Hamburg. Drei Frauen hatte Thomas Holst getötet, saß in der Psychiatrie in Ochsenzoll – bis er mit Hilfe einer Therapeutin entkam.
Die Polizisten glauben zunächst an einen schlechten Scherz. Da kommt so ein Typ zu ihnen auf die Wache spaziert, begrüßt die Beamten und behauptet doch glatt: „Ich bin Thomas Holst.“ Dieser Name sollte elektrisieren. Doch die Beamten sehen kaum Ähnlichkeit mit jenem Mann, der zu jener Zeit der meistgesuchte Verbrecher Deutschlands ist. Ein extrem gefährlicher Serienmörder, dem es gelungen ist, aus dem Hochsicherheitstrakt der geschlossenen Psychiatrie zu entkommen und der seit drei Monaten spurlos verschwunden ist.
Und der taucht jetzt freiwillig bei der Polizei auf? Im Ernst? Es dauert einen Augenblick, doch dann stürzen sich die Beamten entschlossen auf den groß gewachsenen Mann und legen ihm Handschellen an. Mit dieser Festnahme am 30. Dezember 1995 endet eine spektakuläre Flucht, und mit ihr endet auch eine Zeit der kollektiven Angst in Hamburg.
Heidemörder Thomas Holst hat drei Frauen getötet
Thomas Holst, bekannt als der „Heidemörder“, gilt als wandelnde Zeitbombe. Drei junge Frauen hat er auf dem Gewissen, und Fachleute haben die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder töten würde, als hoch eingeschätzt. Dieser Mann ist über drei Monate lang unauffindbar gewesen, ein permanentes Risiko.
Die ganze Nation war in Aufruhr gewesen, die Fahndung lief auf Hochtouren, die Polizei hatte eine 50-köpfige Sonderkommission eingerichtet, um ihn aufzuspüren und zu fassen. Und dann kommt der Gesuchte von allein zur Wache. Verändert sieht er aus, nicht mehr mit der charakteristischen dunkelblonden Haartolle, wie der damals 31-Jährige auf Fotos zu sehen ist.
Nein, der Mann, der sich der Polizei präsentiert, hat einen nahezu kahl rasierten Schädel, und er hat deutlich abgenommen. Den Beamten erzählt Holst, dass er geflohen sei, weil er während seiner Unterbringung hinter Gittern in Haus 18 der Psychiatrischen Klinik in Hamburg-Ochsenzoll in schwerer Seelennot gewesen sei. Nach dem Motto: Keiner versteht mich.
Polizeipsychologin hat seine Strategie durchschaut
Doch es gab eine, die den mehrfachen Frauenmörder gut verstanden hat. Sie hat ihn analysiert, sie hat ihn durchschaut. Polizeipsychologin Claudia Brockmann ist diejenige gewesen, die die entscheidenden Impulse für die Fahndung nach dem Heidemörder gegeben hat. Praktisch von Beginn an ist die Expertin für kriminelle Hirne mit im Team der Soko gewesen. Sie hat sein Psychogramm erstellt. Sie hat seine narzisstische und paranoide Persönlichkeit gedeutet und darauf eine Strategie aufgebaut.
Auch wenn Holst sich nach seiner Flucht letztlich freiwillig gestellt hat: Die Weichen für die Entwicklung in diesem dreimonatigen Psychokrieg zuvor hat Brockmann gestellt, durch sorgsam ausgetüftelte Schachzüge, die den Geflohenen mattgesetzt haben. Die Partie begann am 27. September 1995, als Frauenmörder Holst in der geschlossenen Psychiatrie die Sicherheitsschleusen zur Anstaltsturnhalle durchschritt, ein Loch in die Verschalung des Daches brach und sich dann abseilte.
Als nur kurze Zeit später klar war, welchem der gefährlichen Männer die Flucht gelungen war, wurde höchster Alarm ausgelöst. Ausgerechnet Holst! Denn der Grafiker ist ein „gemütloser Psychopath“, wie ein Psychiatrischer Sachverständiger festgestellt hat. Der Gutachter attestiert Holst „unverminderte Tötungstriebe“ und „extreme Rückfallgefahr“. Dreimal hatte Thomas Holst gemordet.
"Jeden Tag hätte er wieder morden können"
Das erste Opfer war am 23. November 1987 eine 20-Jährige, die der Hamburger missbrauchte und erwürgte. Weniger als drei Monate später brachte er eine 28-jährige zweifache Mutter um. Ihr nackter, malträtierter Körper wurde einen Tag später auf einem Acker bei Bargfeld-Stegen gefunden. Sein drittes Opfer war am 27. November 1989 eine 22-Jährige. Fünf Tage später entdeckte man ihre verstümmelte Leiche in der Nordheide.
Als Holst schließlich gefasst wurde und vor Gericht kam, lautete das Urteil auf lebenslange Freiheitsstrafe und Einweisung in die Psychiatrische Anstalt. „Jede junge Frau hätte es treffen können“, befand seinerzeit der Vorsitzende Richter. Reinhard Chedor, Cheffahnder der Soko „Holst“, formuliert es nach der spektakulären Flucht des Serienmörders und dessen Festnahme ganz ähnlich: „Jeden Tag hätte er wieder morden können.“ Entsprechend groß ist die Angst gewesen, die in der Bevölkerung geherrscht hat, als der gefährliche Verbrecher frei herumlief. Die Polizei arbeitete auf Hochtouren.
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Es galt unter anderem, seine Helfer aufzuspüren. Denn einen oder mehrere Unterstützer musste Holst bei der Flucht gehabt haben. Jemanden, der ihm die Sicherheitstüren geöffnet und das Seil bereitgelegt hatte, jemanden, der ihm Geld, Papiere und einen Unterschlupf zur Verfügung stellte. Doch um den Heidemörder zu fassen, musste auch herausgefunden werden, welchen Plan er hatte. Die Fragen waren: Was ging in seinem Kopf vor? Wie konnte man ihn beeinflussen? Für diese psychologische Kriegsführung war Psychologin Brockmann zuständig.
Für die Flucht hob die Helferin 250.000 D-Mark ab
Schnell geriet eine Therapeutin aus Ochsenzoll in Verdacht, bei Holsts Flucht mitgewirkt zu haben. Die Frau hatte sich schon länger intensiv mit dem Insassen befasst. Sie sprach von einer „geistigen Verbindung“ zu dem Verbrecher. Als die Soko schließlich herausfand, dass die Therapeutin 250.000 D-Mark von ihren Konten abgehoben hatte, reifte der Plan, die Helferin festzunehmen, um dem vermutlich in einem Versteck ausharrenden Serienmörder die Versorgung abzuschneiden. Psychologin Brockmann war überzeugt: Wenn Holst seine wichtigste Unterstützerin verliert, wird er sich stellen, um zumindest sich selbst davon zu überzeugen, dass er bis zuletzt die Kontrolle gehabt hat.
Nur einen Tag müssen die Fahnder warten, dann geht die Rechnung auf. Holst geht zur Polizeiwache. Mit dabei hat er einen Rucksack mit 157.000 D-Mark. Er landet dort, wo er gut drei Monate zuvor verschwunden war: in der geschlossenen Psychiatrie. Seine Therapeutin muss sich später vor Gericht verantworten. Sie erhält schließlich wegen Gefangenenbefreiung zwei Jahre Haft auf Bewährung. Im Prozess sagt sie: „Ich wollte diesem Menschen aus Nächstenliebe zu einer Therapie verhelfen.“ Und sie sagt auch: „Thomas ist der erste Mann, in den ich mich verliebt habe.“
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