Hamburg. Mehr erschöpfte Eltern schicken ihre Kinder in die Notbetreuung – Auslastung von bis zu 74 Prozent. Das bringt Kitas in ein Dilemma.
In der Elbpiraten-Kita an der Wiben-Peter-Straße beginnt bislang jeder Tag der Notbetreuung gleich: Während 19 Kinder unter Aufsicht spielen, machen die Erzieherinnen Christine und Lina nebenan den Morgenkreis per Videoschalte mit den Daheimgebliebenen. Nun aber, da täglich noch mehr Kinder trotz Corona in die Lokstedter Einrichtung kommen, ist das nicht mehr möglich.
„Jede Kraft, die nicht im Urlaub oder krank ist, wird benötigt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten“, sagt Kita-Leiterin Annkatrin Eschler. Manchmal weiß sie nicht, wo ihr der Kopf steht. „Dass die Kitas in Hamburg grundsätzlich zu sind, ist ein Witz.“
Kita in Hamburg trotz Notbetreuung voll
Der Notbetrieb bringt Erzieherinnen und Erzieher in ein Dilemma: Der lange Corona-Lockdown führt immer mehr Eltern an ihre Belastungsgrenze, also geben die erschöpften Mütter und Väter ihre Kinder jetzt wieder in die Kita – obwohl die Einrichtungen in Hamburg grundsätzlich geschlossen sind und nur eine „erweiterte Notbetreuung“ anbieten. Die Auslegung der Regel obliegt aber den Familien selbst.
„Wir werden mit den Entscheidungen aufs Schlachtfeld geschickt und müssen den Kampf mit den Eltern ausfechten, was denn jetzt genau für die erweiterte Notbetreuung zulässig ist oder nicht“, sagt Eschler. Derzeit dürfen alle Fünfjährigen sowie Kinder Alleinerziehender und von Eltern aus systemrelevanten Berufen in die Kita kommen.
Einen Anspruch haben laut Senat auch jene Kinder, „die aus familiären Gründen oder aufgrund besonders gelagerter individueller Notlagen auf eine Betreuung angewiesen sind“. Wer damit gemeint ist und wann es sich um eine Notlage handelt, diese Fragen sorgen mit jeder weiteren Woche im Lockdown für intensivere Diskussionen zwischen Eltern und Kita-Leitungen.
Regel zur Kita-Notbetreuung bewusst offen
Die Regelung in der Corona-Verordnung ist aber bewusst so offen formuliert: „Wir können nicht jede Eventualität festlegen und wollen den Eltern eine Betreuung ermöglichen, wenn sie erforderlich ist“, sagt Martin Helfrich, Sprecher der Sozialbehörde, dem Abendblatt. Da Eltern in dieser Zeit von den Kitagebühren befreit sind, wird das Angebot vollständig von der Stadt finanziert. Die Kitas bleiben also nicht auf den Kosten sitzen. „Wir wollen aber auch, dass die Eltern damit verantwortungsvoll umgehen“, betont Helfrich.
In der ersten Welle der Pandemie hat das laut Kita-Leiterin Eschler auch gut geklappt: „Es kamen höchstens drei oder vier Kinder.“ Doch ein Jahr später beobachtet sie deutlich mehr Eltern, die den Begriff Notlage auf ihre Situation ausdehnen. „Es werden mehr Kinder in die erweiterte Notbetreuung geschickt als noch vor einem Jahr“, bestätigt Behördensprecher Helfrich.
Im Schnitt liegen die 1200 Kitas der Stadt bei einer Auslastung von 46 Prozent. „Darunter gibt es durchaus Ausreißer, in denen die Zahl der betreuten Kinder höher ist“, sagt Helfrich. Das seien aber eher Ausnahmefälle. Solche wie bei den Elbpiraten in Lokstedt und Bahrenfeld.
Kita-Leiterin: „Wollen Eltern den Stress ersparen“
Häufig muss Eschler die Familien dort im Voraus darum bitten, die Notbetreuung auch wirklich nur bei Notfällen in Anspruch zu nehmen. Einige Eltern zeigen sich verständnisvoll. „Andere reagieren aber gereizt“, sagt Eschler. Und wer mag es ihnen verdenken: Nach einem Jahr Corona-Krise ist die Not in vielen Familien groß, das sieht auch die Kita-Leiterin so: „Natürlich nehmen wir die Kinder an, außerdem wollen wir den Eltern weiteren Stress ersparen.“
Gleichwohl wird die Stadt von der dritten Welle der Pandemie erfasst, und Kontakte sollen in jedem Lebensbereich reduziert werden. „Nur die kleinste Abweichung in unseren Auslegungen führt zu großen Diskussionen mit anderen Familien, die diese Ausnahmen mitbekommen“, beschreibt Eschler die Misere.
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Manche Eltern treibe die Lage so weit, dass sie von Kinderärzten ausgestellte Bescheinigungen über eine angebliche Notwendigkeit der Betreuung vorlegten – gerade wenn nicht ein Kriterium auf das Elternhaus zutreffe. „Eine Rolle spielen dabei auch die Arbeitgeber“, sagt Eschler. Weil seit Montag auch alle Fünfjährigen wieder Anspruch auf 20 Stunden Betreuung haben, erwarten offenbar einige Chefs von ihren Mitarbeitern, wieder ins Büro zu kommen. Das bringe die Eltern dann tatsächlich in eine Notlage.
Viele Kinder besuchen auch Elbkinder-Kita
Ähnliche Beobachtungen machen auch andere Kitas: In einer großen Einrichtung der Elbkinder wurden am Donnerstag von 160 Kindern 110 vor Ort betreut. In letzter Zeit seien es spürbar mehr geworden, sagt der Leiter der Kita, zeigt aber auch Verständnis für die Eltern: „Wir sehen natürlich ihre Not und fürchten in einigen Familien auch Bildungsbenachteiligung und schlimmere Folgen, wenn die Kinder nicht zu uns kommen.“ Man wolle die Eltern nicht noch mehr unter Druck setzen, als es die Corona-Lage ohnehin täte.
Andererseits seien Erzieher die am stärksten von Covid-19 betroffene Berufsgruppe. Einige von ihnen haben schon eine Erkrankung hinter sich, viele konnten nun eine Erstimpfung erhalten, während die Kinder und ihre Familien durch den Kita-Besuch weiter einem größeren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Getestet wird in den meisten Häusern nicht.
„Viele Eltern haben keine andere Wahl mehr. Es gibt aber auch welche, die offenbar nicht groß darüber nachdenken, ob sie ihr Kind nun unbedingt bringen müssen“, so der Erzieher. „Und Woche für Woche aufs Neue zu diskutieren und am Ende den Eltern zu sagen: ,Dann bringen Sie Ihr Kind halt für drei Tage in die Kita‘ – diese Kraft haben wir nicht mehr“, ergänzt Kita-Leiterin Eschler.
Hamburger Kitas wieder öffnen – mit Corona-Tests
Am Ende steht trotz offiziell geschlossener Kitas eine hohe Auslastung: Mit den Fünfjährigen liege die Elbpiraten-Kita an der Gasstraße in Bahrenfeld bei mehr als 50 Prozent. Im Lokstedter Haus werden sogar 74 Prozent der Kinder betreut. „Die geltenden und in meinen Augen wichtigen und richtigen Hygienemaßnahmen, die wir im Kita-Alltag zu bewältigen haben, sorgen bei der hohen Auslastung dafür, dass keine unserer Mitarbeiterinnen in der nächsten Woche im Homeoffice arbeiten kann“, sagt Eschler. „Mit Notbetreuung hat das nichts zu tun.“
Sie würde gerne wieder alle Kinder und Familien in der Kita begrüßen, fordert dazu aber Testvorkehrungen. „In den Schulen ist das alles schon längst geklärt“, sagt Eschler. Nur in zwölf Kitas gibt es im Rahmen eines Pilotprojekts der Stadt Corona-Tests, die zweimal die Woche bei den Kindern durchgeführt werden. Im Mai soll es erste Ergebnisse des Projekts geben.
Unterdessen hat der Senat die „erweiterte Notbetreuung“ bis zum 9. Mai verlängert. „Nachsicht müssen dann wieder die Familien zeigen, die ihre Kinder trotz Systemrelevanz nicht oder seltener bringen“, sagt Eschler.