Hamburg. „Entscheider treffen Haider“ mit Mathias Döpfner – heute mit einer Sonderausgabe zum 75. Geburtstag des größten deutschen Popstars.

Normalerweise sprechen bei „Entscheider treffen Haider“ Menschen darüber, wie sie geworden sind, was sie geworden sind. Diesmal ist alles anders: Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider wollte eine Sonderausgabe zum 75. Geburtstag von Udo Lindenberg machen und suchte dafür einen Gesprächspartner, der erstens etwas von Musik, zweitens von Sprache und drittens von Kunst versteht – und der Udo Lindenberg sehr gut kennt. Gefunden hat er Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender und Miteigentümer von Axel Springer, der auf eine entsprechende Anfrage am 7. April schrieb (übrigens 23 Minuten nachdem er sie bekommen hatte):

„Ich bin bereit.

Udo Lindenberg ist so eine spezielle Figur. Großer Künstler.

Sprachlich prägender als Goethe.

Musik gefällt mir gar nicht.

Aber als Sprachkünstler ein Jahrhundert-Genie.“

 Das komplette Gespräch hören Sie unter www.abendblatt.de/entscheider.

Das sagt Mathias Döpfner über …

… die Musik von Udo Lindenberg, die ihm bei Weitem nicht so gefällt wie der Rest:

„Ich bin mehr ein Freund des Rhythm and Blues, des Soul, des Gospel, der schwarzen Musik, des Jazzrock. Deshalb schlagen die Rocktraditionen von Udo Lindenberg nicht direkt auf die Zwölf meines Geschmackszentrums. Aber das tut auch nichts zur Sache. Als Gesamtkunstwerk und als vielleicht einziger wirklicher deutscher Popstar ist Udo Lindenberg auf jeden Fall ein ganz Großer. Er ist eine moderne Form des Bänkelsängers, bei dem auch oft der Text besser war als die melodiöse oder stimmliche Ausarbeitung. Wenige Figuren haben die deutsche Popmusik so geprägt wie er, und noch weniger Figuren haben die deutsche Sprache so geprägt wie er.“

… das Gesamtkunstwerk und den Menschen dahinter:

„Grundsätzlich interessiert mich Udo Lindenberg weniger als Musiker denn als Gesamtkunstwerk. Er ist ja eine deutsche Mischung aus Andy Warhol, Joseph Beuys und Mick Jagger. Wann hatten wir denn so was? Vorher gab es irgendwelche nach Buttersäure riechenden, verschwitzten Krautrocker, in agitatorischer Absicht politisch aufgeladen bis zur totalen Banalität. Udo Lindenberg war und ist dagegen ein wahrer Künstler, auch ein Selbstinszenierungskünstler.

Und im Übrigen ein Mensch, der unglaublichen Ehrgeiz hat. Es ist ein Klischee, dass es ihm auf wunderbare Weise bei dieser Selbstinszenierung gelungen ist, erfolgreich zu sein. Das hat viel mit einem schon in früher Kindheit angelegten und von ihm bis heute nicht bestrittenen Ehrgeiz und seinem Hang zur Perfektion zu tun. Er hat mal gesagt, dass er sich jeden Tag selbst googelt. Ihm kommt es sehr darauf an, wie er wahrgenommen wird, und nur so wird man eine Pop-Ikone.

… den Vergleich mit Goethe:

„Goethe hat mit einem angeblichen Schatz von 90.000 Wörtern die Kunstsprache, die Literatursprache für Generationen geprägt. Er war ein Wortvirtuose der alten Schule. Udo Lindenberg hat dagegen unsere Alltagssprache verändert, indem er eine ganz andere Sprachmelodie eingeführt hat. Wir unterschätzen das immer. Man muss sich nur anhören, wie Leute in den 50er- und 60er-Jahren gesprochen haben.

Das war ein völlig anderer Habitus. Udo Lindenberg hat nicht nur als erster cooler Popstar Deutsch gesungen, damit die Sprache von der historischen Beschmutzung durch die Nazis befreit und den Weg für all die Popgruppen bereitet, die in den 70er-Jahren erfolgreich wurden. Er hat auch durch die Art, wie er gesprochen hat, neue Formen in die deutsche Sprache gebracht, das „Du“, das „Hey“, Wortverbindungen mit -mäßig, wie „spitzenmäßig“ oder „bühnenmäßig“.

Dann Verniedlichungen wie „Hallöchen“ oder, auf den Spuren von Richard Wagner, die Alliterationen, so was wie Wotan Wahnwitz, dazu kreative Namen wie Jonny Controlletti. Das alles kommt von Udo Lindenberg, und das alles finden wir heute in unserer Sprache täglich wieder. Deshalb ist der Vergleich mit Goethe nicht nur eine Pointe. Er hat die Sprache wirklich genauso geprägt und verändert.“

… das erste Treffen:

„Ich habe 1983 ein Buch über die Neue Deutsche Welle geschrieben, deren Wegbereiter Udo Lindenberg war. Deshalb wollte ich unbedingt mit ihm sprechen. Wir haben uns zu einem Interview im Frankfurter Operncafé getroffen, er war gerade auf Tournee. Ich weiß noch, wie wir zusammensaßen und ich natürlich schwerstens eingeschüchtert war angesichts dieser Legende. Es ist übrigens interessant, Menschen dabei zu beobachten, wenn sie Udo Lindenberg begegnen.

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Die meisten entwickeln eine wahnwitzige Nervosität und einen unglaublichen Zwang, besonders locker zu sein. Sie wollen alle wenigstens ein bisschen so cool sein wie Udo. Sie formulieren anders, bewegen sich anders und machen Dinge, die fürchterlich peinlich sind, weil sie das Gegenteil von locker und cool sind. Ich glaube, dass Udo Lindenberg es nicht besonders schätzt, wenn man versucht, auf Kreisklasseniveau so zu sein wie er. Insofern ist die größte Herausforderung, ihm ganz normal als Mensch zu begegnen. Was man wiederum relativ leicht kann, weil er ein wunderbarer Mensch ist.

Er hat neben dem künstlerischen Genie auch ein ganz, ganz großes Herz. Ja, er ist der Clown, der Komödiant, er ist auch derjenige, der sich selbst spielt – aber er kann auch ein wunderbarer, ernsthafter und empathischer Gesprächspartner sein. Seine glitzernde Sprachintelligenz macht nicht nur sein künstlerisches Schaffen so faszinierend, sondern auch jede Begegnung mit ihm. Selbst jede SMS möchte man einrahmen. Er kann gar nicht anders, als geistreich und tiefgründig zu formulieren.“

… die Freundschaft:

„Systematisch gepflegt haben wir unsere Freundschaft gar nicht. Gerade am Anfang haben wir uns eine lange Strecke aus den Augen verloren. In den 90er-Jahren gab es dann immer wieder journalistische Berührungspunkte, Interviews, die großen Premieren – und irgendwann ergab es sich dann, dass wir uns öfter und privat trafen.“

… Lindenbergs Absturz:

„Es gab damals im Hotel Atlantic manche Situation, wo man an der Bar merkte: Jetzt wird es schwierig, jetzt gibt es kein Halten mehr. Zum Glück sind die Überlebenskünstlerfähigkeiten von Udo Lindenberg ebenfalls großartig. Dieses Ans-Extrem-Gehen, Sich-an-der-Kante-bewegen-und-alles-Riskieren, kann auch eine Intensität und Sensibilität geschaffen haben, durch die er erst das geworden ist, was er geworden ist. Die Frage, wie Udo Lindenberg geworden wäre, wenn er nie einen Schluck Alkohol getrunken hätte, können wir nicht beantworten. Aber: Es gibt viele Alkoholiker, die gänzlich unbegabt sind. Und es ist wirklich beeindruckend, wie er mit seiner Lebensweise 75 geworden ist.“

… Lindenbergs Unsterblichkeit:

„Die allerwenigsten Künstler geben zu, dass es ihnen auch um Nachruhm geht. Oder, um es anders zu sagen: Man will die Banalität der biologischen Existenz dadurch überwinden, dass man es schafft, dass etwas von einem bleibt. ­Jeder Mensch will das, aber ein Künstler muss das wollen. Udo Lindenberg steht idealtypisch dafür, und er ist vielleicht auch einer der ganz wenigen, die das geschafft haben. Das hat mit seiner Radikalität, mit seiner Konsequenz und der unglaublichen Begabung zu tun. Udo Lindenberg ist dabei ein sehr selbstbezogener und egozentrischer Mensch, das kann gar nicht anders sein. Das ist kein Makel, sondern eine Voraussetzung, wenn man ein prägender Künstler sein will.“

… die besondere Beziehung zu Benjamin von Stuckrad-Barre:

„Udo ist ein echt loyaler Freund. Das heißt, dass er nicht nur da ist, wenn es einem gut geht, sondern vor allem dann, wenn es einem richtig schlecht geht. Was vielleicht auch daran liegt, dass er weiß, wie sich das anfühlt, wenn der Körper nicht mehr kann, wenn die meisten weggucken und nichts mehr mit einem zu tun haben wollen. In diesem Sinn ist Udo Lindenberg ein großer Freund und war das auch in der schwierigen Lebensphase von Benjamin von Stuckrad-Barre, über die man in dessen Buch „Panikherz“ nachlesen kann.

Die Collector’s Edition „Udo“ vom Abendblatt kostet 10 Euro, erhältlich in der Geschäftsstelle und auf abendblatt.de/shop.
Die Collector’s Edition „Udo“ vom Abendblatt kostet 10 Euro, erhältlich in der Geschäftsstelle und auf abendblatt.de/shop. © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Stuckrad-Barre ist ein großer Udo-Lindenberg-Deuter, hat mit ihm auch seine Bewunderungsphase, seine Krisen- und Kritikphase und schließlich seine Versöhnungsphase gehabt. Die beiden sind mal im Garten der Villa Schöningen gemeinsam vor einigen Freunden aufgetreten. Stuckrad-Barre las Texte über Udo Lindenberg, Udo Lindenberg sang Songs, nur begleitet von einem Klavier. Das war ein wunderbar magischer Moment.

Beide verbindet, dass sie von der Erotik der Sprache tiefdurchdrungen sind und sie auch beherrschen, und beide führen nicht das, was man als ein konventionelles, bürgerliches Leben an der Kamillenteetasse bezeichnet. Vielleicht ist die Liebe zur Sprache auch das, was mich mit den beiden so intensiv verbindet, das, was ich Eros der Sprache nenne.“

… seinen 50. Geburtstag und einen unerkannten Gast:

„Die Party zu meinem 50. Geburtstag stand unter dem Motto Camouflage, es ging darum, möglichst bis zur Unkenntlichkeit kostümiert zu sein. Ich selbst bin über weite Strecken als Dragqueen unterwegs gewesen. Ich hatte Udo Lindenberg eingeladen und mich sehr über seine Zusage gefreut. Aber irgendwie tauchte er nicht auf. Ich traf unseren gemeinsamen Freund Uli Waller, der als venezianischer Gondoliere verkleidet war und noch jemanden mitgebracht hatte. Wir haben ein bisschen geplaudert miteinander, und irgendwann sagte ich: „Uli, schade, dass der Udo gar nicht mitgekommen ist.“ Und da sagte der Mann, der neben ihm stand: „Aber hallöchen, ich bin doch da.“ Ich hatte ihn wirklich nicht erkannt.“

… die Frage, ob er ein Kunstwerk vom Maler Udo Lindenberg hat:

„Ich habe ein sehr spezielles Sammel­gebiet, und auf diesem Gebiet ist Udo Lindenberg bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Aber grundsätzlich sind die Likörelle weitab von jenem Mainstream – und deshalb liebenswert.“

… Lindenbergs Auftritt beim 100. Geburtstag von
Axel Springer und sein unverkrampftes Verhältnis zu dem Verlag
:

„Udo Lindenberg war ein großer Aktivist der deutschen Wiedervereinigung. Insofern passte es wunderbar, ihn beim 100. Geburtstag von Axel Springer, der sich wie kein anderer für die Wiedervereinigung eingesetzt hat, singen zu lassen. Er hat tatsächlich zum Haus ein gutes Verhältnis. Das liegt nicht daran, dass wir uns kennen. Vielleicht liegt es an seiner Nähe zum Boulevard und daran, dass er über das, was er macht, selbst entscheidet, ohne ein dazwischengeschaltetes Management. Wie oft verpassen bei anderen Künstlern irgendwelche Mitarbeiter, die Angst vor ungewöhnlichen Auftritten haben, große Chancen. Das kann Udo Lindenberg nicht passieren.“

… Hamburg und Berlin:

„Hamburg und Udo Lindenberg sind Antipoden. Trotzdem wird man beide für immer miteinander verbinden. Berlin und Udo Lindenberg würden wie das Klischee zusammenpassen, vielleicht war ihm das zu naheliegend und zu einfach. Das Verhältnis zu Hamburg ist viel spannungsreicher und damit interessanter.“

… Kontakte in der Corona-Zeit:

„Während der Pandemie haben wir uns kein einziges Mal gesehen. Die soziale Vereinsamung erstreckt sich auch auf Udo Lindenberg und mich.“

… die Tatsache, dass jeder Mensch auf dieser Welt Udo duzt:

„Das finde ich schon wieder zwanghaft. Ich glaube, ich habe ihn bei unserer ersten Begegnung auf jeden Fall gesiezt. Er kennt diese Form nicht, aber ich fand es völlig angemessen, dass er mich duzt und ich ihn sieze.“