1977 verschwindet die damals 16 Jahre alte Anja B. – ihre Mutter sucht bis heute nach ihr, ohne zu wissen, was mit ihr geschah.

„Mama, ich fahre noch auf einen Sprung weg.“ So ein Satz, mit fröhlicher Stimme von der Haustür aus gerufen, kann eine wunderbare Leichtigkeit haben. Die Worte klingen nach Freude, nach Unbeschwertheit. Doch sie können auch etwas Dunkles haben, etwas Zerstörerisches. Wenn es die allerletzten Worte sind, die eine Mutter von ihrem Kind hört – bevor es nie wieder ein Lebenszeichen gibt.

Weit mehr als vier Jahrzehnte liegt es nun zurück, dass Inge B. die Stimme ihrer damals 16-jährigen Tochter Anja vernahm. Seitdem sucht die verzweifelte Frau nach ihrer verschollenen Tochter. Es bleibt ihr Lebensinhalt, bis heute.

True Crime: Anja B. verschwindet im Alter von 16 Jahren – spurlos

Es ist die Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1977, als Anja B. spurlos verschwindet. Seitdem ist für ihre Familie nichts mehr, wie es war, alles ist überschattet von dem Verlust. Und was fast noch schlimmer wiegt, ist die Ungewissheit, was mit der Tochter geschah. Ob sie verschleppt und unter Drogen gesetzt, ob sie irgendwo im Ausland unter Zwang festgehalten worden ist? Ob jemand sie getötet hat und ihren Leichnam irgendwo vergraben oder versenkt? „Wer erlebt hat, wie ein geliebter Mensch plötzlich aus seinem Leben entrissen wurde, mit ungeklärtem Schicksal, kommt nie mehr wirklich zu Ruhe“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Es gibt nichts, womit man sich abfinden und abschließen kann.“ Das Autoren-Duo hat den Fall auch in seinem Buch „Vermisst“ geschildert.

Das Verschwinden der 16-jährigen Anja B. ist ein trauriger und dramatischer Schicksalsschlag, der ihre Familie aus den Fugen hebt. Man kann den Fall aber auch als Auftakt einer Verbrechensserie werten, die später als „Disco-Morde“ bezeichnet wird. Denn Anjas Spur verliert sich, nachdem die Realschülerin, die in einem kleinen Ort bei Cuxhaven lebte, eine Diskothek in der Nähe besucht hat. In den nächsten Monaten und Jahren, nachdem die Schülerin zuletzt gesehen wurde, verschwinden weitere junge Frauen. Erst im Jahr 1987 reißt die Serie ab.

"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Anja denke"

Anja B.’s Mutter Inge ist heute Anfang 80. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Anja denke“, erzählt Inge B. „Einen Abschluss kann ich nie finden. Jeden Abend gehe ich mit dem Gedanken an meine verschwundene Tochter ins Bett.“ Als Inge B. am Morgen des 8. Oktober 1977 feststellt, dass ihre Tochter immer noch nicht nach Hause gekommen ist, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Sie meldet ihre Tochter bei der Polizei als vermisst. Und sie begibt sich selber auf die Suche. Sie reist unter anderem nach Hamburg und Berlin, weil es Hinweise von Menschen gibt, die ihre Tochter dort angeblich gesehen haben. Jeder neue Kontakt, den Inge B. in dieser Zeit erhält, nährt die Hoffnung in der verzweifelten Mutter. Und genauso oft erlebt sie Enttäuschungen, weil wieder mal ein vermeintlicher Tipp sich als falsche Spur erweist. In der Folgezeit verfolgt die Mutter aufmerksam die Presseberichterstattung.

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Jede Meldung über ein Drama, von einem Leichenfund, bringt Inge B. in Aufruhr, weil sie in Betracht ziehen muss, dass die jüngst entdeckte Tote ihre Tochter sein könnte. Einmal ist ein zerstückelter Leichnam entdeckt worden, ein anderes Mal ein einzelner Fuß. Die Mutter kann ihre Ängste erst dann wieder bändigen, wenn sie von der Polizei die Rückmeldung bekommt, dass die Tote nicht ihre Anja ist. „Immer wieder beobachten Ermittler solche Reaktionen bei Betroffenen: dass Angehörige über Jahre und Jahrzehnte Pressemeldungen über unbekannte Tote engmaschig verfolgen und sich an Polizeidienststellen wenden, um abzuklären, ob es sich um ihr vermisstes Kind handelt“, weiß Püschel. Inzwischen werden in der Region zwei weitere junge Frauen vermisst, beide nachdem sie in einer Diskothek im Landkreis Cuxhaven gewesen sind.

War es ein Serienmörder? Bis heute ist unbekannt, was Anja geschah

Einen vierten Vermisstenfall gibt es in Bremerhaven. Jetzt wird die Möglichkeit eines Serienmordes in Betracht gezogen. Weitere junge Frauen verschwinden. In einem Fall gibt es sogar einen Verdächtigen, doch dieser hat ein Alibi. Und eine 19-Jährige wird plötzlich von hinten niedergeschlagen, vermutlich mit einem Knüppel. Der Verbrecher wird offenbar gestört, stößt die bewusstlose junge Frau in einen Graben. Dort ertrinkt sie. Ihr Leichnam wird eine Woche später entdeckt.

Entsetzt und voller Ängste verfolgt Inge B. jede dieser Nachrichten. Die Gedanken sind stets da: Ist meiner Anja etwas Ähnliches passiert? Die Polizei tut ihr Möglichstes, um die Verbrechensserie aufzuklären. Es werden unter anderem Hunderte Zeugen und Verdächtige vernommen, die Diskotheken observiert. Doch nirgendwo ergibt sich eine vielversprechende Fährte.

Die Serie, die mit dem Verschwinden von Anja B. im Jahr 1977 begonnen hat, ist bis heute ungelöst, aber nicht in Vergessenheit geraten. Die Fälle werden immer wieder aufgenommen. Denn Mord verjährt nie. Und Inge B. gibt weiterhin ihre Suche nicht auf. „Für mich“, sagt sie, „gibt es nur noch einen Wunsch: Ich möchte wissen, was mit meinem Kind geschehen ist.“