baas: Wir haben nach wie vor das Problem, dass der Anschluss an die Arztsysteme hinkt. Aber das ist der entscheidende Punkt, damit die Akte den Patienten und Ärzten nützt. Erst wenn beide einen Mehrwert haben, wird die ePA sich wirklich durchsetzen.
Ist durch die elektronische Patientenakte die Gesundheitskarte tot?
Baas: Ich würde ihr nicht nachtrauern. Aber in das Projekt flossen Milliarden, da gibt es gewisse Beharrungskräfte. Dabei ist die elektronische Gesundheitskarte inzwischen völlig überholt. Vor 20 Jahren entsprach ein Speicherchip vielleicht dem Stand der Technik. Heute bietet die ePA aber einen zentralen Speicherort für Gesundheitsdaten, der um ein Vielfaches höheren Nutzen für Arzt und Patient bieten kann.
Braucht es insgesamt einen anderen Umgang mit Daten?
Baas: Ja, ein Beispiel: Wir als Kasse könnten Daten, die ohnehin vorhanden sind, im Sinne der Versicherten nutzen, dürfen es aber nicht. Wenn Sie etwa am Rücken operiert werden, kriegen wir anschließend eine Rechnung. Aus Ihren Daten hätten wir aber vielleicht vorher schon sehen können, dass Sie eine besondere Behandlung brauchen, weil Sie beim Orthopäden waren, in der Physiotherapie, krankgeschrieben wurden wegen Rückenschmerzen. Aufgrund der Daten hätten wir Ihnen anbieten können: Gehen Sie zu Spezialisten in ein Rückenzentrum unserer Partner, holen Sie eine Zweitmeinung ein. Das dürfen wir heute nicht.
Sozialdaten unterliegen verständlicherweise einem besonderen Schutz. Wie hält es der Arbeitgeber Techniker Krankenkasse mit dem Homeoffice?
Baas: Es war für uns aufgrund des Datenschutzes schwieriger als für andere, unsere Mitarbeitenden nach Hause zu schicken. Mittlerweile sind aber 100 Prozent unserer Beschäftigten so ausgestattet, dass sie zu Hause arbeiten können, wenn ihre Aufgaben das zulassen. In Spitzenzeiten waren 60 bis 70 Prozent der Belegschaft im Homeoffice. Unabhängig von den Pandemieregelungen werden wir unseren Mitarbeitern weiterhin ermöglichen, bis zu drei Tage in der Woche von zu Hause zu arbeiten. Dennoch fragen wir uns: Was bedeutet das für den Zusammenhalt und den Team Spirit?
In großen Unternehmen muss künftig in Vorständen ab vier Personen eine Frau darunter sein. Sie haben im Vorstandstrio eine Frau. Wie halten Sie es mit der Quote?
Baas: Wir setzen nicht auf die Frauenquote, sondern schauen auf die Ursachen, warum Frauen schwieriger in Führungspositionen kommen. Wenn beispielsweise Führung nur in Vollzeit geht, ist es für Frauen immer noch schwierig, weil sie es ja meistens sind, die sich um die Kinder kümmern oder Angehörige pflegen. Also machen wir Führungspositionen in Teilzeit möglich. Mit einer Quote geht man den leichten Weg und tut so, als ob man damit das Problem im Wesentlichen gelöst hätte. Ich glaube jedoch, dass es wichtiger ist, strukturelle Benachteiligungen für Frauen aus dem Weg zu räumen. Sonst hat man zwar eine Frau im Vorstand, aber für den Großteil der Frauen sind deren Probleme nicht gelöst.